Soziologische Klassiker/ Brain Drain

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Grundstruktur des Kapitels:

Prolog[Bearbeiten]

Definition Braindrain[Bearbeiten]

Beide angloamerikanische Begriffe würden wörtlich in etwa "Abfluss von Gehirn" bedeuten. [1] Im Allgemeinen wird Braindrain mit Abwanderung von Wissenschaftlern übersetzt . Diese Definition wird dahingehend erweitert, dass es sich bei diesen Personen um Auswanderer handelt, die besonders gut ausgebildet oder begabt sind. Im Gegensatz dazu beschreibt der Braingain u.a. den Gewinn [2] jener Länder, die diese Auswanderer aufnehmen.
Der Begriff Braindrain wurde erstmals 1960 [3] im Zusammenhang mit der Auswanderung britischer hochqualifizierter Facharbeiter sowie Wissenschaftler in die USA im Zuge einer Studie verwendet. Diese Studie diente zur Aufdeckung von Schwächen im britischen Wissenschaftssystem und um eine entsprechende Förderung zu bewirken.
Die Abwanderung erfolgt in diesem Kontext i.d.R. vom Heimatland der Betroffenen in einen neuen Kulturraum. Das erworbene Wissen aus dem Ursprungsland ist somit im eigenen Kulturraum nicht mehr verfügbar und wird im neuen Kulturraum eingebracht.
Meist bestehen mehrere Gründe für eine derartige Abwanderung. Zum einen müssen die Bedingungen für die betroffenen Personen im Heimatland bedrohlich oder aussichtslos sein, um als Motive zur Abwanderung zu dienen. Zum anderen müssen seitens der Emigranten die verfügbaren Mittel zur Verfügung stehen, um in ein anderes Land auswandern zu können. Wie wir noch weiter sehen werden, wird dieser Umstand von Ländern, die Auswanderer aufnehmen mit Anreizregelungen wie Stipendien gefördert.
Ein weiteres Problem stellte sich den Auswanderern dann oftmals im neuen Kulturraum. Dieser ist meist durch eine fremde Sprache und Sozialstruktur gekennzeichnet auf die sich der Immigrant einstellen muss. Viele Wissenschaftler in der jüngeren Geschichte der Soziologie verzichteten auf diesen Schritt[4] in der Angst, ihre spezifischen Gedankengänge nicht im entsprechenden Maße zu Papier bringen zu können, aufgrund der Sprachbarriere [5] . Auch dies zeigt, dass der Braindrain meist nicht freiwillig erfolgt ist.
Oftmals gehen technische und wirtschaftliche Hochkonjunkturen auf Einwanderungswellen, also dem Braigain zurück. Im Umkehrschluss zeigen sich viele Niedergänge in den Ländern in denen abgewandert wurde, aufgrund der Emigration der talentiertesten Köpfe vertriebener Minderheiten oder Ethnien. Man könnte dies als Wettbewerb der klügsten Köpfe bezeichnen, bei dem jedoch die Länder, die nicht über die nötigen Anreizregelungen verfügen das Nachsehen haben [6].
Neueren Ansätzen zur folge, ist der Braindrain kein angeschlossener Prozess, sondern unterliegt immer öfter Pendelbewegungen. So erfolgt die Migration dieser Eliten zyklisch in einer Hin – und Herbewegung. Es kommt vor, dass die Auswanderer wieder in Ihre Heimat zurückkehren und das im Ausland erworbene Wissen, sowie deren Netzwerke zur Verfügung stellen und somit zu einer Entwicklung beitragen. Diese Bewegung wird auch |Braincirculation bezeichnet [7].
Richard Florida spricht in neueren Arbeiten von der kreativen Klasse, die durch ihren kreativen Output ein wichtiger Faktor des Wirtschaftswachstums einer bestimmten Region ist. Diese kreative Klasse zeichnet sich durch überdurchschnittliche Mobilität aus. Daher sind viele dieser Eliten in attraktiven Ballungsräumen zu finden. Diese Konzentration der kreativen Köpfe geht oftmals mit einer Steigerung des Wohlstandes und Wachstums einher. Ein Beispiel ist hier sicherlich die USA insbesondere New York, Silicon Valley oder Los Angeles [8]

Braindrain Theory Map of Sociology: Themeneingrenzung[Bearbeiten]

Wie wir bei den Hintergründen zum Braindrain in die USA einleitend gesehen haben, unterliegt der Braindrain in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg einer Reihe von Voraussetzungen und strukturellen Erfordernissen. Ohne das philanthropische Verhalten beispielsweise der amerikanischen Industriellen hätte es wohl dennoch Immigration in die USA gegeben, jedoch nicht die große Unterstützung talentierter Wissenschaftler. Des Weiteren waren die neuen technischen Hilfsmittel wie z.B. das Telefon, Voraussetzung für den regen Austausch der Wissenschaftler zwischen den USA und Europa. Dies hätte jedoch nicht Früchte tragen können, wenn René Worms die europäischen Soziologen nicht zumindest teilweise vereint hätte, um so auch zentralisierten Austausch zu ermöglichen.


Ziel dieser Theory Map ist es einen Überblick zu geben, welche aufstrebenden Soziologen aus Österreich und Deutschland abgewandert sind. Hier wird auch Bezug genommen, welche Gründe die Abwanderung hatte. Des Weiteren wollen wir untersuchen, welches soziologische Fundament diese Wissenschaftler in die Exilländer mitgebracht haben und wie es sich dort weiterentwickelte.
Dieses Wissen, gebündelt in soziologische Theorien, soll sowohl in ihren Ursprüngen als auch auf etwaige Pendelwirkungen (Braincircualtion) hin analysiert werden. Dies schließt auch die Untersuchung mit ein, was diese Theorien bewirkt haben und welche Beeinflussungen draus entstanden sind.
Konkret werden fünf soziologische Theorien und deren Urheber beleuchtet, die in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Braindrain vor dem zweiten Weltkrieg in Zusammenhang stehen.

Visualisierung des Braindrain[Bearbeiten]

Globale Bewegung spezifischer Theorien[Bearbeiten]

Einen übersichtlichen visuellen Zugang zu den Theorien und deren Hauptprotagonisten bietet die folgende Theory Map:

Prozess der ZivilisationEliasKritische TheorieHorkheimerAdornoPollock (Wikipedia-Link)MarcuseKonfliktfunktionalismusCoserLebensweltSchützLuckmannBergerSozialforschungLazarsfeld

Bewegung spezifischer SoziologenInnen[Bearbeiten]

Tabellarische Übersicht:[Bearbeiten]
Name Geburtsort Geburtsdatum Auswanderungsland 1
Adorno, Theodor W. Frankfurt am Main (GER) 11.09.1903 1934 England
Arendt, Hannah Linden / Hannover (GER) 14.10.1906 1933 Frankreich
Baumann, Zygmunt Posen (PL) 19.11.1925 1938 Sowietunion
Berger, Peter Wien (AUT) 17.03.1929 1946 USA
Blau, Peter M. Wien (AUT) 07.02.1918 1939 USA
Coser, A. Lewis Berlin (GER) 27.11.1913 1941 USA
Eisenstadt, Smuel Noah Warschau (PL) 10.09.1923 1958 USA
Erikson, Erik H. Frankfurt am Main (GER) 15.06.1902 1933 USA
Etzioni, Amitai Köln (GER) 04.01.1929 1936 Palästina
Elias, Norbert Breslau (PL) 22.06.1897 1933 Frankreich
Geiger, Theodor München (GER) 09.11.1891 1933 Schweden
Gorz, Andrè Wien (AUT)  ??.02.1923 1938 Schweiz
Horkheimer, Max Zuffenhausen (GER) 14.02.1885 1934 USA
Joas, Hans München (GER) 1948 1994 USA
Luckmann, Thomas Jesenice (SI) 14.10.1927 1950 USA
Lazarsfeld, Paul Felix Wien (AUT) 13.02.1901 1933 USA
Marcuse, Herbert Pommern (GER) 19.07.1898 1933 Schweiz
Mises, Ludwig von Lemberg (damals AUT) 29.09.1881 1934 Schweiz
Pollock, Friedrich Freiburg im Breisgau (GER) 22.05.1894 1934 USA
Oppenheimer, Franz Berlin (GER) 30.03.1864 1938 Japan
Schütz, Alfred Wien (AUT) 13.04.1899 1938 Frankreich
Sherif, Muzafer Izmir (TK) 29.07.1906 1935 USA
Strauss, Claude Levi Brüssel (BE) 28.11.1908 1941 USA
von Wiese, Leopold Glatz (PL) 02.12.1876 1934 USA
Wolff, Kurt H. Darmstadt (GER) 20.05.1912 1933 Italien
Znaniecki, Florian Świetniki (PL) 15.01.1882 1939 USA
Name Auswanderungsland 2 Rückkehr Sterbedatum Ort des Todes
Adorno, Theodor W. 1938 USA 1949 06.08.1969 Visp (CH)
Arendt, Hannah 1941 USA 04.12.1975 New York (USA)
Baumann, Zygmunt
Berger, Peter
Blau, Peter M. 12.03.2002 New York (USA)
Coser, A. Lewis 08.06.2003 Cambridge (USA)
Eisenstadt, Smuel Noah 1959 Isreal
Erikson, Erik H. 12.05.1994 Harwich (USA)
Etzioni, Amitai 1957 USA
Elias, Norbert 1935 England 01.08.1990 Amsterdam (NL)
Geiger, Theodor
Gorz, Andrè 1949 Frankreich 22.09.2007 Vosnon (FRA)
Horkheimer, Max 1949 07.07.1973 Nürnberg (GER)
Joas, Hans
Luckmann, Thomas 1965 Deutschland
Lazarsfeld, Paul Felix 30.08.1976 New York (USA)
Marcuse, Herbert 1934 USA 29.07.1979 Starnberg (GER)
Mises, Ludwig von 1940 USA 10.10.1973 New York (USA)
Pollock, Friedrich 1950 16.12.1970 Montagnola (CH)
Oppenheimer, Franz 1940 USA 30.09.1943 Los Angeles (USA)
Schütz, Alfred 1939 USA 20.05.1959 New York (USA)
Sherif, Muzafer 1939 USA 16.10.1988 Alaska
Strauss, Claude Levi 1947 Frankreich
von Wiese, Leopold 1935 Deutschland 11.01.1969 Köln (GER)
Wolff, Kurt H. 1939 USA 2003 Ohio (USA)
Znaniecki, Florian 23.03.1958 USA


Diese Tabelle beinhaltet eine Auswahl emigrierter SoziologenInnen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Grafische Darstellung der Bewegung spezifischer SoziologInnen:[Bearbeiten]

Wiederum eine Auswahl aus dieser Tabelle wurde mit Hilfe einer Google Map dargestellt, die unten noch einmal schematisch dargestellt und verlinkt ist:

http://maps.google.de/maps/ms?hl=de&ie=UTF8&msa=0&msid=106728747970798974214.00045a9179a149f8de6f3&z=2


Mit der verlinkten Google Map sollen die geografischen Bewegungen einzelner SoziolgenInnen und deren wichtigste Daten sowie Aufenthaltsorte auf einer Landkarte veranschaulicht werden. Tabelle und Grafik veranschaulichen, dass die Vereinigten Staaten in den meisten Fällen das Ziel und auch die Endstation der Emigrationsbewegungen waren. Dies ist mit Sicherheit auf die spezifischen Bedingungen, welche die USA der wissenschafltichen Sphäre zu bieten im Stande waren, zurückzuführen.

Spezielle Theorien im Zuge des Braindrain[Bearbeiten]

Strukturerklärung der anschließenden spezifischen Theorien

  • Anfang und Genese
Hier wird Bezug genommen auf die Ursprünge der relevanten soziologischen Theorien, deren Entstehungsgschichte und ihrer Umwelt. Des Weiteren werden biografische Daten der wichtigsten Vertreter in ihren Heimatländern aufgezeigt und auf Entwicklungen eingegangen. Z.B. welche Schulen die Theorienentwickler besucht haben oder von wem sie beeinflusst wurden.
  • Emigration und Exil
In diesem Punkt werden die näheren Umstände der Emigration fokussiert. Z.B. ob es Zwischenstationen gegeben hat und ob diese die Soziologen beeinflusst haben.
  • Theoretisches Wirken im neuen Umfeld
Sehr wichtig bei unserer hermeneutischen Herangehensweise ist festzustellen, in wieweit sich das mitgebrachte Wissen im neuen Umfeld integriert. Wird es offen angenommen? Gab es Widerstände und synthetische Prozesse? Wurden neue Schulen gegründet? Usw.
  • Wirkungsgeschichte der Theorie – Rückkehr nach Europa
Zahlreiche Soziologen kamen nach dem Naziregime wieder nach Österreich und Deutschland zurück, viele blieben in ihrer neuen Heimat. Hier interessiert uns, wie das erweiterte und durch die Emigration veränderte theoretische Wissen angenommen wird. Gab es Widerstände? Konnte der relevante Soziologe Fuß fassen in der neuen/alten Umgebung? Wie veränderte dies seine wissenschaftliche Karriere? usw.
  • Vertreter
Hier werden die relevanten Vertreter der vorgestellten Theorie aufgezählt.

Theorien[Bearbeiten]

Kritische Theorie[Bearbeiten]

Anfang und Genese[Bearbeiten]

In den 20er Jahren der Nachkriegszeit in Europa entwickelte sich neben der Handlungstheorie und der Systemtheorie -als Pendant zur Mikro- und Makrosoziologie- ein dritter Weg, die „Kritische Theorie“, mit dem nach dem "Zweiten Weltkrieg" verwendeten Pseudonym „Frankfurter Schule“. Grundlage waren marxistische Studien und trotz der gescheiterten Revolutionen in Deutschland und Russland, sowohl den Wirren der Nachkriegszeit des „Ersten Weltkriegs“, ging der Weg zurück zu Marx. Aufgrund der damaligen Zeitgeschichte herrschte eine bürgerlich-wissenschaftlich Abneigung der etablierten Soziologie gegenüber einer marxistischen Orientierung. Demnach etablierten sich die Anfänge in spontanen „freischwebenden“ Studentengruppen. Eine der bekanntesten war der Horkheimer-Kreis, der sich 1922 zum ersten Mal traf. 1923 ging daraus die Stiftung des "Instituts für Sozialforschung" hervor, die sich schließlich 1924 an der Frankfurter Universität institutionalisierte.

