Gehirn und Sprache: Theoretische Folgerungen

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Theoretische Folgerungen[Bearbeiten]

Wie kann man sich solche periodischen „Netzgestalten“ vorstellen, wie bringen diese rhythmisch aktualisierten Komplexe im Cortex die besonderen Eigenschaften des menschlichen Wissens und der Sprache hervor?

Um in diesen Fragen einen Schritt weiter zu kommen fassen wir zusammen, worauf es uns dabei besonders ankommt:

Als spezielle Eigenschaften des Wissens wurden mehrfach die organische Ganzheit mit einer „pars pro toto“-Funktion und die chronologische Organisation der Gedächtnisinhalte beschrieben.

Die Forderung nach organischer Ganzheit erfüllt ein neuronales Netzwerk der Pyramidenzellen, welche im ganzen Cortex organische Verbindungen mit plastischen Grenzen erzeugen. Der wichtige Begriff „Grenze“ wurde schon ausführlich bedacht, er erweist sich in den neuronalen Netzen nützlich als Träger der Gestalteigenschaften, welche in den Verbindungen entstehen und als Grenzen existieren. Unterscheidungen und Entscheidungen verlangen nach Grenzen, und die können in den synaptischen Verbindungen der neuronalen Netze „plastisch“ realisiert werden.

Die chronologische Organisation des Wissens wird durch den cerebralen Arbeitstakt hergestellt und besteht materiell darin, daß bei allen Wachstumsvorgängen der synaptischen Verbindungen, welche ständig neue Gestalten wachsen lassen, die bereits gewachsenen alten Strukturen immer erhalten bleiben, in einer zeitlichen Ordnung vergleichbar den Jahresringen in einem Baumstamm.

Die „pars pro toto-Funktion“, die darin besteht, daß in jedem Teil der Figur Kopien der Grundfigur in verschiedenen Größenordnungen enthalten sind, wurde bereits in dem mathematischen Modell der „Mandelbrot-Menge“ beschrieben.

Eine weitere Eigenschaft der Mandelbrot-Menge, die Selbstähnlichkeit, bestätigt ihre Eignung als Modell für die Wissensorganisation im Gedächtnis. Selbstähnlichkeit zeigt sich in jedem Teil ihrer Grenzstruktur „skaleninvariant“ (d.h. in allen Größenordnungen). Jeder Ausschnitt der Grenzlinie ist eingebettet in eine sehr ähnliche Umgebung.

Diese Eigenschaft ist geeignet, das Phänomen der „Wahrnehmungskonstanz“ zu erklären. Wir sehen die „Objekte“ ja nie unter dem gleichen Blickwinkel, aus der gleichen Entfernung, unter der gleichen Beleuchtung, sondern unter ständig wechselnden Bedingungen. Obwohl wir von jedem „Objekt“ unzählige ähnliche Eindrücke erhalten, bleibt es für die Wahrnehmung konstant.

Deshalb soll hier noch einmal hervorgehoben werden, welche Bedeutung die Gestalt-Eigenschaft „Ähnlichkeit“ für jede Form von geistiger Tätigkeit und das Gedächtnis hat.


Ähnlichkeit[Bearbeiten]

Hinter dem Begriff „Ähnlichkeit“ verbirgt sich ein alltägliches Problem unserer Erkenntnis, dass schon seit Heraklit bekannt war, als dieser schrieb: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht.“ (Fragment 49a) Denn es ist jedesmal anderes Wasser, das uns entgegenströmt.

Vermutlich gibt es im Universum kein „Ding“, welches einem zweiten „Ding“ völlig gleich ist. Weil alles in ständiger Veränderung ist, sind die „Dinge“ sogar zu jeder Zeit verschieden von allen anderen vorherigen oder zukünftigen Zuständen ihrer eigenen Existenz.

Wenn in der Welt aber keine völlig gleichen Dinge existieren, dann muss jede Feststellung von Identität in Wahrheit auf der Feststellung von Ähnlichkeit beruhen, die vom Beobachter nur irrtümlich als Identität angesehen wird, etwa weil er mit seinen beschränkten Sinnesorganen und Messapparaten keine Unterschiede entdecken kann. Identität ist aus dieser Perspektive eine Sache des Betrachters, die Wirklichkeit kennt nur Ähnliches.

Unter den Philosophen der Neuzeit war es David Hume, der in seiner „Untersuchung über den menschlichen Verstand“ alle Argumente aus Erfahrung auf erlebte Ähnlichkeit (similarity) zurückführte. „Von ähnlich erscheinenden Ursachen erwarten wir ähnliche Wirkungen“, ist nach Hume die Summe aller empirischen Schlussfolgerungen.

