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Gehirn und Sprache: Sprechen ist Abkürzen

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Abkürzung I: Zeichen verweisen auf komplexe Sachverhalte

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'DNS': Drei Buchstaben nur, und der gebildete Leser weiß, was gemeint ist: die Desoxyribonukleinsäure (englisch: DNA für deoxyribonucleic acid). Die drei Buchstaben stehen für einen komplizierten chemischen Begriff, der als Abfolge von 23 Buchstaben ein Zungenbrecher ist und schon deshalb lieber in der Kurzform „DNS“ gebräuchlich ist. Zwanzig Buchstaben werden auch beim Schreiben gern eingespart, wenn es kürzer geht, und weil die DNS nicht der einzige Zungenbrecher in der heutigen Sprache ist, lesen und sprechen wir zunehmend in Abkürzungen: ISDN, WWW, SPD, CDU, RAM, HIV, H5N1, TV, AT, StrGb, Uno, Kfz,... zwei bis vier Buchstaben können zehn mal so große Wortkomplexe stellvertretend ersetzen, und mancher Beamte weiß genau, was VAHRG bedeutet, Versorgungsausgleichshärteregelungsgesetz mit dreiundvierzig Buchstaben, abgekürzt auf fünf.

So selbstverständlich sparen wir uns mit vielen sprachlichen Abkürzungen Zeit und Mühe, dass die Frage nie gestellt wird, wie so etwas möglich ist.

Versuchen wir, der Frage ein wenig neugierig nachzugehen: Wie können drei Buchstaben genau die gleiche Botschaft tragen wie dreiundzwanzig?

Apropos „dreiundzwanzig“: Auch für dieses vierzehn Zeichen lange Zahlwort kann man eine Kurzform mit Hilfe der Ziffern 2 und 3 schreiben, und es ist äußerst praktisch, das Wort viermillionensiebenhundertachtundzwanzigtausendvierhundertneunundsechzig kurz mit sieben Ziffern als 4728469 zu notieren. Die gleiche Zahl als eine Menge (z.B. als Strichliste) betrachtet ist völlig unübersichtlich und in der genauen Größe nur sehr mühsam zu bestimmen. Nur zehn Zeichen ermöglichen uns im Dezimalsystem eine übersichtliche und exakte Darstellung jeder beliebigen Größe, sie verwandeln riesige Mengen in kleine, übersichtliche Sprachhäppchen, die unser Geist verdauen kann.

Wenn auch Unklarheit herrscht, wie das Prinzip dieser sprachlichen Verkleinerung funktioniert, ist deren Vorteil deutlich: Wir sparen viel Zeit, Mühe und Material, indem wir die Kurzformen benutzen. Besonders die Zahlen, aber auch die wissenschaftlichen Symbole in der Chemie, Elektrotechnik usw. tragen in ihrer knappen Form sehr zur Übersichtlichkeit des Dargestellten bei. Zum Beispiel werden die Bauteile der elektronischen Schaltungen, die Kondensatoren, Widerstände, Transistoren usw. in einem Schaltplan mit sehr einfachen Strichzeichnungen als Symbole eingezeichnet, Zahlen bezeichnen ihre Größe. Diese vereinfachende Skizzierung ermöglicht dem Fachmann erst eine Übersicht über den Sinn des ganzen Schaltplanes und dessen Funktionen, und damit auch eine Übersicht über das beschriebene Gerät. Die nächste Stufe der Vereinfachung ist die sogenannte „Blackbox“: Ganze Gruppen von Bauelementen werden durch ein Rechteck und eine Beschreibung von Input und Output ersetzt.

Die größten Triumphe erzielen die Mathematiker mit ihren Abkürzungen: E=mc² ist die kleinste Form für einen großartigen Gedanken Einsteins, der die Welt gewaltig veränderte. Es erscheint mir die Meinung berechtigt zu sein, dass die wesentlichen Vorteile der Mathematik auf ihrer Fähigkeit beruhen, große, unübersichtliche Komplexe in einer extrem kleinen, aber übersichtlichen und exakten Darstellung zu präsentieren.

Auch wenn Abkürzungen von Begriffen hauptsächlich in der Mathematik und den Wissenschaften üblich sind, halte ich eine genaue Untersuchung dieser sprachlichen Fähigkeit für wichtig, weil sich damit ein wesentlicher Aspekt jeder Sprache aufdecken lässt, der in einer starken Vereinfachung (Reduktion) von Komplexität besteht.