Trotz der ablehnenden Haltung des Frankfurter Bürgertums und wegen der durchwegs großbürgerlichen Herkunft der Studenten des Horkheimer-Kreises, konnte sich dieser neue verpönte Denkansatz als Alternative durchsetzen. Der Fokus in der marxistischen „Kritischen Theorie“ war die Frage, wieso es der Arbeiterschaft nicht möglich war, sich der Ausbeutung durch den Kapitalismus zu erwehren. 1930 wurde schließlich Max Horkheimer (1875 - 1973) Direktor in Frankfurt am "Institut für Sozialforschung" und gab der marxistischen Denkweise eine neue interdisziplinäre sozialphilosophische Denkweise, vermied damals in Europa aufgrund der politischen Situation jedoch das Wort „Klasse“. Erst durch diese Berufung Horkheimers bekam das Institut ansehliches Profil. Aufgrund des ihm 1931 ins Leben gerufenen Programms des interdisziplinären Materialismus, wo er eine andauernde Arbeitsgemeinschaft von Intellektuellen aus den verschiedensten Disziplinen einlud wurde schließlich ein universalistischer ganzheitlicher Ansatz ins Leben gerufen. Dieses Programm wurde in der von Horkheimer herausgegebenen "Zeitschrift für Sozialforschung" in den Jahren 1931 bis 1941 veröffentlicht.[9],[10], [11]

Emigration und Exil[Bearbeiten]

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 änderte sich die Situation für den Horkheimer-Kreis des Instituts für Sozialwissenschaften sowie jüdischen Sozialwissenschaftlern spontan. Dabei ist das Wort Emigration kritisch betrachtet dispositioniert, da es ein gewisses Maß an Freiwilligkeit suggeriert und beispielsweise im Fall von Norbert Elias, der Deutschland innerhalb eines Tages mit lediglich einer Reisetasche und einer Schreibmaschine verlassen musste, nicht zutreffend scheint.

Tatsache ist auch, dass die Bedrohung durch den Nationalsozialismus und dessen Konsequenzen nicht ernst genug genommen wurde. Beispielhaft wäre hier Theodor W. Adorno ein späterer Protagonist der "Frankfurter Schule", zu erwähnen. Adorno und Max Horkheimer lernten sich bereits 1922 in einem Seminar ihres Doktorvaters Hans Cornelius in Frankfurt kennen, Adorno wurde aber erst 1938 auf der Flucht ein richtiges Mitglied des "Instituts für Sozialforschung". Ein Grund war, dass Adorno wie erwähnt den Nationalsozialismus unterschätze und sogar nach der Machtergreifung - zwar in der Kritik den Umständen angepasst - nicht ins Exil ging, sondern sich als Musikkritiker durchzuschlagen. 1934 erkannte er schließlich doch den Ernst der Lage und floh über England - damals neben Paris Dreh und Angelpunkt für Emigranten - in die USA. Nur bei praktisch orientierten Personen, wie Friedrich Pollock der genug Erfahrung mit Administration in der Wissenschaft zu tun hatte, dämmerte eine böse Vorahnung und es wurden rechtzeitig Gelder - vorzüglich in die Schweiz - transferiert was eine Fortführung des Instituts im Ausland ermöglichte.

Das Institut selbst wurde von der SA besetzt und bestand lediglich ca. nur mehr sechs Wochen nach der Machtübernahme, es wurde am 13.März geschlossen. Diese Entwicklung setzte sich später auch an anderen Universitäten in Deutschland und Österreich fort. Durch das Gesetz "Zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums" wurden Beamte aus rassistischen oder politischen Gründen trangsaliert und entlassen. So kehrte sich Alfred Weber klar vom Nationalismus ab und verbot das Hissen der Hakenkreuzflaggen auf seinem Institut, wurde dafür aber promt in die vorzeitige Pensionierung gezwungen. Leopold von Wiese musste seine "Kölner Vierteljahresschrift für Soziologie" einstellen, er sagte später aus, er hätte sich nicht gängeln lassen, schweigen sei würdiger gewesen. Von Wieses Einfluss auf die Soziologie wurde durch den Nationalsozialismus stark beschnitten und nach dem Kriege versuchte er sich mit der nordamerikanisch orientierten Sozialforschung und der augkommenden Systemtheorie durch Hilfe seiner Beziehungslehre zu messen, wurde aber 1950 emeritiert.

Die Horkheimers machten sich indessen über Genf und Paris auf die Flucht und 1934 erfuhr die „Kritische Theorie“ eine neue Heimat in den USA, an der „New York University“, wo alsbald die „New School for Social Research“ – bestehend bis heute als Ort der kritischen Theorie - gegründet wurde.

1936 erschien in Paris ein umfangreicher Band mit dem Titel „Studien über Autorität und Familie“. Es sind die zusammengefassten und vielfältigen Forschungsansätze der Frankfurter Schule, besonders mit den Forschungsberichten und Grundsatzartikeln von Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Erich Fromm. Die Hauptaussage darin lautet, dass durch die Familie im Allgemeinen und durch die Autorität des Vaters in der hochkomplexen Industriegesellschaft und daraus abgeleitet der Autorität der Ökonomie im Speziellen, kapitalistische Herrschaftssysteme reproduziert werden. Horkheimer nennt dies ein Existenzurteil.[12], [13],[14]

Theoretisches Wirken im neuen Umfeld[Bearbeiten]

In New York angekommen führte Max Horkheimer die Tradition der Frankfurter Schule, insbesondere die „Zeitschrift für Sozialforschung“ fort. Darin erschien 1937 Max Horkheimers Aufsatz „Von der traditionellen zur kritischen Theorie“. Gegen die Meinung vieler der damaligen Zeit wird darin die Botschaft publiziert, dass wissenschaftliche Aussagen immer auch gesellschaftliche Tatsachen sind, soll heißen, Theorien haben immer auch eine Form von gesellschaftlicher Praxis und spricht sich somit gegen das Postulat der Werturteilsfreiheit von Max Weber aus. Aufgrund der engen Verbindung zwischen Sigmund Freuds Psychoanalyse und marxscher Gesellschaftskritik wird die "Kritische Theorie" im angloamerikanischen Sprachraum auch als "Freudomarxismus" bezeichnet. Horkheimer greift in seinem Aufsatz weiters die Geschichtsinterpretation von Karl Marx auf und sympathisiert mit dessen Marxismus. Nun nach vielen Jahren seiner Gründung und einem Leben im Exil spricht der Horkheimer Kreis erstmals offen über eine Klassenanalyse bzw. über ein Klassenbewusstsein. Aus Angst vor dem Nationalsozialistischen Terrors hatte Horkheimer 1931 bei seiner Antrittsrede als Direktor des "Institutes für Sozialforschung" noch darauf verzichtet, aus Rücksichtnahme bezüglich der Universität, auf das damals sensible Bürgertum in Frankfurt und aus Angst vor Komplikationen mit seinen Geldgebern und Sponsoren. Was sich also schon in Frankfurt latent ankündigte, nahm nun unter vorteilhafteren Bedingungen schärfere und klarere Züge an, die "Kritische Theorie" erfuhr kam durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus einen Aufschwung. Viele Studenten des Hormheimer-Kreises wollten rationale Erklärungen für die unbegreiflichen Geschehnisse zwischen 1933 und 1945. Mit der Rezeption der historisch – materialistischen Geschichtsauffassung von Karl Marx verwirft Horkheimer die unzähligen Versuche, Soziologie als eine relative autonome Einzeldisziplin zu verstehen und widmet sich einem universalistischen gesamtheitlicheren Ansatz. Der entscheidende Unterschied zu Marx liegt in Horkheimers Auffassung in einem anderen Verhältnis von Basis und Überbau und zwar geht die „Kritische Theorie“ von einer Wechselwirkung beider aus. Im Gegensatz zu Max Horkheimer und Theodor W. Adorno blieb Herbert Marcuse Anfang der 50er Jahre in den USA und äußerte sich dort bestimmt und energisch in der Öffentlichkeit über den Zusammenhang von kapitalistischen Produktionsmethoden und den Folgen für das alltägliche Leben. Er nahm die Arbeiterschaft aufgrund ihres befriedenden zugeteilten Wohlstands aus dem revolutionären Potential heraus und sah die neue Hoffnung in den freischwebenden Kräften der Außenseiter, also Studenten, Intellektuelle bis hin zu den Außenseitern der Slums. Nur darin – dokumentiert in seinen Büchern „Der eindimensionale Mensch“ und „Triebstruktur und Gesellschaft“ – sieht er die Hoffnungsträger für gesellschaftliche emanzipierte Entwicklung und somit gilt dieses Element der „Kritischen Theorie“ auch als „Material“ bzw. als Wegweiser für die studentischen Aktionsgruppen in den 1960er Jahren, als auch den damalig aufkeimenden Bürgerinitiativen.[15],[16]

Wirkungsgeschichte der Theorie – Rückkehr nach Europa[Bearbeiten]

  • Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verließen schließlich in den 50er Jahren die USA und kehrten nach Westdeutschland zurück. Ihr Entsetzen über den Nationalsozialismus sowie über das Schicksal der Intellektuellen äußerte sich in vehementen Pessimismus. Sie waren geprägt vom Holocaust und sahen darin, die „Wirklichkeit als Hölle“ in Bezug auf Max Weber stahlhartem Gehäuse. Des Weiteren fanden sich beide Anfang der 50er Jahre aufgrund der gegenwärtigen Umstände in einer antikommunistischen Gesellschaft wieder. Somit hielten sie sich in ihren marxistischen Denkansätzen vorerst zurück. Trotzdem führten sie in den späten 50er und Anfang der 60er Jahren eine akademische Linke fort. In den 1950er Jahren kam es durch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu einer Neugründung des "Instituts für Sozialforschung" (IfS) an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.Somit werden Horkheimer und Adorno – ähnlich wie Herbert Marcuse in den USA – in Europa als Vorreiter der Studentenbewegung der 60er Jahre gesehen, denn ihr Einfluss bei den kritischen Intellektuellen war groß. So waren sie es, die unter Wenigen den gängigen Fortschrittsglauben eines westlichen Wohlfahrtsstaates der damaligen Zeit hinterfragten und gegen die Vorstellung, es sei die Beste aller Welten arbeiteten. Diese Ansicht war noch immer geprägt von den Nachwehen des Holocaust. Horkheimers kritische frühe Schriften musste man sich jedoch zu jener Zeit aufgrund seiner oppositionellen Haltung als Raubdruck oder private Kopie organisieren.
  • Jürgen Habermas (geb. 1929) übernahm schließlich die Tradition der „Kritischen Theorie“ und führte sie bis heute fort und dies obwohl seine erste Arbeit am Institut für Sozialforschung in Frankfurt mit dem Titel „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ gerade vom „Urvater“ der „Kritischen Theorie“ Max Horkheimer nicht akzeptiert wurde. Habermas richtete sich schließlich in Marburg an Wolfgang Abendroth. Die "Kritische Theorie" von Horkheimer und Adorno und anderen wird als "Ältere kritische Theorie" getitelt, die "Jüngere kritische Theorie" die ihren Höhepunkt in der 68er Bewegung erfuhr, wurde hauptsächlich Jürgen Habermas zugeschrieben. Er plädiert auf die Vernunftbezogenheit der Diskussion über die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule unter Berücksichtigung weltlicher und historischer Theorien. Dies führte er weiter über den herrschaftsfreien Diskurs und dessen aufklärerischen Potenz und gibt somit der Sprache eine zentrale Bedeutung. An diesem Punkt kommt er in Berührung mit der Systemtheorie von Niklas Luhmann und kritisiert diese, indem Habermas in Bedacht auf den herrschaftsfreien Diskurses, Luhmann`s Ansatz des kommunikativen sinnhaften Handelns Entpolitisierung und Herrschaftslegitimisierung bestehender Systeme und deren Autopoesis vorwirft. Habermas vertritt somit eine klare Position hinsichtlich der Emanzipation des Menschen.

Vertreter (alphabetisch)[Bearbeiten]


Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Vgl. Online Übersetzungsprogramm Leo Online: Verfügbar über: [1]
  2. Dieser Gewinn kann u.a. volkswirtschaftlich, sozial oder politisch determiniert sein
  3. Vgl. Hunger, 2003, S.10
  4. Und das obwohl eine höhere Reputation zu erwarten gewesen wäre
  5. Bsp. Simmel oder Luhmann
  6. Vgl. o.A. Artikel Braindrain in Wikipedia: Braindrain
  7. Vgl. Hunger, 2003, S.9
  8. Vgl. o.A. Kreative Klasse im Raum
  9. Vgl. Korte (2004a), Seite 82ff
  10. Vgl. o.A. Artikel "Kritische Theorie" in Wikipedia: Kritische Theorie
  11. Vgl. Kaesler (2003), Seite 630
  12. Vgl. Korte (2004a), Seite 83ff
  13. Vgl. Korte (2004b), Seite 129, 120ff, 134ff
  14. Vgl. Kaesler (2003), Seite 630
  15. Vgl. Korte (2004a), Seite 84ff
  16. Vgl. o.A. Artikel "Kritische Theorie" in Wikipedia: Kritische Theorie
  17. Vgl. Korte (2004a), Seite 91ff
  18. Vgl. o.A. Artikel "Kritische Theorie" in Wikipedia: Kritische Theorie

Prozess der Zivilisation[Bearbeiten]

Anfang und Genese[Bearbeiten]

1977 wurde Norbert Elias (1897 – 1990) in der Stadt Frankfurt am Main der Theodor W. Adorno Preis verliehen und dies, obwohl dieser nicht klassisch zum Horkheimer und Adorno Kreis der Frankfurter Schule gehörte. Dies ist umso ungewöhnlicher, da beide Kreise an derselben Thematik mit dem Schwerpunkt der zu erklärenden Moderne, arbeiteten. Geboren wurde Norbert Elias am 22.06.1897 als bis dahin einziges Kind von Hermann und Sophie Elias im schlesischen Breslau und ist in einer meist sorglosen und behüteten Jugend vor dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen. Den Juden zu jener Zeit ging es gut und man fühle sich relativ sicher. Die sorglose Zeit änderte sich jedoch mit Beginn des Ersten Weltkriegs und Elias meldete sich als Freiwilliger - damals selbstverständlich - zum Kriegseinsatz mit 18 Jahren. Elias Welt änderte sich durch dieses Ereignis, er schreibt in seinen Notizen zum Lebenslauf:

"Der Krieg hat dann alles verändert. Als ich zurückkam, war es nicht mehr meine Welt. (...) Denn ich hatte mich auch selbst verändert" [1]

Es sind jedoch nicht die Geschehnisse über Gewalt und Tod die ihn prägen, sondern die relative Machtlosigkeit des Einzelnen im Gesellschaftsgefüge, eine Prägung die sein ganzes Denken speziell aus soziologischer Sichtweise verändert. Norbert Elias ist somit unter der Erfahrung eines jüdischen Elternhauses mit humanistischer Bildung und harter intellektueller Arbeit mit Selbstdisziplin zu sehen. Elias bekam durch die Wirtschaftskrise die die Rente seines Vaters aufzehrte keine finanzielle Unterstützung mehr und arbeitete in einer Fabrik für Kleineisenteile. Somit lernte Elias nun nach dem Elend des Krieges auch die das Elend der Arbeiterschaft kennen, was ihn deutlich prägte. 1917 studierte er zunächst seinem Vater zuliebe Medizin und ab 1919 Philosophie und er kam schließlich im Sommer 1919 nach Heidelberg, wo er sich endgültig der Soziologie zuwandte.


Die "akademischen Kreise" der damaligen Zeit bestanden aus Historikern sowie Sozialphilosophen, unter anderem kam er mit Talcott Parsons und Alfred Weber in Berührung, aber vor allem mit Karl Mannheim, beide waren beinahe gleichaltrig und befreundet. Elias wurde 1930 sein Assistent und Vermittler zu den Studentenkreisen. Es gab jedoch soziologische Gegensätze zwischen einer idealistischen Position Alfred Webers und im Vergleich dazu materialistischen Position Karl Mannheims, die sich auf dem VI. Deutschen Soziologentag 1928 in Zürich entluden.

