Gehirn und Sprache: Am Anfang war der Rhythmus
Der Vergleich der Wörter mit den Samen in dem biblischen Gleichnis des Nazareners hatte zu der Ansicht geführt, dass die Wörter ebenso wie die Samen große, komplizierte Gebilde erzeugen, indem sie wie die Samen als Bauanleitung wirken.
Die Frage ist: Wie kann man sich eine Bauanleitung für die sprachliche Komprimierung von Sinn vorstellen?
Es wurde im ersten Kapitel auch schon geschrieben, dass eine mathematische Darstellung von Gegebenheiten dadurch ihren Wert erhält, dass mit ihr auch komplizierte Dinge und Vorgänge in kürzester, und dadurch überschaubarer Form präzise ausgedrückt werden können.
Deshalb gilt in der Wissenschaft ein Problem erst dann für optimal erklärt, wenn es in einer mathematischen Formulierung vorliegt.
So können wir den Schluss ziehen, dass wir eine Bauanleitung für Sprache erst dann richtig verstehen und uns eine genaue Vorstellung davon machen können, wenn eine mathematische Beschreibung dafür möglich ist.
Lieber Leser, Sie sollen jetzt nicht befürchten, dass Sie mir nun nicht mehr folgen können, wenn ich auf eine mathematische Betrachtung der Sprachfähigkeit und der Begriffe „Sinn, Wissen, Gedächtnis“ hinarbeite. Ich verstehe selbst nicht allzuviel von der Rechenkunst und kann deshalb nur laienhaft mit dieser Sprachform umgehen. Trotzdem werde ich versuchen, den Satz: „Das Einfache ist das Siegel des Wahren“ (simplex sigillum veri) mit einem sehr einfachen mathematischen Modell von Sinnerzeugung und Sprachfähigkeit zu bestätigen, ein Modell, das mit ein wenig Mühe auch von Ihnen, verehrter Leser, begreifbar ist.
Ein mathematisches Modell für eine Herstellungsvorschrift, eine Bauanleitung, ein Rezept, eine Bedienungsanleitung und dergleichen nennt man in der Mathematik einen Algorithmus, wenn alle einzelnen Schritte dieser Anleitung präzise definiert sind.
Zum Beispiel bei einem Kuchenrezept sind in einer bestimmten Reihenfolge die genauen Mengen der Zutaten in einer präzisen Handlungsanweisung zusammenzubringen und in vorgeschriebener Zeit auf bestimmte Temperaturen zu erhitzen, mathematisch gesprochen ist jedes Rezept ein Algorithmus.
Es gibt unzählige Algorithmen, einfache und sehr komplizierte. Jedes Computerprogramm besteht aus einem großen Algorithmus, der meistens aus sehr vielen kleineren Algorithmen besteht, die miteinander verknüpft sind.
Wenn wir also in der großen Menge möglicher Algorithmen eine mathematische Vorschrift suchen, die uns als Modell für die Erzeugung von Sinn und dessen Komprimierung in kurze Zeichenketten dienen kann, dann muss zuerst einmal genau formuliert werden, was dieser Algorithmus können muss.
Der Begriff „Sinn“ wurde im vorigen Abschnitt als ein sich ständig neu bildendes Integrationsprodukt aller Sinnesorgane und Gefühle mit unserem ganzen Weltwissen beschrieben, bei dem alles mit allem in Verbindung steht, wie in einem Organismus.
Die Sprache verknüpft große Teile von Sinn und bringt sie in die Form einer exakt gegliederten Zeichenfolge, aus welcher der Empfänger die Sinnverbindung rekonstruieren kann, wenn er der Artikulation aufmerksam folgt.
Ein Algorithmus, der diese Aufgabe erledigen kann, muss immer wieder schnell neue Sinnkomlexe erzeugen, alte wieder löschen können. Der Vergleich mit der rhythmisch wiederholenden Zellteilung in biologischen Systemen legte bereits eine rhythmisch wiederholende Tätigkeit bei der Sinnproduktion nahe.
Auch mit einem vergleichenden Blick auf die Technik lässt sich vermuten, dass diese Aufgabe wie bei einem Monitor in einer rhythmischen Tätigkeit bewältigt werden muss, um der aktuellen Situation in jedem Moment eine neue Struktur zu geben. Das kann nur mit einem Algorithmus realisiert werden, der in Bruchteilen einer Sekunde Sinn erzeugt, um ihn sofort wieder zu löschen, neue Eindrücke zu neuem Sinn zu formen, zu löschen usw., also ein rhythmisch wiederholender Vorgang, wie zum Beispiel die Abtastfrequenz bei elektronischen Bildschirmen.
Die Natur gibt uns viele Hinweise dafür, dass die geistigen Tätigkeiten in einer rhythmischen Form geschehen.