Abkürzungen II: komprimierte Daten

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Um diesen Aspekt zu entdecken, ist ein Vergleich mit der Computertechnik hilfreich. Seitdem auch Musik, Bilder und Videos in Computern gespeichert werden, ist der Begriff Datenkomprimierung gebräuchlich geworden.

Datenkomprimierung bedeutet: große Datenmengen können durch Algorithmen in wesentlich kleinere Formen „verpackt“ werden, aus denen sich die ursprünglichen Daten wieder „entpacken“ lassen. Davon profitieren z.B. MP3-Player oder digitale Fotoarchive, die mit wenig Speicher viel Musik oder Bilder speichern können. Außerdem empfiehlt sich die Komprimierung der Datenmengen bei der Kommunikation im Internet, weil große Dateien lange Übertragungszeit benötigen.

Speicherkapazität und Übertragungszeit sind auch für die sprachliche Kommunikation der Menschen wichtige Parameter, und so erscheint jede sprachliche Abkürzung einer technischen Datenkomprimierung vergleichbar. Wenn z.B. die drei Buchstaben DNA das 23 Buchstaben lange Wort ersetzen, so lässt sich daraus ein Komprimierungsverhältnis von 7,6 : 1 errechnen.

Dieses Größenverhältnis ist ungefähr mit den technischen Komprimierungen vergleichbar. Allerdings gibt es eine Obergrenze, wie stark etwas komprimiert werden kann. Bei Bildern kann eine besonders starke Komprimierung dazu führen, dass bei der Rekonstruktion die Details unscharf und pixelig werden.

Abkürzungen III: in Symbolen komprimierter Sinn

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Ein wichtiger Unterschied zwischen sprachlicher Abkürzung und technischer Komprimierung besteht darin, dass der Computer keinerlei Wissen oder Verständnis von den Daten hat, die er bearbeitet, komprimiert und speichert.

In der menschlichen Kommunikation ist dagegen immer schon ein Wissen der Wörter und deren Bedeutung vorauszusetzen, ohne welches der Gebrauch der Sprache gar nicht möglich ist, zum Beispiel in einer Fremdsprache.

Dieses Vorwissen, über das unser Gedächtnis verfügen muss, erzeugt einen Vorteil: Mit dem bereits vorhandenen umfangreichen Weltwissen kann die Kommunikation unter Menschen in einer Art geführt werden, die dem Individuum ein Verständnis von Sinn vermittelt und mitteilbar macht. Kein Computer hat ein Weltwissen und ein Verständnis für den Sinn der Daten, die er bearbeitet, komprimiert, speichert und ausgibt.

Halten wir einmal fest: Die menschliche Sprache bietet uns mit den sogenannten Abkürzungen die Erleichterung, große Datenmengen in kleinere zu verwandeln bzw. zu komprimieren. Dazu sind Gedächtnisleistungen nötig, die zu einem Verständnis des Sinnes beitragen, der in den Zeichenfolgen zum Ausdruck kommt.

Die Alltagssprache der einfachen Art benutzt die Abkürzung weniger, aber wenn ein Boxer K(nock) O(ut) geschlagen wird, versteht jeder den Sinn des Kürzels auch ohne Englischkenntnisse.

Die meisten elementaren Begriffe einer primitiven Alltagssprache sind aber schon von Beginn an (Papa, Mama) so kurz, dass weitere Abkürzung sinnlos ist.

Betrachten wir als Beispiele einer elementar einfachen Sprache diese Wörter: See, Meer, Land, Mond, Tal, Berg, Ei, Brot, Wurst, Fleisch, Tier, Floh, Gott, Jahwe, Allah, warm, kalt, nah, weit, Schnee, Blitz, ja, nein, und, noch, wenn, dann, eins, zwei, drei, vier, Tür, Haus, Bett, müde, wach, Tag, Jahr......wir können die Reihe noch lange fortsetzen, und finden auch in allen Fremdsprachen die Bestätigung, dass die elementaren Wörter einer Sprache meist dermaßen kurz sind, dass Abkürzungen dafür kaum noch möglich sind.

Aus dieser unübersehbaren Tatsache ziehe ich einen Schluss über die allgemeine Funktion der Sprache, die meines Erachtens in einer optimalen Datenreduktion oder Komprimierung zu liegen scheint. Wir komprimieren Daten nicht nur mit den Abkürzungen, sondern schon mit jedem Wort, angefangen mit „Mama“ und "Papa". Mit diesen kurzen Lautkomplexen können wir in "Echtzeit" über komplexe Dinge "sinnieren" und kommunizieren.