Ein Jahr später übernahm Mannheim den Lehrstuhl für Soziologie in Frankfurt, damals Teil des "Instituts für Sozialforschung", wo Max Horkheimer – Mitbegründer der kritischen Theorie – Direktor geworden war. Horkheimer hatte Mannheim einige Räume überlassen, Ziel jener Einrichtung Anfang der 30er Jahre war ein Buch über den Liberalismus. Elias wurde nun endgültig Mannheims Assistent, auch um seine Habilitation zu schreiben. Horkheimer und Mannheim arbeiteten aber inhaltlich kaum zusammen. Mannheim hielt Horkheimer für zu links und Horkheimer Mannheim für zu rechts. Vermittlungsversuche gab es nur zwischen Elias und Leo Löwenthal als sein "Gegenspieler".

Der aufkommende Rassismus der nationalistischen Partei erfuhr hier kein Interesse, sowie auch die anderen Mitglieder des "Instituts für Sozialforschung" keine Beunruhigung wahrnahmen, auch deshalb, weil das im Jahr 1923 gegründete Institut auf die Marxschen Studien zurückgeht, soll heißen, man verhielt sich unproblematisch, unpolitisch und baute keine Opposition auf.

Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 kam aber alles anders, als erwartet. Der Versuch einer parlamentarischen Demokratie war gescheitert. Die neuen "Herren" hatten andere Ideen und bald galten Juden, kritische Intelligenz, explizit die des linken Spektrums als "vogelfrei" und Gejagte. Aus heutiger Sicht gesehen schwer vorstellbar, damals aber Realität war die Tatsache, dass von der nationalistischen Entwicklung viele Menschen - auch diejenigen aus den intellektuellen Kreisen der Universitäten - völlig überrascht wurden; man kann von einer arglosen Gesellschaft im universitären Elfenbeinturm sprechen. Man nahm zwar eine Bedrohung seit Ende der 1920er Jahre wahr, ähnlich dem Unbehagen eines aufziehenden Sturms, diese wurde auch ablehnend diskutiert, ernst genommen wurde sie jedoch zu wenig. Somit war es wohl eine gewisse Blindheit gegenüber den Absichten, Zielen und der schnell voranschreitenden Dynamik einer nationalsozialistischen Bewegung, denen viele Intellektuelle in die Falle gingen. Um dies zu verdeutlichen eignet sich ein Brief von Norbert Elias an Sven Papcke:

"Man diskutierte schon gelegentlich den italienischen Faschismus, aber den Nationalsozialismus unter Hitler nahm man in den akademischen Kreisen, die ich kannte, als politische Bewegung nicht ganz ernst. Weil er vulgär, barbarisch und mit seinen schrillen Stimmen, seiner Philosophie für Halbgebildete, seinen schreienden Symbolen auf Menschen der alten Bildungstradition eigentlich recht fremdartig wirkte,(...)fiel es, soweit ich mich entsinnen kann, niemanden ein, ihn zum Thema soziologischer Veranstaltungen oder Untersuchungen zu machen." [2], [3], [4]

Emigration und Exil[Bearbeiten]

Norbert Elias schaffte es nicht mehr seine Habilitationsschrift "Der höfische Mensch“ - an der er drei Jahre schrieb und sie 1932/33 einreichte - bei Mannheim zu beenden. Ihm fehlte nur mehr die Antrittsvorlesung, dies sollte ihm erst 1969 gelingen. Nach der Machtergreifung am 30.01.1933 musste Elias, Sohn jüdischer Eltern, wie viele seiner sozialwissenschaftlichen Kollegen vor dem Nationalsozialistischen Regime flüchten. Auch er erkannte den Ernst der Lage relativ spät und im Unterschied zum Horkheimer Kreis führte ihn sein Weg nicht nach Übersee, sondern zunächst im März 1933 nach Paris und im Herbst 1935 nach England wo er bis 1960 blieb. Das "Institut für Soziologie" erfuhr das gleiche Schicksal wie das Frankfurter "Insitut für Sozialforschung" und wurde geschlossen. Dessen Direktor Karl Mannheim -von den Nationalisten stark bedroht, da er als linker Machthaber galt und Jude war, ging er ins Exil - wie Elias - nach England und lehrte hier weiter an der "London School of Economics" und später an der "University of London". Er selbst nahm die Gefahr anfangs im vollem Umfang noch nicht wahr und ein Schüler Mannheims berichtet, dass er Mannheim, als er ihn Anfang Februar auf der Straße traf, dieser ihn bat, er solle emigrieren. Daraufhin habe er geantwortet, dass Hitler verrückt sei und sich niemals an der Macht halten könne, was in akademischen Kreisen eine weit verbreitete Meinung war, sich aber bald als Irrtum herausstellte.

Es wurden jedoch nicht alle Soziologen entlassen. Diejenigen, die sich mit dem System arrangierten, konnten weiterhin ihres Amtes walteten. So wurde Helmut Schelsky als "Regimefreund" sogar 1937 Mitglied der NSDAP. Somit gab es Soziologen, die das neue System "begrüßten" und den linken Liberalismus eines Ferdinand Tönnies - der als Vorsitz der "Deutschen Gesellschaft für Soziologie" (DGS, gegründet von Rudolf Goldscheid 1909, bis 1946 aber meist inaktiv) abgesetzt wurde - ein Ende setzen wollten oder auf Kompromisse hofften. So verhielt sich Hans Freyer ambivalent gegenüber dem Dritten Reich und wurde Tönnies Nachfolger. Dieser galt als regimetreu und passte sich dem Sprachgebrauch der Nazis an, weil er es für richtig hielt, wenn wissenschaftliche Begriffe der gesellschaftlichen Realität angepasst werden. Herrschaft wird bei ihm von Führerschaft im Sinne eines kollektiven Volkswillen abgelöst. Somit glaubte er an eine gesellschaftliche Vision ausgelöst durch die Krise am Ende der "Weimarer Republik". Freyer ging 1938 unter den Wirren des aufkommenden Krieges schließlich nach Budapest ins Exil.[5],[6], [7]

Theoretisches Wirken im neuen Umfeld[Bearbeiten]

In England angekommen schreibt Elias in zwei Jahren eine seiner wichtigsten Schriften. Im Lesesaal des britischen Museums in London - gerade in jenem traditionsreichen Raum wo auch Karl Marx "Das Kapital" geschrieben hatte, entsteht sein klassisches Werk „Über den Prozess der Zivilisation (1936)“. Der Anstoß dazu war eine völlig neue Umwelt, eine Sprache die er noch nicht beherrschte, neue Sitten und der Versuch der neuen Schwierigkeiten der Exilierung durch hartes wissenschaftliches Arbeiten zu entkommen. Die Ideen entstanden jedoch auch durch zufälliges Studieren von Benimmbüchern aus verschiedenen Epochen, in denen er einen Prozess der ungeplanten und langfristigen Veränderungen von Gesellschaften erkannte. Elias findet in der Schweiz einen Exilverlag der eine kleine Auflage seines Werkes 1939 druckt, da nach der Besetzung der Tschechoslowakei dies dort nicht mehr möglich war. Aufgrund der deutschen Sprache im angelsächsischen Raum wird das Werk jedoch kaum wahrgenommen und auch am europäischen Kontinent, wo sich der Nationalsozialismus immer mehr ausbreitete, wird Elias durch seine jüdische Abstammung nicht wahrgenommen. Über Wasser gehalten hat er sich durch ein kleines Stipendium einer Flüchtlingsorganisation. Nach bitteren Jahren im Exil in denen er sich auch mit Unterricht in Volkshochschulen in den Londoner Vororten durchschlug, schafft es Elias - bereits 57 jährig - 1954 endlich eine Dozentenstelle am neugegründeten "Department of Sociology" der University of Leicester zu bekommen, wo er bis 1962 unterrichtet. Viele namenhafte Studenten der heutigen Zeit studierten zu dieser Zeit bei Elias, darunter auch Persönlichkeiten wie Anthony Giddens, Martin Albrow oder Eric Dunning. 1963 verlässt Elias England für eine Gastprofessur in Ghana und kehrt schließlich 1965 - 32 Jahre nach seiner Flucht - wieder nach Deutschland als Gastprofessor an der Universität in Münster zurück. Er verbrachte insgesamt ein Drittel seines Lebens im Ausland. [8], [9]

Wirkungsgeschichte der Theorie – Rückkehr nach Europa[Bearbeiten]

Als Gastprofessor an der Universität in Münster war Elias zu dieser Zeit aber noch immer weitgehend unauffällig und sein Werk "Über den Prozess der Zivilisation" hatte aus Gründen wie ein relativ hoher Preis der Leinenausgabe und vor allem durch den Zeitpunkt seiner zweiten Auflage 1969 keinen Namen und blieb ein Geheimtipp unter Kennern. Zu jener Zeit erlebten die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und Westdeutschland im Speziellen durch die intensive Marx-Rezeption in Verbindung mit der "Kritischen Theorie" einen enormen Aufschwung und erlebte ihre Blütezeit. Erst durch das Abfluten dieses historisch materialistischen marxistischen Ansatzes rückt Elias langsam ins Blickfeld der Sozialwissenschaften. 1976 erscheint eine Taschenbuchausgabe die innerhalb weniger Monate (20 000 Exenplare) beinahe ausverkauft ist. Die Nachfrage bleibt bis heute aktuell, sein Werk - mittlerweile in zwanzig Sprachen übersetzt - bleibt ein Bestseller. 1993 erscheint ein dritter Band seiner gesammelten Schriften als eine kritisch durchdachte Ausgabe vor. Seine Kernthese "Über den Prozess der Zivilisation" hatte er bereits in den 30er Jahren konzipiert, damals verkannt - heute mehr als bekannt.[10], [11]

Vertreter (alphabetisch)[Bearbeiten]


Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Vgl. Norbert Elias: Notizen zum Lebenslauf, in: Norbert Elias über sich selbst. Seite 23, zitiert aus Kaesler (2003), Seite 316
  2. Vgl. Sven Papcke, 1986: 188, Anm. 89 zitiert aus Korte (2004b), Seite 134)Vgl. Korte (2004a), Seite 122ff
  3. Vgl. Korte (2004b), Seite 134ff
  4. Vgl. Kaesler (2003), Seite 315ff
  5. Vgl. Korte (2004a), Seite 123
  6. Vgl. Korte (2004b), Seite 125ff, 135
  7. Vgl.Kaesler (2003), Seite 320ff
  8. Vgl. Korte (2004a), Seite 123ff
  9. Vgl. Kaesler (2003), Seite 315ff
  10. Vgl. Korte (2004a), Seite 123ff
  11. Vgl. Kaesler (2003), Seite 315ff

Lebenswelt und soziale Konstruktion der Wirklichkeit[Bearbeiten]

Anfang und Genese[Bearbeiten]