Zuerst können wir in der Sprache schon einen Sprachrhythmus feststellen, der bei allen Sprachen ungefähr im gleichen Bereich liegt.
Bei entspanntem Sprechen werden ungefähr zwei Artikulationen in einer Sekunde erzeugt, schnelleres Sprechen ist nur bis zu einer Grenze von circa sechs Artikulationen pro Sekunde möglich. Man braucht nur laut von einundzwanzig bis neunundzwanzig zu zählen, um den Sprachrhythmus und die Grenzen seiner Geschwindigkeit zu erfahren.
Die Eingabe von Sprache in eine Tastatur und das flüssige Schreiben von Hand zeigen ebenso einen Arbeitstakt dieser Tätigkeiten, der sich am deutlichsten in der Musik untersuchen lässt.
Eine rhythmische Tätigkeit ist auch das Lesen. Untersuchungen der Augenbewegungen beim Lesen zeigen einen Rhythmus, der circa 4-5 sprungartige Folgebewegungen der Augen in einer Sekunde hervorbringt.
Schließlich können wir noch anführen, dass die meisten Bewegungen eine rhythmische Komponente haben: Gehen, Schwimmen, Essen, viele Arbeiten, zum Beispiel das Stricken, Rühren, Hämmern usw. sind rhythmische Tätigkeiten mit einer ähnlichen Grenzgeschwindigkeit wie Sprechen und Lesen, also höchstens circa fünf Zyklen pro Sekunde.
Halten wir fest,
- (I) dass es zahlreiche Hinweise für einen Arbeitstakt der geistigen Tätigkeit, also des gesuchten Algorithmus, der Sinn und Sprache erzeugt, gibt.
Die nächste Forderung an eine Erzeugungsvorschrift von Sinn betrifft den
- (II) organisch-ganzheitlichen Zusammenhang des Sinn-Ganzen,
der sich auch in der Sprache zeigt. Wilhelm von Humboldt, der Vater der allgemeinen Sprachwissenschaft, beschrieb diesen Zusammenhang so:
„Man kann die Sprache mit einem ungeheuren Gewebe vergleichen, in dem jeder Theil mit dem anderen, und alle mit dem Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhang stehen. Der Mensch berührt beim Sprechen, von welchen Beziehungen man ausgehen mag, immer nur einen abgesonderten Theil dieses Gewebes, thut dies aber instinktgemäß immer dergestalt, als wären ihm zugleich alle, mit welchen jener einzelne nothwendig in Übereinstimmung stehen muss, im gleichen Augenblick gegenwärtig.“ An anderer Stelle schrieb Humboldt: „Die Sprache ist, wie es aus ihrer Natur selbst hervorgeht, der Seele in ihrer Totalität gegenwärtig, d.h. jedes Einzelne in ihr verhält sich so, dass es Anderem, noch nicht deutlich gewordenem, und in einem durch die Summe der Erscheinungen und die Gesetze des Geistes gegebenen oder vielleicht zu schaffenden möglichen Ganzen entspricht.“
Wie kann so ein Gebilde, in dem unser ganzes Weltwissen mit der Wahrnehmung und Gefühlen zu einem Ganzen zusammengefasst wird und mit Sprache ausdrückbar ist, von einem mathematischen Modell, einer Rechenvorschrift, vereinfacht dargestellt werden? Wahrscheinlich werden alle Sprachwissenschaftler selbst Mathematiker an dieser Möglichkeit zweifeln, was uns nicht davon abhält, der Frage weiter nachzugehen.
Eine Spur zur Lösung des Problems oder dem gesuchten Algorithmus finden wir in der nächsten Anforderung, die
- (III) den Begriff der Grenze in das Zentrum unserer Überlegungen rückt.
Es sind die Fähigkeiten zum Unterscheiden und zum Entscheiden, die unserem Sinn und der Sprache erst die Möglichkeit geben, die Welt in einzelne Objekte zu differenzieren und einzuteilen und unterschiedlich darauf zu reagieren. Das Wort „Scheide“ ist bekanntlich ein altes Synonym für Grenze.
Wir teilen (mit Grenzen) die Welt ein in verschiedene Objekte und entscheiden (mit Grenzen) in jedem Moment, was gerade sinnvoll zu tun ist. Die wesentliche Anforderung an einen Algorithmus, der diese Aufgabe erfüllen soll, muss also darin bestehen, Grenzen zu erzeugen.
Grenzen, die einen ganzheitlichen Zusammenhang bilden, nennen wir „Gestalt“.