Wenn ein Kind circa acht Monate nach seiner Geburt sein erstes Wort benutzt, hat es schon unzählige Datenmengen von dem Objekt „Mama“ in seinem Gedächtnis, die es alle zusammen in der einfachsten Sprachform zum Ausdruck bringt, das heißt: es komprimiert bereits eine riesige Menge von Information in eine simple sprachliche Kurzform!

Diese Funktion der Sprache wird bisher von keinem Sprachwissenschaftler beschrieben, sodass es mir überlassen ist, den Gedanken weiter zu spinnen.

Eine Bestätigung ihrer komprimierenden Funktion finden wir schon in der Sprache selbst: Ein Dichter verdichtet die Sprache im Gedicht, mit dem er seine komplexen Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringt, das heißt: er komprimiert sie. Das griechische Wort Symbol umschließt auch die Wörter, und es bedeutet genau übersetzt „das Zusammengehäufte“, das heißt: das Komprimierte. Der Philosoph Ernst Cassirer nannte den Menschen „animal symbolicon“, das zusammenhäufende, also komprimierende Lebewesen, weil nach seiner Meinung die Verwendung von Symbolen das spezifisch herausragende Merkmal der menschlichen Gattung und ihrer Kultur ist.

Sprache: Symbolische oder komprimierende Abkürzung?

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Zweifel an der offensichtlich komprimierenden Funktion der Sprache müssen natürlich bestehen bleiben, solange nicht erklärt werden kann, wie diese spezielle Fähigkeit der Menschen zustande kommt. Ich habe bereits geschrieben, dass unser Gedächtnis zum Verständnis von Sinn die nötigen Informationen bereitstellen muss. „Gedächtnis, Verständnis, Sinn, Information“ sind nun aber selbst äußerst schwierige Wörter, die zuerst ausführlich erörtert werden müssen. Dafür werden die folgenden Kapitel benutzt.

Davor will ich noch einmal auf die technische Methode der Komprimierung zurückkommen, deren Verfahren bekannt ist. Digitale Dateien werden mit speziellen Algorithmen kleiner gemacht, indem unnötige Informationen daraus entfernt werden, die Dateien werden beim Komprimieren quasi „abgespeckt“.

Zum Beispiel können in einem Text häufig wiederkehrende Wörter eingespart werden, indem nur der Platz notiert wird, an dem sie stehen. Bei der digitalen Aufnahme von Musik werden die höchsten Frequenzen, die wir nicht mehr hören können, herausgefiltert und gar nicht erst aufgezeichnet, damit die Datenmenge kleiner ist. Bei Bildern haben oft große Flächen die gleiche Farbe, sodass man nur die Grenzen der gleichen Farbfelder angeben muss, um ein Bild in die komprimierte Form zu verwandeln.

Es ist leicht verständlich, dass diese „abspeckenden“ Komprimierungsverfahren enge Grenzen haben.

Eine wesentlich effektivere Methode zeigt uns die Sprache. Wörter sind keine abgespeckten Formen der Objekte, die von ihnen repräsentiert werden, sie bestehen ja nur aus kurzen Laut-oder Zeichenfolgen und haben mit den Objekten nichts gemeinsam. Die Informationsmengen der Objekte können unbeschränkt groß sein, und können dennoch durch ein sekundenlanges Wort augenblicklich aktualisiert werden, zum Beispiel „Prag, Rom“.

Wörter sind nicht „abgespeckte“ Datenmengen.

Die technischen, abspeckenden Komprimierungsmethoden können dafür sicher nicht verwendet werden. Aber welcher Zusammenhang besteht dann zwischen der komprimierten Form der Wörter und ihren Bedeutungen? Diese Frage ist bisher von der Kognitions- und Sprachwissenschaft noch nicht befriedigend beantwortet worden, sodass wir eine Antwort erst noch finden müssen.

Einen ersten Hinweis über die Art des Zusammenhanges findet man in einem sehr alten Buch, der Bibel. Was immer man von Religion hält, muss man dem biblischen Jesus die Fähigkeit zugestehen, tiefe Gedankengänge in einfachen Gleichnissen auszusprechen. Eines davon ist das Gleichnis vom Sämann, mit dem Jesus seine Jünger anregen will, jedes Wort sorgfältig zu bewahren, damit es hundertfach Frucht bringt. Wörter sind wie Samen, die auf steinigem Boden verkümmern, von Vögeln gefressen werden können oder auf gutem Boden große Gewächse mit vielen Früchten erzeugen.

Abkürzung IV: Baupläne speichern statt Gebäude speichern

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Kleine Ursachen-große Wirkungen

Wörter sind genau wie Samen sehr klein im Verhältnis zu ihren Erzeugnissen. Die Natur hat offensichtlich mit den Samen bereits die Fähigkeit zur Komprimierung großer Organismen in kleinste Formen unter Beweis gestellt.