Dieser Abschnitt zur Lebenswelt und zur sozialen Konstruktion der Wirklichkeit könnte ebenso gut unter der Bezeichnung sozial-konstruktivistische- oder phänomenologische Soziologie stehen. Auch Ausdrücke wie (sinn-)verstehende Soziologie oder hermeneutische Sozialforschung stehen thematisch sehr nahe und könnten als gemeinsamer Nenner dienen. Die hier gewählte Bezeichnung verfügt lediglich über einen Vorteil: Sie ist semantisch klarer und für sich selbst sprechender, als die übrigen. Warum dieser theoretische Zugang unter dem übergeordneten Thema „Brain Drain soziologischer Theorien“ zu behandeln ist, hat nicht ausschließlich aber wesentlich mit dem österreichischen Soziologen Alfred Schütz zu tun. Er hat sich dieser Thematik zugewandt, verschiedene Denkansätze aufgegriffen, kombiniert und weitergeführt und dabei ein eigenständiges Paradigma in die soziologische Theorie etabliert. Dieser Prozess vollzog sich keinesfalls geradlinig sondern über eine (Ab-)Wanderung der Schützschen Ideen aus dem deutschsprachigen Raum in die USA (und somit ins Englische) und schließlich über die zunehmende Rezension und eine nachfolgende Schülergeneration wieder zurück nach Europa. Früh verstorben konnte Schütz einen großen Teil der Wanderung seiner Ideen nicht mehr miterleben.
Die soziologische Theorie „an sich“ spielt in dieser Arbeit eine untergeordnete Rolle. Ins Zentrum gerückt werden die beeinflussenden Umfeldbedingungen und die biografischen Umstände, welche die Entfaltung dieser Theorien nachhaltig beeinflusst haben. Ein kompakter Abriss der einzelnen Soziologen und deren Werk und Wirkung kann andernorts in diesem Wikibook gefunden werden. Zur theoretischen Problemskizze sei folgendes gesagt: Die soziale Welt wird von den Menschen, die in ihr Leben oder besser gesagt, von jenen Menschen, die die soziale Wirklichkeit ausmachen bzw. als Kollektiv darstellen, selbst erzeugt und hervorgebracht. Menschliche Akteure konstruieren ihre eigene soziale Wirklichkeit. Dabei ist das Sinnverstehen von zentraler Bedeutung. Intellektuelle Herausforderung ist der Weg vom einzelnen Bewusstsein zu einem Wissen, das dahingehend objektiv ist, dass es intersubjektiv als gültig betrachtet wird. Diese Intersubjektivität ist möglich, weil Menschen in einer gemeinsamen Lebenswelt leben. [1] Man unterstellt den Mitmenschen ein dem eigenen ähnliches Welterleben, wodurch der/die andere einen versteht. Dieses gemeinsame Erleben wird durch gleiche Sinnzuschreibungen und ähnliche Wissensvorräte ermöglicht. Die Soziologie bezeichnet dies als Reziprozität der Perspektiven. Dass diese Reziprozität der Perspektiven zeitlich, räumlich und auch kulturell begrenzt bzw. unterschiedlich ausgeprägt ist, liegt auf der Hand und wird aus eigenen Erfahrungen bekannt sein. Es kann also im Fremdverstehen immer zu Missverständnissen kommen, was eine Überprüfung (Plausibilitätsprüfung) und Anpassung der Perspektiven bedingt. Alfred Schütz spricht in diesem Zusammenhang von ‘Comon Sense’ der sich in den pragmatischen Zusammenhängen des Alltags generiert. Daher gilt auch, dass die Grundstrukturen der menschlichen Erfahrung und der Interaktion sich nicht am besten in der Sphäre der Wissenschaft rekonstruieren lassen, denn sie ist hierfür eine viel zu späte und zu spezifische Kulturerscheinung.
Schütz ist zu einer Generation zu zählen, die sowohl den 1. als auch den 2. Weltkrieg miterleben musste. Als er 1918 aus dem Kriegsdienst zurückkehrt, findet er Wien als von radikalen Umbrüchen, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Inflation u. dgl. geplagte Hauptstadt eines an Größe drastisch geschrumpften Österreichs vor. Eine Umbruchsituation die sich in zahlreichen kulturellen und wissenschaftlichen Bereichen, durch einen Bruch mit traditionellen Stiel- und Denklinien äußert. Z.B. in der Ökonomie durch die Grenznutzenschule, in der Philosophie durch den Neopositivismus des Wiener Kreises oder durch Sigmund Freuds’ Psychoanalyse. [2] An dieser Stelle könnte die Vermutung geäußert werden, dass ein gewisser Verlust an Erwartungssicherheit auch seine fruchtbaren Auswirkungen mit sich bringt. Jedenfalls sehen wir, dass Schütz bereits in jungen Jahren, durch äußere Umstände hervorgerufen, erleben musste, wie seine persönliche Konstruktion der Wirklichkeit drastische Veränderungen erfuhr, sowohl auf gesamtgesellschaftlicher als auch auf individueller Ebene und demnach umgestaltet werden musste. Im späteren Lebensverlauf wird diese Erfahrung durch eine zweifache Emigration, erst nach Frankreich und später in die USA, noch verstärkt. Wir können somit annehmen, dass seine Abhandlungen „Der Fremde“ (1944) und „Der Heimkehrer“ (1945) diese Erlebnisse unmittelbar verarbeiten. Aber auch sein Gesamtwerk kann im Lichte dieser Eindrücke gesehen werden.
1921 beendet Schütz sein rechts- und sozialwissenschaftliches Studium an der Universität Wien und erlangt den Grad eines Doktors der Jurisprudenz. Noch im selben Jahr beginnt er eine berufliche Tätigkeit als Sekretär der Bankvereinigung in Wien. Von nun an bleibt seine wissenschaftliche Betätigung beinahe Zeit seines Lebens, also auch im Exil, auf die übrige Zeit neben der beruflichen Pflichterfüllung beschränkt. Das wissenschaftliche Schaffen und Publizieren muss von chronischem Zeitmangel geprägt gewesen sein. Dies äußert sich in der Tatsache, dass Schütz neben zahlreichen, verstreut erschienen Aufsätzen lediglich ein Buch selbst zur Veröffentlichung bringt: „Der Sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“. Neben diesen Arbeiten bilden zwei posthum veröffentlichte Manuskripte über „Das Problem der Personalität in der Sozialwelt“ und zum „Problem der Relvanz“ die Grundlage für seine Analyse der Lebenswelt. [3] Über die Frage, warum Schütz keine Habilitation und somit keine akademische Karriere angestrebt hat, kann eigentlich nur gemutmaßt werden. Dennoch ist anzunehmen, dass bereits vor der Machtübernahme der Nazis in Österreich eine gewisse antisemitische Selektion bei der Verleihung der Professorenwürde betrieben wurde. Dies führt dann zur logischen Konsequenz, dass bei manchen Anwärtern/Innen Habilitationsabsichten erst gar nicht entstehen. [4]
Theoretischen Ausgangspunkt für Schütz bildet Max Weber, der als gegenständlichen Bezugspunkt der verstehenden Soziologie „soziales Handeln“ postuliert. Also Handlungen mit denen Handelnde einen subjektiven Sinn verbinden, Handlungen, die sich auf das Verhalten anderer beziehen und ihren Ablauf daran orientieren. [5] Schütz verleiht seinem sinnhaften Aufbau den Untertitel „Eine Einführung in die verstehende Soziologie“. Dies legt den Schluss nahe, dass Schütz seine Arbeit als unmittelbar an Weber angrenzend betrachtete.
Webers Ansatz kombiniert Schütz mit volkswirtschaftlichem Gedankengut der Österreichischen Grenznutzentheorie. In diesem Kontext ist vor Allem Ludwig Mises zu erwähnen, dessen Privatseminar Schütz nach seiner Universitätsausbildung einige Jahre besucht. Handlungen seien nach Mises Mittel- und Zweck- orientiert und wissenschaftlich müsse von Handlungen Einzelner ausgegangen werden. Die Zeitpräferenz spiele als Element des Handelns und um soziale Prozesse begreifen zu können eine wesentliche Rolle. Mises erblickt das Wesen des Handelns im Vorziehen und Zurückstellen. Das Wichtige werde dem Wenigerwichtigen vorgezogen. Um den Sinn von Handlungen zu erfassen, müsse man den Sinn der Zielsetzungen erfassen und hier gerät die Konzeption an ihre Grenzen, insofern der subjektive Sinn dem wissenschaftlichen Verstehen unzugänglich ist. Die objektive Erfassung subjektiver Wertorientierungen könne somit ausschließlich a priori bzw. vernunftwissenschaftlich erfolgen. [6] Auf dieser von Mises und Weber vorgelegten mikrosoziologischen Basis versucht Schütz eine eigenständige theoretische Perspektive zu realisieren oder zutreffender formuliert versucht er eine philosophische Grundlegung dieser Ansätze zu liefern. Der Sinn, den Menschen ihren Handlungen und der Wirklichkeit zuschreiben, entsteht aus den Handlungen selbst. Diesen Zusammenhang zu durchleuchten, auch in methodischer Hinsicht, kann bei Schütz als zentrales Anliegen erkannt werden. Als Vehikel dienen ihm dabei die pragmatisch orientierte Lebensphilosophie von Henri Bergeson sowie die Phänomenologie Edmund Husserls, die die Konzeption seines frühen Hauptwerkes „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ maßgeblich beeinflusste. [7]
Henri Bergeson zählt zu den führenden französischen Philosophen des 20. Jhdts. und war in Wien nach dem 1. Weltkrieg ein viel gelesener Autor. Bergeson entwickelt eine Art Theorie der Struktur des Bewusstseins. Der Mensch sieht sich in der Orientierung im unablässigen Geschehensfluss zwischen Instinkt und Intellekt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her gerissen. Die menschliche Existenz ist instabil und unsicher, der Mensch muss wählen und bewirken. [8] Wenn auch keine Analogie zu Schütz, so sehen wir bei Bergeson doch die Auseinandersetzung mit einigen zentralen Begriffen (z.B. Raum und Zeit), die Schütz hinsichtlich deren lebensweltlicher Struktur in seinem sinnhaften Aufbau der sozialen Welt beschäftigen. Die Problematik in der Erfassung des subjektiven Sinnes wurde oben bereits erwähnt. Dennoch sieht Schütz eine verstehende Soziologie auf eine adäquate Rekonstruktion subjektiver Sinnsetzungen angewiesen. Hierbei erscheint ihm Husserls Phänomenologie als geeignetes methodisches Instrumentarium.
Husserl beabsichtigte mit seiner Phänomenologie, die Philosophie aus einer Krise in der er sie sah, herauszuführen und als strenge Wissenschaft neu zu begründen. Auch Husserl war jüdischer Herkunft und bekam dies im zweiten Weltkrieg zu spüren. Er wird 1933 von seiner Professorenstelle beurlaubt, später (1937) sogar aus Freiburg vertrieben. Wissenschaftlich fordert Husserl bei der Analyse von Problemen den Fokus auf das was die Dinge an sich sind, zu richten. Dabei spielt das Bewusstsein in seiner Gerichtetheit auf einen Gegenstand (Sachverhalt) eine entscheidende Rolle (Intentionalität). Alle Akte des Bewusstseins sind sinnstiftend und konstituieren oder konstruieren erst Gegenstände oder Sachverhalte und somit die Wirklichkeit. [9] Die phänomenologische Konstitutionstheorie Husserls ordnet der Einheit des subjektiven Sinns eine Genese zu. Somit lässt sich der Aufbau der sozialen Welt in die immanenten Schichten subjektiver Sinnorientierung zurückverfolgen und das Problem des adäquaten Sinnverstehens gewinnt eine zeitliche Dimension. Hierbei führt Husserl den Begriff der Reflexion ein, welchen Schütz ebenso verwendet. Denn das ursprüngliche Erlebnis unterscheidet sich von der Reflektierten Form dieses Erlebnisses, nicht nur durch die zeitliche Differenz zwischen aktuellem Vollzug und nachträglicher Erfassung sondern auch, weil im Zuge des reflexiven Deutungsprozesses auf intersubjektiv konventionalisierte Sinnzuschreibungen (Typisierungen) zurückgegriffen werden muss. Schütz sieht demnach die Sozialwissenschaften auf das zentrale Problem der Typisierung verwiesen. [10] Ein weiterer Begriff, den Schütz und Husserl gemeinsam verwenden ist jener der Lebenswelt bzw. der Lebensweltanalyse. Husserl fordert in seinen späteren Werken eine Ontologie der Lebenswelt rein als Erfahrungswelt. Während dieser Ansatz bei Husserl das Entwurfstadium nicht verlassen hat, liefert Schütz’ Lebenswelttheorie hierbei detaillierte Analysen. [11] „Die Lebenswelt ist eine intersubjektiv geteilte Welt, ein Wissensvorrat, bestehend aus Typisierungen, Fähigkeiten, wichtigen Kenntnissen und Rezepten zum Betrachten und Interpretieren der Welt und zum Agieren in dieser Welt.“ [12] Wichtig ist es an dieser Stelle, einem gängigen Missverständnis vorzubeugen. Die Begriffe Lebenswelt und Alltagswelt sind keinesfalls Synonym zu verstehen. Die Lebenswelt umfasst alle möglichen Sinnbezirke, die vom Bewusstsein erfasst werden können, sie bildet den umfassenden Sinnhorizont für die mannigfaltigen Wirklichkeiten. Die Lebenswelt des Alltags ist hingegen nur eine Ordnung innerhalb dieses umfassenden Sinnhorizonts der Lebenswelt. Dennoch erfährt die Alltagswelt in vielerlei Hinsicht eine besondere Bedeutung. Mit der Veröffentlichung des sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt (Frühjahr 1932) in Wien gewinnt Schütz Zugang zur phänomenologischen Bewegung und zu ihrem Begründer Edmund Husserl. In den folgenden Jahren finden mehrmals persönliche Treffen zwischen Schütz und Husserl statt. Eine nachhaltige Wirkung des sinnhaften Aufbaus bleibt jedoch vorerst aus. [13] In Europa bedarf es hierfür noch einiger Jahre und des Umweges über das Exil in Amerika.

Emigration und Exil[Bearbeiten]

Im März 1938 erfolgte der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich und nur wenige Tage später wurde der Anschluss Österreichs an das Dritte Reich verkündet. Die Machtergreifung der Nazis in Deutschland und schlussendlich auch in Österreich brachte für Sozialwissenschaftler und somit auch für Soziologen eher ungünstige Forschungsbedingungen mit sich, insbesondere wenn diese, so wie Schütz, jüdischer Abstammung waren. Bereits 1933 urteilte Mises über die Lage: „Wahrscheinlich werde, wenigstens für eine Generation lang, jede intelligente Wirtschaftsforschung unmöglich werden, und die Nazis würden ihre eigenen ökonomischen Theorien entwickeln, die auf falschen Prämissen errichtet seien. [14] Diese Einschätzung ist leider sehr realistisch und zutreffend. Der (sozial-)wissenschaftliche Schaden, den das Dritte Reich in der europäischen akademischen Landschaft angerichtet hat, kann kaum eingeschätzt werden. Was hier für Europa als Schaden bezeichnet wird stellt natürlich auf der anderen Seite des Atlantiks einen Gewinn bzw. eine Bereicherung dar und wie wir in den Bedingungen zur Emigration in die USA ausführlich dargestellt haben, befanden sich dort für Soziologen die eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen wollten grundsätzlich offenere Strukturen und eine wesentlich besser ausgeprägtes Selbstverständnis für das Fach an sich. In Zahlen ausgedrückt lässt sich sagen, dass z.B. in Wien 75% der soziologischen Universitätsabsolventen ins Ausland Emigrierten. In Frankfurt gar 81%, Heidelberg 70% und in Kiel und Freiburg immerhin über 50%.[15] In sehr vielen Fällen hielten sich die betreffenden Personen ohnehin bereites im Ausland auf (meist im Zuge eines amerikanischen Stipendienprogramms) und beschlossen dann spontan, auf Grund der veränderten politischen Lage, (zumindest vorerst) nicht mehr zurückzukehren.
Alfred Schütz hält sich zur Zeit des deutschen Truppeneinmarsches in Österreich geschäftlich in Frankreich (Paris) auf und wohnt bei Aron Gurwitsch. Dieser rät ihm auf Grund seiner jüdischen Herkunft, nicht nach Wien zurückzukehren. Schütz folgt diesem Rat und verbringt die folgenden 16 Monate in Paris. Seiner Frau Ilse und den beiden Kindern gelingt es sehr bald, Österreich zu verlassen und ebenfalls nach Paris zu kommen. In Paris lernt Schütz einige bedeutende Phänomenologen dieser Zeit kenn. Zu erwähnen sind Paul Ludwig Landsberg, Jean Wahl, Maurice Marleau-Ponty und Raymond Aron. [16] Dieses erste Exil endet kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges und mündet direkt in das zweite, wesentlich länger andauernde Exil der Familie Schütz. Am 14. Juli 1939 verlässt die Familie Paris und siedelt in die USA, nach New York. Sowohl der Aufenthalt in Paris als auch die Emigration nach New York waren für Schütz nicht nur politische Erwägungen. Beiden Reisen war auch eine berufliche Notwendigkeit inhärent, was eine durchgehende finanzielle Unabhängigkeit ermöglichte und existentielle Engpässe vermied.