Wenn wir die Schöpfungsgeschichte der Bibel lesen, finden wir den Beginn der Welt in der Trennung von Tag und Nacht, Himmel und Erde, Wasser und Land, und es sind seitdem sicher unzählige weitere Trennungen dazugekommen, die das Sinn-Ganze des heutigen Menschen in eine Begriffswelt einteilen, die zur Orientierung dient, indem sie mit der Objektwelt in Übereinstimmung ist.
Ein rhythmisch sich wiederholender Algorithmus, der mir als mathematisches Modell für die Sinn- und Sprachproduktion vorschwebt, sollte demnach hauptsächlich Grenzen erzeugen, unzählig viele und komplizierte Grenzen, die alle innerhalb des Sinn-Ganzen miteinander verknüpft sind.
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, schrieb Ludwig Wittgenstein, und Wilhelm von Humboldt fasste den Gedanken in den Sätzen:
„Der Umfang des Wortes ist die Gränze, bis zu welcher die Sprache selbstthätig bildend ist“ und „Dies setzt natürlich eine große Schärfe der abgränzenden Beziehungen, da wir vorzüglich von diesen reden, aber auch eine gleiche in den Lauten voraus.“
Mit anderen Worten: Mit einer abgrenzend wirkenden Artikulation der Sprache werden Grenzen für die Bedeutung, den Umfang und den Sinn der Wörter und Sätze erzeugt, wird Verschiedenes unterschieden und entschieden. Ein Algorithmus der geistigen Tätigkeit muss in gleichförmiger Tätigkeit Grenzen erzeugen, wenn er Sinn und Sprache begreifbar machen soll.
Als weitere Forderung muss noch
- (IV) der Begriff Ähnlichkeit mit dem Konzept verbunden werden.
Um die Bedeutung von „Ähnlichkeit“ zu verstehen, erinnere ich an das „Höhlengleichnis“ des griechischen Philosophen Plato.
Plato beschrieb unsere eingeschränkte Fähigkeit zur Erkenntnis der Welt mit der Situation von Menschen, die in einer Höhle mit dem Gesicht zur Wand sitzen und auf der Wand nur die Schatten der Objekte wahrnehmen, die mit dem Licht vom Höhleneingang in die Höhle gelangen.
Das Höhlengleichnis ist ein schönes Bild, das die Bedeutung von Grenzen (Schatten) unterstützt und unser mangelhaftes Wissen entschuldigt, aber es bietet keine Erklärung dafür, warum die Menschen trotz behinderter Erkenntnismöglichkeit zu dem enormen Wissen gekommen sind, mit dem sie heute umgehen.
Diese Erklärung schaffen wir durch eine Erweiterung des Höhlengleichnisses mit Hilfe des Begriffes „Ähnlichkeit“:
Die Bewohner der Höhle sehen nur die Grenzen der Dinge, aber darin können sie Ähnlichkeiten entdecken und so zu einer Einteilung der Objekte und zum (eingeschränkten) Wissen über die Welt gelangen.
Die biologische Fähigkeit zum Entdecken von Ähnlichkeiten muss nicht weiter bewiesen werden, denn sie gehört mit Sicherheit zu den elementaren Qualitäten der Sinnesorgane im gesamten Tierreich.
- (V) Pars pro toto
Schließlich soll noch die sprachliche Komprimierung der ähnlichen Grenzgebilde durch das mathematische Modell anschaulich gemacht werden.
Diese komprimierte Form der Sinngrenzen in kurzen Folgen von Lauten oder Buchstaben lässt sich in vornehmem Latein als Pars-pro-toto-Funktion benennen, also: „Ein Teil steht für das Ganze“.
Was mit „Pars pro toto“ gemeint ist, lässt sich mit der Spurensuche erklären, die unsere Vorfahren bei der Jagd zur hohen Kunst entwickelt hatten.
Aus winzigen Fußspuren, abgeknickten Gräsern usw. können Jäger oder Detektive umfangreiche Zusammenhänge „lesen“. Heute genügen schon mikroskopische DNA-Spuren, um einen Täter zu identifizieren, ein Teil steht für das Ganze. Dass diese Fähigkeit nicht nur Menschen, sondern auch Hunden zu eigen ist, merkt ein Hundehalter oft, wenn er z.B. die Leine in die Hand nimmt, und der Hund schon zur Tür läuft, weil er die Bedeutung der Geste versteht, pars pro toto.
Zusammenfassend muss eine Vorschrift zur Erzeugung von Sinn und Sprache in schneller Taktfolge komplizierte Grenzen in organischem Zusammenhang produzieren, wobei eine Ähnlichkeit der Sinngrenzen einer Ähnlichkeit der Objektgrenzen entspricht. Die individuellen Grenzformen der Begriffsgestalten sind durch eine „Pars-pro-toto“-Funktion untrennbar mit kurzen Zeichenfolgen verbunden, die als Sprache funktionieren.