So wie die Wörter nicht als abgespeckte Versionen der Objekte aufzufassen sind, sind auch die winzigen Speicherformen der Lebewesen nicht als abgespeckte Individuen zu verstehen. Ein Wort enthält also nicht den Gegenstand, auch nicht in sozusagen datenreduzierter Form. Und genauso enthält die Walnuss nicht den Nussbaum in komprimierter Form.

Was der Samen enthält ist die Bauanleitung, die Herstellungsvorschrift, das Rezept. In Form dieser Bauanleitung erreicht die Natur maximale Komprimierung der Organismen in ihren Samen. Heute wissen wir sehr genau, wie in den langen Ketten der DNA, in denen sich immer nur vier Moleküle abwechseln, die Bauanleitung aller Organismen festgelegt wird. Die ganze Variationsbreite der Lebewesen entsteht nur durch die Variationen der vier Basen in den DNA-Sequenzen der Gene.

Die Walnuss ist Bauanleitung für einen Baum.

Es liegt auf der Hand, dass eine Bauanleitung sehr viel kleiner sein kann, als ihr Produkt. Die Größe eines Produktes erscheint sogar völlig unabhängig von der Größe seiner Herstellungsvorschrift zu sein, wenn diese Vorschrift ständig von Neuem wiederholt wird. Mit einem Rezept kann man einen Kuchen backen, aber durch seine ständige Wiederholung können auch ganze Kuchenberge damit erzeugt werden. Genau diese Methode, die ständige Wiederholung der gleichen Vorschrift (Zellteilung), erzeugt aus den mikroskopisch kleinen Genen die ganze Bandbreite des Lebens.

So erreicht der biblische Vergleich der Wörter mit den Samen durch die moderne Genetik eine Bestätigung. Die Parallelen sind nicht zu übersehen: So wie die ganze Mannigfaltigkeit des Lebens mit der Variation der vier DNA-Basen beschrieben werden kann, kann sprachlich auch die ganze Bandbreite der menschlichen Gedanken und Gefühle mit der Variation von Zeichenfolgen ausgedrückt werden.

Ein kleiner Bauplan enthält sie nicht und schafft sie doch: riesige komplexe Gebäude.

Auch die häufige Wiederholung der gleichen Vorgänge ist eine typische Tatsache in jedem Sprachgebrauch, besonders in der Lernphase in den ersten Schuljahren. Rechnen und Schreiben lernen wir nur durch endlose Wiederholung der gleichen Vorschriften.

Zusammenfassung und Vorschau

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die komprimierende Wirkung der Sprache vermutlich darauf beruht, dass ihre Zeichenfolgen als Teile einer Konstruktionsvorschrift wirken, einer Bauanleitung, mit welcher der ganze Kosmos des menschlichen Geistes hergestellt werden kann.

In der Wissenschaft sind solche spekulativen Behauptungen verpönt, solange sie nicht bewiesen werden können. Unsere Ansicht über das Funktionieren von Sprache beruht zwar auf einfachen Tatsachen, aber für die Theorie, die sich nun abzuzeichnen beginnt, müssen wir uns die Prüfungen erst noch ausdenken, sonst kann sie keine wissenschaftliche Anerkennung erringen.

Zunächst werden wir uns mit einigen theoretischen Begriffen befassen, die in dieser Theorie vorkommen, um genau zu wissen, worüber wir eigentlich reden. Diese Begriffe kennen wir auch aus dem Alltagsdenken. Es wurde schon festgestellt, dass das Besondere der menschlichen Sprache auch darin liegt, dass sie bei grundlegend schon vorhandenem Wissen den Sinn von Informationen ausdrückt und auf andere Menschen überträgt. Sinn, Wissen, Gedächtnis und Information sind also diese Begriffe, die so weit erklärt werden müssen, dass wir die Theorie der Sprache begreifen und später vielleicht auch nachprüfen können. Auch der schillernde Begriff Bewusstsein gehört zu den ungeklärten Grundlagen der Sprache, weil ohne Bewusstsein die Sprachfähigkeit nicht vorhanden ist.

Wir wollen uns in den folgenden Kapiteln die Mühe machen, diese komplizierten Begriffe von verschiedenen Seiten zu beleuchten, um uns ganz klar zu sein, worüber wir sprechen und um dann die komprimierende Funktion der Sprache als Ergebnis einer sehr einfachen Bauanleitung besser verstehen zu können.