Theoretisches Wirken im neuen Umfeld[Bearbeiten]

Schütz bringt durchaus Vorkenntnisse über das soziologische und philosophische Diskussionsfeld in Amerika mit. Er beginnt in weiterer Folge, diese Kenntnisse kontinuierlich zu erweitern. Insbesondere die Bedeutung des pragmatischen Motivs für die Analyse der Sinnstrukturen der sozialen Wirklichkeit zieht sich durch sein Werk und äußert sich in entsprechenden Bezügen auf Georg Herbert Mead, William James und John Dewey. [17] Vor allem William James stellt für Schütz einen möglichen Anknüpfpunkt dar. Schütz kannte die Korrespondenz zwischen James und Bergeson ebenso, wie die Bewunderung Husserls’ für James. Noch 1939 beginnt er mit der Arbeit an der Abhandlung „ William James’s Concept of the Stream of Thought“, auch war es ihm ein Anliegen, die in den USA so gut wie unbekannten Gedanken Husserls’ zu etablieren. Grundsätzlich gelingt es Schütz relativ schnell in den USA wissenschaftlichen Anschluss zu finden, insbesondere eben zu dem kleinen Kreis amerikanischer Phänomenologen um Marvin Faber und Dorion Cairns, die er beide aus dem Freiburger Husserl-Kreis kennt. Hat Schütz im Juli 1939 erstmals amerikanischen Boden betreten, beteiligt er sich bereits Ende dieses Jahres an der Gründung der „International Phenomenological Society“ und wird Mitglied ihres Councils. Auch unterstützt er ab 1940 die Herausgabe der neu gegründeten Zeitschrift „Philosophy an Phenomenological Research“. [18]
Talcott Parsons, der 1937 „The Structure of Social Action“ veröffentlicht, muss ebenso erwähnt werden. Es ist wohl anzunehmen, dass dazumal Parsons’ voluntaristische Handlungstheorie ein zentraler Punkt der sozialwissenschaftlichen Diskussionen insbesondere in Amerika war, als gesichert kann gelten, dass sich Alfred Schütz dafür interessierte. Schütz war bereits 1938 ein Exemplar dieses Buches zugesandt worden, welches er eingehend studierte und zugleich bewunderte. Nachdem er Europa verlassen hatte verfasste er eine der frühesten Rezensionen über „The Structure of Social Action“. Im April 1940 wird Schütz eingeladen, vor der Interdepartment Conference of Harvard University einen Vortrag zum Thema „The Problem of Rationality in the Social World“ zu halten. Dabei kommt es zu einer persönlichen Begegnung zwischen Schütz und Parsons und auch zu einer willkommenen Gelegenheit für Schütz, sich mit der amerikanischen Behandlung der Theorie und Methodologie der Sozialwissenschaften vertraut zu machen, und andererseits einen eigenen Beitrag zu präsentieren. [19] Nachdem Schütz sein Manuskript zu Parsons „The Structure of Social Action“ diesem zum Lesen übermittelt hatte, begann im Herbst eine in Briefform stattfindende Korrespondenz zwischen Schütz und Parsons. Leider muss diese Diskussion als eher unergiebig bzw. gänzlich unausgegoren angesehen werden, was bei derart komplexer Materie, der räumlichen Distanz zwischen Schütz und Parsons, der Reduktion auf die Schriftform und nicht zuletzt sprachlichen sowie kulturellen Barrieren verständlich erscheint. Sowohl Schütz als auch Parsons beklagen in ihren Briefen, dass der jeweils andere einen nicht verstehe. Schützt weist Parsons darauf hin, dass „The Structure of Social Action“ bereits für Menschen deren Muttersprache Englisch ist, sehr schwer zu lesen sei und räumt ein, dass es durchaus möglich sei, dass ihm dort oder da der eigentliche Sinn verborgen bliebe. [20] An anderer Stelle äußert Schütz die Vermutung, dass die Begriffe „Methodologie“ und „Epistemologie“ in Amerika in viel engerem Sinne gebraucht würden als etwa im deutschsprachigen Raum, ebenfalls ein missverständlicher Punkt zwischen Schütz und Parsons. [21] Die wissenschaftlichen Fronten zwischen Schütz und Parsons sind sehr schnelle herausgestellt, dennoch kommt es zu keiner konstruktiven Aufarbeitung und der Kontakt zwischen den beiden bricht schließlich ab. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass Parsons voluntaristisches Paradigma, zum Strukturfunktionalismus ausgebaut, einen dominanten Platz in der soziologischen Diskussion der weiteren zwei Jahrzehnte einnehmen wird. Insofern hat Schütz ein schweres Los gezogen, mit seinen (davon abweichenden) Ideen und Ansätzen, genau zu dieser Zeit in den USA das akademische Milieu betreten zu haben.
Schütz war zwar nie Stipendiat der Rockefeller Foundation, dennoch kamen ihm die günstigeren Bedingungen in den amerikanischen Universitäten zu gute. Auch der bereits mehrfach erwähnte Umstand, dass in den USA ein ganz anderes Selbstverständnis über die Soziologie als anerkanntes akademisches Fach herrschte, kann nicht als Nachteil gewertet werden. In diesem Kontext gelingt Schütz neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit auch die institutionelle Anbindung im universitären Milieu. Ab 1943 übt Schütz eine Lehrtätigkeit an der 1933 von Alvin Johnson für europäische Exilanten gegründeten „Graduate Faculty“ der „New School for Social Research“ in New York aus. Die „Graduate Faculty“ hat es zu einer gewissen Berühmtheit geschafft und entwickelt sich zu einem der produktivsten Auffangbecken für vertriebene europäische Intelligenz, in dem europäische geisteswissenschaftliche Tradition fortgeführt wird. 1944 wird Schütz an der „New School“ zum Visiting Professor und 1952 zum Full Professor für Soziologie und Sozialpsychologie ernannt. Ab 1956 unterrichtet Schütz sowohl am „Sociologie Department“ als auch am „Philosophy Department“ der New School. [22] Im Zuge seiner Lehrtätigkeit bildet sich ein Kreis von Studenten heraus, die Schütz’s Veranstaltungen regelmäßig besuchen und auf die er einen starken Einfluss ausübt. Zu ihnen zählen Thomas Luckmann, Peter L. Berger und Maurice Natanson. Alle drei, jedoch besonders Luckmann werden in weiterer Folge Schütz’ Ansatz aufgreifen und diesem zu einer angemessenen Reputation verhelfen. 1957 zeigen sich bei Schütz erste Anzeichen gesundheitlicher Probleme. Er realisiert, dass es ihm nicht vergönnt sein wird, eine zusammenfassende Darstellung seiner Lebenswelttheorie, für die er den Titel „Strukturen der Lebenswelt“ wählt, fertig zu stellen. Er arbeitet jedoch eine exakte Gliederungsstruktur aus und hinterlässt neben mehreren Notizbüchern, in denen er die Inhalte stichwortartig ausführt, genaue Anweisungen über die Fertigstellung seiner Arbeit. Im Mai 1959 stirbt Alfred Schütz, Todesursache sind Herzprobleme auf Grund eines zuvor unerkannt gebliebenen Infarktes. Das Werk das Alfred Schütz hinterlässt, ist also zum Teil nur fragmentarisch vorhanden.

Wirkungsgeschichte der Theorie – Rückkehr nach Europa[Bearbeiten]

Das bekannte Sprichwort: „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“ bewahrheitet sich an der Person Alfred Schütz nur zu gut. Der Verlust einer derartigen soziologischen Kapazität an die USA lässt sich zudem nicht auf diese eine Person reduzieren, denn auch der unmittelbare Wirkkreis, die unmittelbaren theoretischen Anstöße und Impulse, die ersten Rezeptionen und eine Reihe an Forschern, die von Schütz inspiriert seine Ansätze Weiterentwickeln und sein begonnenes Werk vorantreiben bzw. vollenden, all diese Aspekte müssen als verlorenes Potential berücksichtigt werden. Aber auch in Amerika vergehen einige Jahre, bis die Idee von der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit zum soziologischen Mainstream avanciert. Wie weiter oben bereits angedeutet muss in den 1940er und 1950er Jahren in der Soziologie von einer Dominanz der Theorien Talcott Parsons gesprochen werden. Er versucht die Funktion hinter den normativen Strukturen aufzuzeigen, die einen Zwang auf das Individuum ausüben. Dennoch setzt sich im Laufe der Zeit immer mehr eine kritische Gesinnung gegenüber der Dominanz Parsons in den soziologischen Diskussionen durch, bis schließlich von einer neuen Ära bzw. einem Paradigmenwechsel in der soziologischen Theorienlandschaft gesprochen werden kann, so dass eine verstärkte Auseinandersetzung und Rezeption von Alfred Schütz stattfindet. Es wechselt der Fokus von der Funktion hinter den normativen Strukturen, hin zum wesentlichen Sinn, den verschiedene Lebensmuster und die Vorgänge gemeinsam haben, nach denen die Menschen diesen Sinn herstellen.
Es wäre übertrieben zu behaupten, dass Schütz Zeit seines (viel zu kurzen) Lebens keine wissenschaftliche Reputation in soziologischen und philosophischen Kreisen erfahren hätte, aber die gravierende Tragweite seiner Gedanken für die soziologische Theorie blieb weitgehend unerkannt. Der Verlauf seiner (in diesem Aufsatz letztlich ausführlicher als ursprünglich angedacht dargestellten) Biografie und die damit einhergehende zerstreute sowie auf zwei Kontinente und Sprachräume verteilte Publikationstätigkeit spielt dabei sicherlich eine entscheidende Rolle. 1932 erscheint „Der sinnhafte Aufbau der Realität“ im Wiener Springerverlag. Erst 1960 erfolgt eine Neuauflage und 1967 die Übersetzung ins Englische. „Der sinnhafte Aufbau der Realität“ ist das Resultat einer 12 jährigen intensiven Forschungstätigkeit und gewissermaßen das Fundament, in dem Schütz die meisten seiner zentralen wissenschaftlichen Anliegen, die ihn Zeit seines Lebens beschäftigen sollten, bereits angelegt und umrissen hatte. Dennoch erfährt dieses Werk im deutschsprachigen Raum sehr wenige Rezensionen und geht schließlich in den politischen und militärischen Wirren des 2. Weltkrieges mehr oder minder unter. In englischer Sprache liegt dieses Werk erst 35 Jahre nach dessen Erstveröffentlichung vor, wobei Schütz bereits 8 Jahre nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Was zur Einleitung einer angemessenen Rezeptionsphase neben der Übersetzung des sinnhaften Aufbaus ins Englische ebenso unerlässlich ist, ist die Veröffentlichung von Schütz’ „collected papers“ durch seine Frau Ilse Schütz. Diese Publikationen erfolgen 1962, 1964 und 1966 und ermöglichen gemeinsam mit dem sinnhaften Aufbau erstmals einen Blick auf das weit verstreut publizierte Werk, allerdings vorerst nur in englischer Sprache. (Die gesammelten Werke erscheinen 1971 und 1972 in deutscher Sprache was zugleich die Rezeption Schütz’ Werk im deutschen Sprachraum einleitet.) Im Anschluss an diese Publikationen formiert sich die Argumentationsfront gegen den Strukturfunktionalismus zu der Soziologen wie Natanson, Berger und Luckman, in weiterer Folge Harold Garfinkel, Kurt H. Wolff, Tamotso Shibutani, und Erving Goffman zu zählen sind. [23] Thomas Luckmann ist für das Thema „Brain Drain soziologischer Theorien“ in mehrfacher Hinsicht relevant. Zum einen wegen seiner Biografie, die ihn ebenso von Europa nach Amerika (und schließlich wieder zurück) führt und zum anderen wegen seines theoretischen Wirkens, im Zuge dessen er das unvollendete Werk Schütz’ fertig stellt und seine eigenen Konzepte zur Protosoziologie auf diesem Fundament errichtet. Luckmann wird 1927 in Jesenice (Slowenien) geboren. Seine Mutter ist slowenischer Abstammung während sein Vater Österreicher ist. So wächst Luckmann zweisprachig auf und lernt von Kindesbeinen an, die Welt in verschiednen Wirklichkeitskonstruktionen zu betrachten. Während des Zweiten Weltkrieges wird Slowenien von Hitlerdeutschland annektiert und der Ostmark eingegliedert, Luckmann wird dadurch formell deutscher Staatsbürger und natürlich auch wehrpflichtig. Er wird direkt von der Schule zu den so genannten Flakhelfern bei einer Flugzeugabwehr-Batterie im Wienerwald eingezogen. [24] Nach dem Krieg macht Luckmann seine Matura nach und beginnt in Wien zu studieren. Österreich war in Besatzungszonen geteilt und Luckmann Inn- und Ausländer zugleich, was die Studienbedingungen nicht gerade verbesserte, und so kam das, was kommen musste, Luckmann entschließt sich nach Amerika auszureisen wo er letztlich an der "New School" als Student von u.a. Alfred Schütz landet und auch Bekanntschaft mit Peter L. Berger macht.
Luckmann wird schließlich von Ilse Schütz beauftragt die fragmentarisch ausgeführte Darstellung der Schütz’schen Lebenswelttheorie zu vollenden. So erscheinen 1979 und 1984 die zwei Bände zu den "Strukturen der Lebenswelt", in denen Schütz und Luckmann das entfalten, was gemeinhin als Konstitutionsanalyse der Lebenswelt bezeichnet wird. Die Lebensweltanalyse stellt die Beschreibung allgemein menschlicher Universalien (z.B. die Zeitlichkeit), jenseits bzw. vor jeder Kultur dar. [25] In den Strukturen der Lebenswelt bleibt natürlich das philosophische bzw. phänomenologische Element dieses soziologischen Ansatzes enthalten, jedoch tritt auch deutlich eine anthropologische Sichtwiese hinzu. Eine phänomenologische Konstitutionsanalyse und eine erfahrungswissenschaftliche Rekonstruktion menschlicher Wirklichkeitskonstruktionen ergänzen sich dabei. „Einerseits ist der Mensch mit seinem Körper Natur, zugleich besitzt er aber Geist, ein Selbst, und damit ein von der Natur verschiedenes und unabhängiges, ihr sogar entgegenstehendes Prinzip. Aufgrund dieser naturgegebenen Existenzform, seiner Instinktreduktion und der daraus sich begründenden ‘Weltoffenheit’ ist das biologische ‘Mängelwesen’ zur Ausbildung einer ‘zweiten Natur’ gezwungen. [26] Mit der Lebensweltanalyse leiten Schütz und Luckmann auch eine Trendwende in der Wissenssoziologie ein. Während die klassische Wissenssoziologie ihre Untersuchungen primär als eine Analyse weltanschaulichen und wissenschaftlichen Wissens betreiben, lenken Schütz und Luckmann (unterstützt durch wesentliche Impulse aus dem symbolischen Interaktionismus) deren Augenmerk erstmals auf das Alltagswissen der Handelnden. Unser gesamtes Wissen von der Welt enthält Konstruktionen, alle Tatsachen sind immer schon interpretierte Tatsachen und die Tatsachen tragen ihren interpretativen inneren und äußeren Horizont mit sich, da wir jeweils bloß bestimmte ihrer Aspekte erfassen, sofern sie für uns relevant sind. [27]
Auch Peter L. Berger muss im Kontext der Schützrezeption und auch im Zusammenhang mit dem Brain Drain soziologischer Theorien erwähnt werden. Ebenso wie Luckmann ist auch Berger in Österreich, jedoch als Sohn einer jüdischen und zum Protestantismus konvertierten Familie geboren und nach Amerika ausgewandert. Beide treffen sich an der "New School", studieren bei denselben Lehrern (u.a. Schütz) und entdecken ihre Übereinstimmung in fundamentalen wissenschaftlichen Fragen. Dennoch sind weder Luckmann noch Berger als „abgewandertes Wissen“ oder „verloren gegangenes Potential“ zu betrachten. Eher könnte man sagen, dass sie es waren, die das verlorene Wissen wieder heimgeholt haben. Luckmann und Berger können vereinfacht als Botschafter des Schütz’schen Ansatzes bezeichnet werden. Dies trifft sowohl in geografischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht zu. 1963 erscheint Berger’s „Einladung zur Soziologie“ als deutschsprachige Übersetzung, die konsequent entlang der Alltagserfahrung konzipiert ist. [28] Gemeinsam verfassen Luckmann und Berger die berühmt gewordene Schrift „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“, die eine Synthese zwischen Herbert Meads symbolischem Interaktionismus und der phänomenologischen Fundierung einer Strukturanalyse der Lebenswelt darstellt. Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit erscheint 1969 als deutschsprachige Auflage und spätestens ab diesem Zeitpunkt ist die Relevanz und Fruchtbarkeit Alfred Schütz’ für die Soziologie auch in Europa unbestreitbar. Die beiden eben genannten Werke ermöglichen auch die Karriere einer qualitativen Sozialforschung, zu deren wesentlichen Anregungspolen das Werk von Schütz nach wie vor zählt. Im Zuge dieser Publikation etabliert sich ohne Intension der Autoren der Begriff des ‘Sozialkonstruktivismus’, der jedoch nicht mit einem (radikalen) Konstruktivismus im Sinne einer wissenschaftstheoretischen Richtung verwechselt werden darf. Es geht also nicht um die Behauptung alles sei (aus lediglich einem Prinzip wie beispielsweise der Kommunikation heraus) konstruiert oder gar konstruierbar. Es geht viel mehr um die Frage: Wie kann aus subjektiven menschlichen Erfahrungen eine objektive Welt sozialer Tatsachen hervorgehen? Die Wissenssoziologie rückt dabei ins Zentrum einer neu ausgerichteten Handlungs- und Gesellschaftstheorie. [29]
Jürgen Habermas liefert 1967 in seiner Schrift „Zur Logik der Sozialwissenschaften“ erstmals im deutschen Sprachraum eine unabhängige und systematische Rezeption der Arbeiten von u.a. Schütz sowie Berger und Luckmann. Er macht dabei wirkkräftig auf die interpretative alltags- und sprachsoziologische Wende in der Soziologie aufmerksam. Weiter Anregungen liefert die phänomenologische Fundierung verstehender Soziologie von Schütz für die Ethnomethodologie Garfinkels, für diverse interaktionsanalytische Ansätze (Goffman, Blumer) und für die kognitive Soziologie Cicourels. [30] Martin Endreß sieht im Wesentlichen vier Tendenzen in der gegenwärtigen Diskussion der soziologischen Theorie, die dem Werk von Schütz aktuelle Relevanz verleihen. (1) Der Einfluss in die aktuellen spiel- und entscheidungstheoretischen Konzeptualisierungen in der Soziologie (ausgehend von Schütz Orientierung an der Grenznutzenschule). (2) Die erneute Ausrichtung der theoretischen Diskussion der Soziologie am Handlungsbegriff (das pragmatische Motiv, das den Einzelnmenschen in seinen Bemühungen, mit der Welt in seiner Reichweite zurechtzukommen, leitet). (3) Die gegenwärtige Renaissance von Autoren des klassischen angelsächsischen Pragmatismus (Peirce, James, Mead, Dewey) und (4) eine zunehmende Bedeutung oder gar Priorität der Zeitdimension für das Verständnis sozialer Phänomen (Schütz konzeptualisiert das Sinnproblem als ein Zeitproblem). [31]