Ähnlichkeit – Voraussetzung des Erkennens

Auch eine irrtümliche Gleichsetzung kann nützlich zur Orientierung sein. In einer Welt, in der kein Gleiches existiert, kann ein Lebewesen sich nur orientieren, wenn es ein Gespür für Ähnlichkeit hat, mit dem es auf ähnliche Erscheinungen in ähnlicher Weise reagieren kann. Dieses Gespür für Ähnlichkeit liegt allem Wiedererkennen zu Grunde und entsteht schon auf den frühesten Entwicklungsstufen der Sinnesorgane. Artgenossen von Feinden zu unterscheiden, Essbares von Ungenießbarem, Männchen von Weibchen abzugrenzen - diese Orientierungsaufgaben sind für alle Lebewesen lebensnotwendig und lassen sich nur durch Sinnesorgane bewältigen, die schnell Ähnliches von Unähnlichem unterscheiden können.

Die irrtümliche Gleichsetzung von Ähnlichem lässt den Fisch nach dem fliegenähnlichen Köder schnappen, Vögel auf Attrappen von Feinden fluchtartig reagieren; durch irrtümliche Gleichsetzung werden Zwillinge verwechselt und falsche Geldscheine als echtes Geld angenommen. Ähnliches wird leicht als Gleiches wahrgenommen, aber in der Regel ist dieser Irrtum eher nützlich als schädlich, denn die meisten Geldscheine, Feindgestalten und Fliegen sind echt. Die Natur selbst hat unzählige Formen der Ähnlichkeit hervorgebracht - von den Spiralformen der Galaxien über die Arten von Tieren und Pflanzen bis in den Bau der Atome hinein.

Ähnlichkeit in der menschlichen Kultur

Auch in der menschlichen Kultur spielt das Prinzip der Ähnlichkeit eine tragende Rolle. Erst indem wir Ähnlichkeiten feststellen, können wir Gegenstände in Gattungen und Kategorien erfassen und klassifizieren. Jeder Begriff der menschlichen Sprache umfasst eine unzählbare Menge ähnlicher Gestalten oder Sachverhalte - z.B. umfasst das Wort „Baum“ unendlich viele Gewächse mit ähnlichen Eigenschaften.

Aber der Mensch stellt nicht nur bestehende Ähnlichkeiten in der Natur fest, um sich in ihr zu orientieren - er ist auch selbst Schöpfer von Ähnlichkeiten. Seine Kultur besteht seit der Steinzeit aus ähnlichen Produkten, angefangen mit dem Faustkeil bis hin zur industriellen Massenproduktion. Dies gilt auch für seine geistigen Produkte wie Sprache, Musik oder Kunst.

In der Sprache wird etwa ein Wort immer in gleicher Weise verstanden, auch wenn es in verschiedener Geschwindigkeit oder Tonhöhe, gar in verschiedenen Dialekten erklingt, von Kleinkindern gestammelt oder Betrunkenen genuschelt - wir erfassen die Ähnlichkeit und verstehen. Ebenso ist es mit den Buchstaben, die gedruckt oder gekritzelt, winzig oder riesengroß in unendlichen Variationen immer als die gleiche Figur gesehen werden, wenn nur eine gewisse Ähnlichkeit von Strukturmerkmalen erhalten ist.

Auch die (gegenständliche) Malerei beruht auf dem Prinzip der Ähnlichkeit, etwa beim Portrait oder bei Landschaftsbildern. Stets ist das Abbild seinem Abgebildeten in bestimmten Eigenschaften ähnlich. Karikaturisten zeigen mit wenigen Strichen, wie Ähnlichkeit mit sparsamsten Mitteln hergestellt uns immer noch zum Wiedererkennen ausreicht. Heute ersetzt oft die Fotografie den Maler bei der ähnlichen Darstellung von Dingen.

In der Musik taucht die Ähnlichkeit schon im Rhythmus in Form ähnlicher Zeitwerte auf. Auch alle Melodien können in verschiedenen Tonhöhen und Geschwindigkeiten ähnlich gespielt und gehört werden. Die Kunst der Fuge macht davon systematischen Gebrauch. Richard Wagners Leitmotive und die Unterhaltungsmusik tragen das Prinzip der musikalischen Ähnlichkeit bis in die Gegenwart, die gerade im Bereich der Popmusik wesentlich von einander ähnlichen, stets nach dem selben Muster gestrickten Produkten geprägt und dominiert ist.


Unter diesen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen erscheint die skaleninvariante Selbstähnlichkeit der Mandelbrot-Menge als ideales Gegenstück zu den Ähnlichkeitskomplexen, die unsere Sinnesorgane von der Welt erhalten. Wie im ganzen Kosmos, so gibt es auch in der Mandelbrot-Menge nur ähnliche, keine gleichen Strukturen.

Führt man sich dazu noch vor Augen, wie in dem MM-Algorithmus eine kurze Folge von Zahlen, der Control-Wert, gestaltend zur Konstruktion der komplexen Grenzstruktur führt, und wie diese Fähigkeit im Prinzip der sprachlichen Komprimierung von Begriffen durch Wörter ähnlich ist, dann hat man den Sinn dieser Arbeit erfaßt und sich den Zusammenhang von Gehirn und Sprache ein wenig anschaulicher gemacht.

Hinweis: Wer kein Programm hat, mit dem er in der Mandelbrotmenge surfen kann, der kann auf YouTube ein paar Videos davon sehen. Zum Beispiel: https://www.youtube.com/watch?v=pCpLWbHVNhk