Vertreter (alphabetisch)[Bearbeiten]

Berger, Peter L.
Garfinkel, Harold
Garthoff, Richard
Luckmann, Thomas
Natanson, Maurice
Schütz, Alfred
Srubar, Ilja
Wolff, Kurt H.


Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. vgl. Münch (2003): S. 191f.
  2. vgl. Welz (1996): S. 118ff.
  3. vgl. Endreß in Kaesler (2006): S.340f.
  4. vgl. Fleck (2007): S. 214ff.
  5. vgl. Weber (1972): S.1.
  6. vgl. Endreß (2006): S.32ff.
  7. vgl. Endreß (2006): S.14f.
  8. vgl. Russel (2007): S.806ff.
  9. vgl. Schnettler (2006): S47ff.
  10. vgl. Endreß (2006): S.37ff
  11. vgl. Welz (1996): S. 199ff.
  12. Münch (2003): S. 201.
  13. vgl. Endreß (2006): S.15f.
  14. vgl. Fleck (2007): S. 172.
  15. Fleck (2007): S. 207.
  16. vgl. Endreß (2006): S.16.
  17. vgl. Endreß (2006): S.28.
  18. vgl. Endreß (2006): S.17.
  19. vgl. Schütz / Parsons (1977): S. 15f.
  20. vgl. Schütz / Parsons (1977): S. 112.
  21. vgl. Schütz / Parsons (1977): S. 114f.
  22. vgl. Endreß (2006): S.17f.
  23. vgl. Endreß (2006): S.128.
  24. vgl. Schnettler (2006): S18ff.
  25. vgl. Schnettler (2006): S77ff.
  26. vgl. Plessner in Schnettler (2006): S82.
  27. vgl. Schütz in Endreß (2006): S.101.
  28. vgl. Schütz in Endreß (2006): S.129.
  29. vgl. Schnettler (2006): S86ff.
  30. vgl. Endreß (2006): S.130
  31. vgl. Endreß in Gabriel (2004): S 223f.

Sozialforschung, Sozialstruktur, Organisation[Bearbeiten]

Anfang und Genese[Bearbeiten]

  • Einleitung

Für Heinz Hartmann galt Paul Lazarsfeld als ein Superstar unter den Soziologen. Und bald schon nach seinem Tod im Jahre 1976 zählte er zu den Klassikern der Soziologie. Winfried Lerg bezeichnete ihn auch als den Gründervater der modernen Kommunikationsforschung. Auch für Christian Fleck ist er eine bedeutende Persönlichkeit. Er handelt Lazarsfeld als bedeutendste Person bei der Entstehung der empirischen Sozialforschung. Nach Max Weber spricht ihm Fleck den höchsten Status der Anerkennung zu. Auch bei den Kategorien Sichtbarkeit und Produktivität ist er in den ersten Reihen. Aus diesem Grund dreht es sich in diesem Kapitel ausschließlich um Paul Lazarsfeld.[1][2]

  • Drei Umstände für den Beginn

Für Lazarsfeld waren nach seinen autobiografischen Aufzeichnungen zu Folge drei Umstände in Wien für die weitere Entwicklung ein Anstoß. Erstens war es das politische Klima in der damaligen Zeit. Zweitens sein Interesse an der damaligen Psychologie. Und abschließend die Beschäftigung mit der sogenannten Erklärung.

Sein politisches Interesse galt dem Sozialismus, der allerdings in Wien im Rückgang war. Er fand dafür auch eine Erklärung. So braucht gemäß Marx eine Revolution vor allem den wirtschaftlichen Nährboden. Eine erfolgreiche Revolution benötige Ingenieure wie die Sowjetunion. Schließlich braucht eine fehlgeschlagene Revolution die Psychologie wie in Wien.

Während seines Studiums wurde sein sozialwissenschaftlich entscheidend durch zwei Personen gewendet, die an die Wiener Universität berufen wurden. Es handelt sich um Charlotte und Karl Bühler, deren Beiträge die experimentelle Psychologie stark veränderten. Dort konnte Lazarsfeld, der in angewandter Mathematik schließlich promovierte, Vorlesungen über die Statistik halten. Allmählich weitete er seine Arbeit an der Universität aus und wollte schließlich eine eigene Abteilung für Sozialpsychologie gründen. Er erhoffte sich dabei Forschungsaufträge durchführen zu können. Schließlich entstand dann ein unabhängiges Forschungszentrum, als deren Präsident Karl Bühler vorstand. Lazarsfeld kümmerte sich um die angewandten Studien. Gleichzeitig veröffentlichte er Arbeiten über Statisik.[3]

  • Die Arbeitslosen von Marienthal als Auslöser

Im Jahr 1930 begann Lazarsfeld mit der Studie über die Arbeitslosen in einem Dorf südlich von Wien. Diese Arbeit hatte die Rockefeller-Stiftung mit Sitz in Paris auf ihn auf aufmerksam gemacht. Aufgrund der Qualität erhielt nun Lazarfeld ein Stipendium für die USA. Im Jahr 1934 wurde die Verfassung in Österreich geändert und der Faschismus zog ein. Daraufhin verlor er seine Arbeitsstelle als Lehrer im höheren Schulwesen, nur die Anstellung an der Universität blieb erhalten. Das war vorteilhaft für die Verlängerun seines Stipendiums in den USA. Aber selbst nach Ablauf dieser versuchte er 1935 in den USA zu bleiben. Über Robert Lynd an der Columbia University erhielt er eine Arbeitsstelle. Bereits im Jahr 1936 übernahm er eine neu angelegte Forschungsstelle dieser Universität, das nach dem Muster des Instituts in Wien ausgerichtet war. Im Auftrag der Rockefeller-Stiftung kam nun eine Forschungsstelle für Rundfunkforschung noch hinzu, die 1939 sogar an die Columbia University verlegt wurde. Später entstand daraus das Institut für angewandte Sozialforschung. Im Jahr 1940 wurde Lazarsfeld außerordentlicher Professor.[4]

  • Die Wurzeln der neuen Forschung

Lazarfseld selbst sieht drei Komponenten in der Entwicklung des neuen Forschungsstils:

Die Ideologie: Es geht hier um die politische Motivation der Arbeiten von Lazarsfeld, der stark vom Sozialismus geprägt war. Für ihn war die soziale Schichtung ein wichtiges Thema bei sämtlichen Arbeiten. Psychologische Studien über Jugendliche aus derselben Zeit beziehen ausschließlich auf die mittleren Schichten. Mit der Arbeit über Jugend und Beruf setzte Lazarsfeld die Arbeiterjugend in den Mittelpunkt und machte auf sie aufmerksam. Er wollte auf die sozialen Differenzen dieser Gruppen aufmerksam machen. Seine These lautete, dass die Arbeiterjugend durch den frühen Einstieg in das Arbeitsleben gewisse positive Erfahrungen nicht machen können, die der Mittelschichtjugend vorbehalten blieb. Wie die Arbeiterjugendforschung war auch die Marienthalstudie selbst marxistisch angehaucht. Allein die Auswahl, dass ein ganzes Dorf und nicht der Einzelne untersucht wurde, ist auf den politischen Hintergrund zurückzuführen. Die Analyse der Sozialstruktur ähnelt dem Kollektivgedanken. Weiters ergab es sich, dass eine spätere Mitarbeiterin von Lazarsfeld mit einem Experten für Marktforschung in Kontakt kam. In Österreich war die Marktforschung noch nicht bekannt. Lazarsfeld nutzte dann das Material zu Konsumentenentscheidungen von Seife für seine statistischen Analysen. Es ging ihm eigentlich um den Entscheidungsprozess und dabei vorallem um den politischen. Der Austromarxismus lehnte die Gewalt ab und bevorzugte den demokratischen Apparat. Dafür interessierte es Lazarsfeld, welche Schicht welche Partei wählt. An der konservativen Universität hätte aber niemand die Wahlentscheidungsprozesse erforscht.

Das Intellektuelle: Lazarsfeld war vorwiegend durch Karl Bühlers beeinflusst. Dieser versuchte stets verschiedene psychologische Ansätze zu integrieren. Gerade die Verbindung von einzelnen Ansätzen war dessen Hauptaufgabe. Diese Technik übernahm Lazarsfeld besonders in seinen Marktforschungen. Das Ergebnis formulierte er dann in integrierenden Konzepten. Er stellte vier Grundsätze auf: 1. Jedes soziale Phänomen hat seine objektive Beobachtungen. 2. Einzelne Fallstudien und statistische Daten sollen zusammen geführt werden. 3. Querschnittsdaten sollen mit der Entwicklungsgeschichte ergänzt werden. 4. Experimentelle Daten (in Tests erhoben) und natürliche Daten (ergeben sich natürlich aus dem Alltag ohne Eingriff von Forschern) sollen kombiniert werden. Damit zeigt sich, dass ihm die reine Beschreibung nicht ausreichte. Für eine erfolgreiche Studie musste der Forschungsgegenstand umfassend erforscht werden. Die Theorie der integrierenden Konzepte entstand auch aus dem Bedürfnis der Rechtfertigung der empirischen Sozialforschung.

Das Persönliche: Auch das Persönliche von Lazarsfeld spielt eine entscheidende Rolle. Sein Wunsch war es, eine Verbindung zwischen der reinen Statistik und der Beobachtung zu schaffen. Das begann er bereits bei den Arbeiten für Charlotte Bühler. So versuchte er bei den kinderpsychologischen Studien eine Kombination zwischen der reinen statistischen Beobachtung von Gesell ohne weiterer Auswertung und den halbexperimentellen Forschungen von Piaget zu erreichen. Das war auch das Ziel der Studie Marienthal, worin auch geschildert wird, dass die Forschung in den USA (Chicago) diese Synthese noch nicht geschafft hat. Ein weiterer Aspekt ist die fast zu persönliche Präferenz der arbeitenden Schicht aufgrund seiner sozialistischen Einstellung, wodurch die Soziologie auch eine gewisse politische Dimension erlangte. Dabei geht es um die Ergebnisse der Daten und deren Folgen. Charlotte Bühler kritisierte diese Einstellung, worauf er sich um mehr Objektivität bemühte. [5]

Emigration und Exil[Bearbeiten]

  • Reisestipendium als Auslöser

Durch Lazarsfelds Studien über Jugend und Beruf sowie die Arbeitslosen von Marienthal wurde er im Ausland bekannt. Nach Pollak wurde seine Marktforschung über Seife der Auslöser für das Reisestipendium in die USA über das Rockefeller-Institut im Jahr 1932. In den USA angelangt, fand er ein Aufstreben der angewandten Sozialforschung vor. Die Politik förderte mit starken Geldmitteln die Sozialforschung, um die Ergebnisse für die politischen Strategien zu nutzen.[6]

  • Unfreiwillige Emigration

Im ersten Stipendienjahr hielt er vor allem Kontakte zu Marktforschungsinstituten. Universitäre Kontakte bestanden vorwiegend zu statistischen Psychologen. Besondere Verbindung hatte er zum Soziologen Robert Lynd, der ihm umfangreich während der Stipendienzeit half. In Österreich gab es mittlerweile Bürgerkrieg, ein katholischer Faschismus breitete sich aus und die Sozialistische Partei wurde veboten. Es emigrierten bereits erste Sozialisten und Marie Jahoda wurde verhaftet. Darum befand sich Lazarsfeld ungewollt im Emigrantenstatus.[7]

  • Vorteile in den USA

Lazarsfeld hatte sich sofort nach Ankunft in den USA mit der vorliegenden Situation angefreundet. Er knüpfte viele Kontakte und sah hier einen Aufstieg. Auf der Wiener Universität wäre für ihn kein Aufstieg möglich gewesen, da dort ein rassistisches und reaktionäres Klima herrschte. Er brachte aber genügend mit, um an den amerikanischen Universitäten erfolgreich zu sein. Vorteilhaft war zudem, dass die amerikanischen Intellektuellen ein spezifisches Bild von der europäischen Arbeiterbewegung hatte, die den liberalen Universitätskreisen entsprach. Auch seine deutschsprachige Kultur war in den USA angesehen und gefragt. Auch seine jüdische Herkunft war von Vorteil, da diese soziokulturelle Gruppe damals gerade dabei war, in Konkurrenz zu den white anglo-saxon protestants die Universitäten zu erobern.[8]

Theoretisches Wirken im neuen Umfeld[Bearbeiten]

  • Abfall von der politischen Einstellung

Betrachtet man das Leben und Werk von Lazarsfeld, so fällt ein besonderer Einschnitt durch die Emigration auf. Vor dieser war er im besonderen Maße durch den Marxismus geprägt und er wollte diesen mit der Sozialpsychologie vereinbaren. In den USA lies er aber seine politischen Ambitionen fallen und er wandte sich einem unpolitischen Empirismus zu.

Dafür gibt es zwei Hypothesen für diese Abwendung vom Marxismus. Die erste Hythothese geht davon aus, dass sich Lazarsfeld in den USA an den politischen wie universitären Kontext angepasst hat. Diese Hypothese betont sein politisches Engagement in Österreich. In Teamarbeit entstanden so die Marienthalstudie über Arbeitslose und eine Studie über Jugend und Beruf. Die übrigen Studien, vorwiegend die Marktforschungen, werden als reiner Broterwerb für die Forschungsstelle aufgefasst. Da in den USA andere Bedingungen herrschen wie in Wien, passt er sich an die unpolitischen Strukturen dort an.

Die zweite Hyopthese sieht keinen Bruch in der Forschungsbiografie von Lazarsfeld. Sie geht von einer Kontinuität aus. Diese Hypothese setzt das Hauptaugenmerk nicht auf seine Nähe zur Sozialdemokratie, sondern auf die Konzeption rationaler Planung mit der Hilfe der Sozialwissenschaft. Dabei werden Wissenschaft und gängig gesellschaftliche Praxis kombiniert. Damit wird die vorliegende politische Situation nicht so wichtig, wie es eine institutionelle Sozialforschung ist. Die Ideen des Wiener Kreise, deren Einfluss Lazarsfeld selbst verneint und auf die gleiche Entstehungssituation hinweist [9], und der Sozialdemokratie in Österreich und Deutschland gingen in dieselbe Richtung. Sie lehnten die Revolution ab und wollten eine Verbesserung der Situation für die Arbeiter durch staatliche Einrichtungen. Gerade durch die Sozialforschung sollten die Strategien dafür herausgefunden werden. Damit bekommt die Forschungsstelle von Lazarsfeld eine neue Bedeutung, neben dem Gelderwerb.

Aus den autobiografischen Betrachtung von Lazarsfeld wird keine der vorliegenden Hypothese vollständig bestätigt noch dementiert. Denn einerseits zeigt sich eine gewisse Nostalgie gegenüber dem Austromarxismus in seiner Jugendzeit, allerdings erscheint es als ob er sich lediglich dem vorliegenden Angebot aufgeschlossen verhielt. Andererseits blieb seine Wissenschaftsauffassung stets die gleiche und förderte die Institutionalisierung der Sozialforschung in der Welt, um der Rationalität zu helfen.[10]

  • Günstiger Nährboden in den USA

Gerade mit der Auswanderung der Elite der österreischen Sozialwissenschaft wanderte auch die empirische Sozialwissenschaft selbst aus. Das bedeutete einen Verlust in Österreich und einen Gewinn in den USA mit Lazarsfeld. Die Bedingungen in den USA waren allerdings günstiger, denn die dortige Orientierung war stärker pragmatisch, empirisch und behavoristisch geprägt als in Wien. Auch wenn es beispielsweise in Chicago Widerstände gegen die Errichtung eines Bureau of Social Research gab, war das Land für die Erneuerung bereits vorbereitet. Lazarsfeld wurde in den USA dann zum wichtigsten Vermittler der Wiener empirischen Tradition und Repräsentanten der empirischen Soziologie der Vereinigten Staaten. In den USA war gab es bereits enge Verknüpfung von Soziologie, Kulturanthropologie und Sozialpsychologie. Außerdem waren amerikanische Soziologen an den wichtigen Social Surveys beteiligt. Beide Umstände war für Lazarsfeld vorteilhaft.

Schließlich arbeitete Lazarsfeld mit Merton an der Columbia University zusammen und so wurde Empirie und Theorie verbunden. Er wurde grundsätzlich zum Vermittler zwischen Europa und Amerika und trug auch zum Reimport bei. Zudem entstand durch ihn eine Verbindung der Soziologie und Kommunikationswissenschaft. Das geschah jedoch eher zufällig. Lazarsfeld selbst verstand sich bereits in Wien wie auch in den USA als Soziologe, hielt aber in Wien am Institut für Zeitungswissenschaft Vorträge. Im Jahr 1931 begann er mit einer Rundfunkhöhrerforschung in Zusammenarbeit mit der RAVAG. Die Kommunikationswissenschaft in den USA hatten schon rudimentäre Verbindungen zur Soziologie und Psychologie. Lazarsfelds Leistung bestand darin, dass er die quantitative Analyse sowohl in die Soziologie sowie mittels der empirischen Kommunikationsforschung auch in andere Disziplinen gebracht hat. So auch in die Kommunikationswissenschaf in den USA.[11]

  • Kontakt zur Frankfurter Schule verläuft ergebnislos

Bereits noch in Europa gab es zwischen dem Frankfurter Institut und Lazarsfeld einen wissenschaftlichen Kontakt. Obwohl im gesellschaftlichen Werdegang zwischen Adorno und Lazarsfeld extreme Unterschiede vorlagen, kam es in den USA sogar zur Zusammenarbeit. So wurde Adorno zum Leiter der Music Study innerhalb des Radio Research Projects gewählt, da Horkheimer für Adorno eine Arbeit suchte und Lazarsfeld im Gegenzug zur Unterstützung von Horkheimer handelte. Jedoch näherte sich das Bühlersche Wiener Institut und die Frankfurter Schule in gänzlich unteschiedlicher Weise der Realität an. Deswegen scheiterte auch die Zusammenarbeit, da es zu methodischen Konflikten kam. Lazarsfeld stimmte allerdings unter der Hand Adornos Theorie zu, bemängelte aber dass dieser die Theorie nicht anhand von empirischen Tests belegen wollte. Darin war Adorno beleidigt, seine Theorie in überprüfbare Fragen zu übersetzen, da er sein Konzept nicht als bloße Spekulation dahin gestellt haben wollte. Es blieb also die Frage nach der Evidenz offen und das von Seiten Adornos bewusstermaßen. So warf Adorno dem Bureau vor, lediglich an empirischen Daten, aber nicht an der Erklärung der Phänomene interessiert zu sein. Adorno wurde eine aggressive und undiplomatische Weise gegenüber den Kunden nachgesagt. Diese Haltung lag an der Ablehnung der Kommerzialisierung der soziologischen Wissenschaft, die Lazarsfeld in den USA begann.

Lazarsfeld hatte eine aktive politische Vergangenheit in der Sozialdemokratie, während die Vertreter der Frankfurter Schule kaum konkrete aktive Erfahrungen in der Politik hatten und eher Linksintellektuelle waren. Sowohl Lazarsfeld wie auch die meisten Vertreter der Frankfurter Schule entstammten dem Judentum, was eigentlich verbindlich wäre. Jedoch kam Lazarsfeld aus dem jüdischen Kleinbürgertum, während die Frankfurter dem jüdischen Großbürgertum entstammten. Damit war eine unterschiedliche Herkunft gegeben. Horkheimer sorgte immer dafür, dass sein Institut in New York im besonderen intellektuell in der Tradtion der deutschen Aufklärung geprägt war. Zudem sahen die Mitglieder der Frankfurter Schule ihre Emigration als zeitlich begrenzt an. Sie verfassten ihre Werke in deutscher Sprache und hatten anfänglich einen Widerwillen in Englisch zu schreiben. Sie empfanden sich als reine Europäer und galten deswegen als arrogant. Auch Lazarsfeld galt als solcher am Anfang, jedoch gelang es ihm sich anzupassen. So verfasste er auch seine Werke in Englisch.

Das Ergebnis dieser Kontroverse zwischen zwei professionellen und intellektuellen Strategien war eine grundsätzlich Spaltung der Soziologie. Auf der einen Seite stand die empirische Richtung, die sich politisch anpasste und nicht auffallen wollte, vorwiegend Daten sammelte und sich auf die Statistik konzentrierte. Die andere Richtung war die Sozialkritik, die sich nicht um die Konfrontation mit der Wirklichkeit scherte. Es zeigte sich mit dieser grundsätzlichen Verschiedenheit auch die Veränderung der Intellektuellen insgesamt. Adorno stand noch in der Tradition der europäischen Gebildeten. Dieser Intellektuellentypus wurde aber allmählich durch den Forschungstechniker ersetzt, zu denen Lazarsfeld zählte. So blieb es beim Konflikt zwischen der philosophischen Tradition der Intellektuellen und den wissenschaftlich forschenden Experten.[12]

Wirkungsgeschichte der Theorie – Rückkehr nach Europa[Bearbeiten]

Paul Lazarsfeld ist nach seiner Emigration nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt. Doch auch in Europa hat er einen entscheidenden Einfluss ausgeübt. Als deutschsprachige Werke gibt es lediglich die Marienthalstudie, die als Pionierwerk auch heute noch eine lebhafte Rezeptionsgeschichte auslöst. Von den Werken die in den USA entstanden sind nur wenige auf Deutsch übersetzt worden. Aber sein gesamtes Werk umfasst 24 Bücher, als Herausgeber von 14 Anthologien und mehr als 200 wissenschaftliche Artikel sowie in etwa 300 noch nicht veröffentlichte Schriften. Bisher scheiterten jedoch die Versuche sein Werk in eine Gesamtausgabe zu verarbeiten. Sein Werk ist gekonnt geschrieben, allerdings ohne einer spezifischen Fachsprache. Somit stellt sich die Frage, ob er wirklich zu den Klassikern zählt. Im deutschen Sprachraum könnte man ihn eher als einen unerkannten Klassiker bezeichnen.[13]

Vertreter (alphabetisch)[Bearbeiten]


Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Langenbucher, Wolfgang: Vorwort. Der unerkannte Klassiker, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien, 2008.
  2. Fleck, Christian: Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung der empirisichen Sozialforschung, Frankfurt a.M. 2007.
  3. Lazarsfeld, Paul: Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung: Erinnerungen, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien, 2008.
  4. Lazarsfeld, Paul: Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung: Erinnerungen, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien, 2008.
  5. Lazarsfeld, Paul: Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung: Erinnerungen, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien, 2008.
  6. Pollak, Michael: Paul F. Lazarsfeld - Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien, 2008.
  7. Pollak, Michael: Paul F. Lazarsfeld - Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien, 2008.
  8. Pollak, Michael: Paul F. Lazarsfeld - Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien, 2008.
  9. Lazarsfeld, Paul: Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung: Erinnerungen, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien, 2008.
  10. Pollak, Michael: Lazarsfelds Einfluss auf die internationale Verbreitung der empirischen Sozialforschung. Kontinuität und/oder Wandel eines wissenschaftlichen Projekts, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul F. Lazarsfeld. Die Wiener Tradition der empirischen Sozial- und Kommunikationsforschung, München, 1990.
  11. Reimann, Horst: Paul Lazarsfeld und die Entstehung der Massenkommunikationsforschung als Verbindung europäischer und amerikanischer Forschungstraditionen, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul F. Lazarsfeld. Die Wiener Tradition der empirischen Sozial- und Kommunikationsforschung, München, 1990.
  12. Pollak, Michael: Paul F. Lazarsfeld - Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien, 2008.
  13. Langenbucher, Wolfgang: Vorwort. Der unerkannte Klassiker, in: Langenbucher, Wolfgang (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. Anstatt einer Biografie, Wien, 2008.

Konfliktfunktionalismus[Bearbeiten]

Anfang und Genese[Bearbeiten]

Die Entwicklung der Theorie des Konfliktfunktionalismus hat viele geistige Vorläufer. Sie alle stehen in deren Anfängen der europäischen Traditionslinien zu Grunde [1]. Allen Voran war es Karl Marx, welcher in seinem umfangreichen Werk den Konflikt in spezieller Weise aufgegriffen hat. Es sah den Klassenkampf zwischen Proletariat und Kapitalisten - also den sozialen Kampf im Kontext des Kapitalismus - als notwendig an und zwar nicht etwa in den Köpfen von Philosophen sondern in der Realität. Es mündete u.a. in die Märzrevolution 1848 -1849.

Max Weber beschäftige sich ebenso wie Marx u.a. mit den Ursprüngen und Auswirkungen des Kapitalismus. Anders wie Marx, der u.a. durch den erfolgreichen Klassenkampf ein versöhnliches Ende des Kapitalismus erhofft, sieht Weber religiöse Motive als Grundlage desselben und attestiert in diesem Prozess eher eine innerweltliche Aufopferung des Akteurs. Weber nennt dies innerweltliche Askese. In der Begriffsdefinition des Kampfes beschreibt Weber eine soziale Beziehung, die das Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eigenen Willens gegen den Widerstand des oder der Partner orientiert ist [2].

Für Emilé Durkheim, auch ein Vordenker in Bezug des Konfliktfunktionalismus, sind wachsendes Volumen, und zunehmende materielle und moralische Dichte Gründe für einen verschärften Überlebenskampf. Um den Hobbschen Kampf aller gegen aller zu entgehen, wird Druck zur Teilung der Funktionen und Spezialisierung von Berufen ausgeübt. Jedoch kann diese funktionelle Spezialisierung nicht die kapitalistischen Grundzüge moderner Gesellschaften aufheben. Diese art der Differenzierung kann auch zu verschärften Wettbewerb und Konkurrenz und somit zu neuerlichen Konflikt führen. Durkheim unterscheidet drei Formen von anomaler Arbeitsteilung. In diesem Kontext interessiert uns die erzwungene Arbeitsteilung, beispielsweise bei ungerechten Verträgen. Hier folgert Durkheim ähnlich wie Marx mit dem Klassenkampf. Die Anomie der Krise der Gesellschaft ist jedoch nicht Zwang und Ausbeutung wie bei Marx sondern die Herausbildung von Regeln zur Arbeitsteilung zur Quelle organischer Solidarität und sozialer Integration so Durkheim. Mit welchen Mitteln und durch welche konkreten Schritte diese Funktionsteilung erfolgen soll, bleibt er letztlich schuldig [3].

Ein weiterer Wegbereiter dieser Theorie war Georg Simmel. Simmels Werk "Der Streit" von 1908 wird heute zu den klassischen Texten der Konfliktsoziologie gezählt. Für ihn haben soziale Konflikte eine notwendige Funktion, um das Gesamtbestehen von sozialen Strukturen (Bsp. Gruppe oder Gesellschaft) zu sichern. Zu guter letzt folgert Kaesler als Basis des Konfliktfunktionalismus die Arbeiten von Max Scheler und Siegmund Freud [4].

Nach dem gedanklichen Fundament können wir nun Bezug nehmen auf den Begründer dieser Theorie. Es war Lewis A. Coser, der mit seinem Werk bzw. Dissertation „The Functions of Social Conflict“ eine analytische Neuerklärung des Begriffs „sozialer Konflikt“ vor. Dabei untersucht er den Stand der US – amerikanischen Sozialforschung in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts und schuf dabei ein richtungweisendes Werk. Coser selbst, geboren am 27.11.1913 mit dem Namen Ludwig Cohen in Berlin [5]. Obwohl sein wissenschaftliches Werk erst umfassend in den USA begann, wurde er geprägt durch die europäische soziologische Tradition wie auch die Traditionslinien seiner Theorie belegen. Nicht zuletzt weil er in Paris ab 1933 studierte und dort bis zu seiner Flucht verweilte.

Emigration und Exil[Bearbeiten]

Ludwig Cohen, der später aufgrund des zunehmenden antisemitischen Klimas seinen Namen auf Lewis Alfred Coser änderte, war Sohn eines Börsenmaklers. Im Alter von 20 Jahren entschied sich Coser auch aufgrund seiner marxistischen Einstellung nach Frankreich zu übersiedeln und dort in Sorbonne zu studieren. Anfangs war sein Hauptfach die Belletristik. Jedoch schützte ihn die Übersiedelung nach Paris nicht vor einem deutschen Internierungslager. Dennoch schaffte es Coser 1941 über Portugal in die vereinigten Staaten (New York) auszuwandern. Dies gelang jedoch nur durch die Hilfe von Rose Laub, ebenfalls gebürtige Berlinerin, die ihm die Genehmigung zur Einreise in die USA verschaffte. Sie hatte zwei Jahre zuvor Deutschland verlassen. Ein Jahr später heirateten sie und blieben bis zum Tod Laubs im Jahre 1994 eine Ehe - und Arbeitsgemeinschaft. Zunächst hatte das Paar eine beengte Lebenssituation in der neuen Heimat. Coser schlug sich mit Jobs als Packer, Garderobier und Übersetzter durch. Doch es gelang ihm ein Doktorat an der Columbia-University zu erlangen. Dies war der Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere[6].

Coser veröffentlichte zahlreiche Artikel und rund 20 Bücher welche zu Beginn keineswegs nur der Soziologie zuordenbar gewesen sind. Er nahm rege an politisch-ideologischen Auseinandersetzungen teil. Zusammen mit Irving Howe gründete er marxistisches Magazin, wobei seine Intention mehr ethisch als politisch gewesen ist. Er war zeit seines Lebens sowohl wissenschaftlich als auch politisch engagiert.

Coser war für folgende Universitäten im Laufe seiner Karriere tätig[7]:

Theoretisches Wirken im neuen Umfeld[Bearbeiten]

Eine weitere Persönlichkeit, die sowohl dieser Theorie als auch Coser als Wegbereiter diente, war Robert K. Merton. Merton war selbst Sohn von jüdischen Einwanderern aus Osteuropa. Er war Schüler und Beeinflusster von Talcott Parsons. Parsons hat seine Handlungstheorie zum Strukturfunktionalismus weiterentwickelt und wurde so zu einem der einflussreichsten Soziologen in den USA. Zwischen Ihm und Merton bestanden jedoch immer unterschiedliche Denkweisen welche sich in Ihren Werken auch deutlich machen [8]. Merton war auch ein Mitarbeiter bei Projekten von Paul F. Lazarsfeld, ebenfalls ein Betroffener des Braindrains. Coser schaffte es, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts vorherrschende soziologische Paradigma der strukturfunktionalistischen Theorie der US – Amerikaner mit dem damals stark abweichenden europäischen Theorieerbe des 19. Jhdt, allen voran Georg Simmels zu verbinden. [9]

Coser grenzt sich bei seiner Analyse von Tacott Parsons radikal ab, der dem Konflikt die Eigenschaft einer „Krankheit“ zusprechen würde und ihm keine Funktion zur Veränderung für den sozialen Wandel zuspricht. Auch entwarf Coser keine radikale Konflikttheorie wie etwa Ralf Dahrendorf, die den Kampf um Macht und Ausübung von Zwang in dem Mittelpunkt soziologischen Denkens in diesem Kontext rückt. Er entwarf im engeren Sinne keine Konflikttheorie sondern untersuchte die positiven Funktionen des sozialen Konfliktes für Gruppen sowie der Gesellschaft. [10] [11]

Im Vorwort der deutschen Fassung seines Hauptwerkes „Theorie sozialer Konflikte“ 1965 heißt es

Das vorliegende Buch versucht den Begriff des sozialen Konflikts zu klären und dabei gleichzeitig die Anwendung dieses Begriffs in der empirischen Sozialforschung zu untersuchen." (Coser, 1965, S.9)

Für Dahrendorf definiert sich der soziale Konflikt als Kampf um Werte und Anrecht auf Status, Macht und Mittel. Ein Kampf, in dem zuwiderlaufende Interessen einander entweder neutralisieren, verletzen oder ganz ausschalten. Coser entwirft eine neue Hypothese dass Konflikte nicht allein als negativ oder dysfunktional für Akteure, Gruppen oder Gesellschaften wirken, sondern als funktional. Der soziale Konflikt kann eine Reihe positiver Funktionen erfüllen, wie z.B. die Aufrechterhaltung von Gruppengrenzen. Hier übernimmt er Simmels Sichtweise die dem sozialen Konflikt eine Funktion der Sozialisation gibt. [12]

Coser bezieht sich in seinem Werk auf den Titel "Der Streit" als viertes Kapitel von Georg Simmel. Er beginnt jedes Kapitel mit einer Aussage von Simmel und untersucht diese zum einen welche die Konfliktintensität steigern oder verringern könnten und zum anderen in Bezug zu den intern und extern integrativen Funktionen des Konflikts für die daran Beteiligten.

Münch folgert 22 Thesen aus den Einsichten von Coser:

Konfliktintensität[13]

1. Je mehr Möglichkeiten für das offene Ausdrücken von Unzufriedenheiten in einer sozialen Beziehung vorhanden sind, je mehr Institutionen es dafür in einer Gesellschaft gibt […], und je weniger die Verschiebung sozialen Wandel verhindert und die ursprüngliche Unzufriedenheit verstärkt, umso unwahrscheinlicher ist es, dass ein Konflikt in einer höchst intensiven, feindseligen und störenden Form zum Ausbruch kommt."

2. Je mehr Alternativen der Konfliktaustragung ein Akteur hat, um ein spezifisches Ziel zu erreichen, desto weniger intensiv wird der Konflikt ausgetragen.

3. Je frustrierter ein Akteur aus seiner früheren Erfahrung heraus ist, desto intensiver wird er seine Feindseligkeit gegen irgendein beliebiges Objekt richten.

4. Je mehr ein realistischer sozialer Konflikt mit allgemeinen feindseligen Impulsen verbunden wird, desto intensiver wird dieser Konflikt ausgetragen.

5. Wann immer man eine enge Beziehung eingeht, weist diese Beziehung gleichzeitig positive und negative Gefühle auf.

6. Je enger eine Beziehung, desto intensiver der Konflikt.

7. Je mehr ein Konflikt über eine spezifische Angelegenheit ideologische Positionen mit einbezieht, desto intensiver wird der Konflikt ausgetragen.


Interner Konflikt und interne Integration[14]

8. Je mehr Möglichkeiten zur Konfliktaustragung in lose strukturierten Gruppen und offenen Gesellschaften vorhanden sind, und je mehr grundlegende Übereinstimmung über Werte herrscht und der ideologische Konflikt innerhalb dieser Grenzen gehalten wird, desto mehr führt die Austragung des Konflikts zur Wiederherstellung von Einheit und Konsens.

9. Je stärker und stabiler eine soziale Beziehung ist, desto weniger wird ihre Integration durch einen offenen Konflikt gefährdet und desto mehr Raum lässt sie für eine offene Austragung des Konflikts.


Externer Konflikt, interne Integration und Identität[15]

10. Je mehr soziale Gruppen in Konflikte mit anderen Gruppen involviert sind, desto mehr werden ihre Grenzen und ihre Identität immer wieder neu bestätigt.

11. Je mehr zwischen einer sozialen Gruppe und einer anderen Gruppe ein externer Konflikt besteht, desto mehr wächst der innere Zusammenhalt der Gruppe.

12. Je kleiner eine soziale Gruppe, je weniger fest sie etabliert ist und je mehr sie in externe Kämpfe mit der Außenwelt verstrickt ist, desto intoleranter sie im Inneren und desto mehr wird sie interne Abweichungen und Konflikte unterdrücken.

13. Je strenger eine soziale Gruppe geführt ist, und je schwächer und instabiler ihre originäre Solidarität ist, desto mehr wird ihre Führung Konflikte mit einem äußeren Feind bzw. mit einem einlernen Abweichler provozieren, um einen Druck der Gruppe in Richtung von internem Gruppenkonformismus zu erzeugen.


Externer Konflikt und externe Integration[16]

14. Je mehr soziale Gruppen in einer Gesellschaft miteinander im Konflikt stehen, desto mehr werden wie ihre Grenzen bestätigen und desto mehr werden sie die soziale Mobilität minimieren; somit stabilisieren sie die bestehende soziale Struktur.

15. Je mehr Menschen oder Gruppen sich zusammenfinden, um Konflikte auszutragen, desto mehr knüpfen sie sozialer Bande untereinander, die gegenseitigen Respekt und Achtung entstehen lassen und zur Institutionalisierung gemeinsamer Normen der Konfliktaustragung führen.

16. Je mehr die Menschen bei geregelten Sportwettkämpfen zusammenkommen, desto mehr knüpfen sie freundschaftliche Beziehungen.

17. Je mehr eine Gesellschaft Konflikte über Normen in normativ geregelten Verfahren austrägt, desto mehr wird sie zur Einrichtung gemeinsamer Normen gelangen und dadurch neue soziale Bande schaffen.

18. Je mehr eine Gesellschaft Konflikte mit Abweichlern austrägt, desto mehr bestätigt sie ihre Normen und die bestehenden sozialen Bande neu.

19. Je mehr Gruppen das Verhalten ihrer Gegner vorhersehen wollen, desto mehr werden sie an ihrer Einheit interessiert sein.

20. Je mehr Gruppen gegenseitig ihre Kräfte in der Konfliktaustragung messen, desto mehr werden sie in der Lage sein, die Kräfte ihrer Gegner richtig einzuschätzen und so ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen.

21. Je mehr eine Gruppe sich in einem Konflikt mit einer gegnerischen Gruppe befindet, desto mehr wird sie vorhandene Vereinigungen und Koalitionen mit anderen Gruppen bestätigen oder neue eingehen.

22. Je mehr Vereinigungen und Koalitionen über den spezifischen Grund der gegenseitigen Hilfe hinausreichen und frühere Beziehungen und gemeinsame Standpunkte involvieren, desto dauerhafter werden diese Vereinigungen und Koalitionen sein.

Wirkungsgeschichte der Theorie – Rückkehr nach Europa[Bearbeiten]

Cosers Konfliktfunktionalismus steht dem Funktionalismus näher als allgemeinen Konflikttheorien[17]. Möglicherweise ist hier seine Biografische Entwicklung – zuerst Europa dann USA – mitverantwortlich. Geprägt durch den Marxismus und den europäischen Soziologen des 19. Jhdt. allen voran Georg Simmel erweiterte Coser sein theoretisches Wissen durch Merton und Lazarsfeld sowie in negativer Abgrenzung zu Parsons [18] um den Funktionalismus. Das Ergebnis ist eine Synthese beider Denktraditionen in Form einer eigenständigen Theorie, welche nur wenigen Wissenschaftlern möglich war. Auch Ralf Dahrendorf konnte an Coser und Simmel bei seiner Konflikttheorie nicht vorbei, auch wenn er dem Funktionalismus hierzu wenig Erklärungskraft attestiert. Für Dahrendorf sei der Konflikt im Funktionalismus lediglich eine Abweichung gegenüber den Integrations- und Harmonieleistungen des Systems [19].

Coser erregte mit zwei weiteren Büchern 1965 aufsehen: In "Men of Ideas - A Sociologist's View" und "Masters of Sociological Thought. Ideas in Historical and Social Context" recherchiert er, dass von 258 US – amerikanischen soziologischen Klassikern vor dem ersten Weltkrieg 61 evangelische Theologie studiert hatten und 18 weitere in evangelischen Akademien geschult wurden [20] .

Scheuch folgert weiter:

„Vor dem Ersten Weltkrieg kann die Soziologie in den Vereinigten Staaten als eine säkularisierte Form engagierten Protestantismus verstanden werden, das nur innerweltlich gesellschaftliche Probleme durch Analysen bewältigen wollte.“ (Vgl. Scheuch, 2003, verfügbar über [2])

Diese verzerrte Lage der wissenschaftlichen Herangehensweise an soziologische Probleme konnte durch den Braingain aus Europa ausgeglichen werden. Coser lieferte auch einen Beitrag zur Wissenschaftssoziologie insbesondere in Bezug auf den Braindrain in der NZ – Zeit. In dem Werk "Refugee Scholars in Amerika" 1984 veröffentlichte er den Lebensweg von Intellektuellen, die aus ihrer Heimat auswandern mussten und in die USA immigrierten. Unter ihnen waren Persönlichkeiten wie Hannah Arendt, Leo Strauss oder Paul Tillich. Coser wies darauf hin, dass die Soziologen Teil eines wissenschaftlichen Klimas sind, das sich mit Wissenschaft im spezielleren Sinne nicht interpretieren lässt[21].

Coser glänzte zu seinen Lebzeiten mit einem sehr breiten Wissen sowohl in Bezug auf die Soziologie als auch über die Literatur des 19. und 20 Jhdt. Er wollte den US – amerikanischen Soziologen so literarisch anspruchsvolle Beschreibungen über Sachverhalte liefern, die in der Soziologie wohl aufgegriffen wurden, jedoch nicht so eindrucksvoll geschildert werden. Sein Ziel war es, dass die Beziehungen zwischen der Soziologie und den Kulturwissenschaften ernst genommen wurden[22]. Anhand des Stellenwertes der heutigen Soziologie als fester Bestandteil der Kulturwissenschaften kann man eine gelungene Zielsetzung diagnostizieren.

Coser lieferte in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts unfreiwillig Lösungsansätze gesellschaftlicher Probleme in den USA. Diverse Bewegungen, u.a. „civil rights movement“ und Studentenbewegungen, die die jüngere Generation von Soziologen beschäftigte. Cosers Ergebnis, dass Konflikte ein Gesellschaftssystem gefährden könnte, wenn es sich starr und unbeweglich in Interessenkonflikten verhielt, wurde von vielen der 68er Bewegung als Aufforderung zur Zerstörung von diesen Systemen falsch verstanden. [23]

Der Konfliktfunktionalismus und Lewis Coser hinterließen keine direkte Schulen sowie keine direkten Vertreter. Man kann feststellen, dass bei allen Werken zur Konflikttheorie eine Auseinandersetzung mit Cosers Werk unabdingbar ist. Dies gilt sowohl für US – amerikanische als auch europäische Soziologen. Coser kehrte seiner alten Heimat für immer den Rücken.

Kaesler unterstreicht trotz mancher missverstandener Erkenntnisse in den 60er Jahren:

„[...]Dennoch behält „The Functions of Social Conflict“[...] seinen unbestrittenen klassischen Platz als Beitrag zur theoretischen Konfliktforschung in der internationalen Soziologie.“
(Kaesler / Vogt, 2000, S.83)

Vertreter (alphabetisch)[Bearbeiten]

Vorläufer der Konfliktfunktionalismus

Wegbereiter Cosers:


Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Vgl. Kaesler/Vogt, 2000, S.81
  2. Vgl. Weber, 1984, S.65f
  3. Vgl. Kaesler, 2003, S.158f
  4. Vgl. Kaesler/Vogt, 2000, S.81
  5. Vgl. Scheuch, 2003, verfügbar über | In memoriam Lewis A. Coser
  6. Vgl. Scheuch, 2003, verfügbar über | In memoriam Lewis A. Coser
  7. Vgl. Münch, 2004, S.331
  8. Vgl. Scheuch, 2003, verfügbar über | In memoriam Lewis A. Coser
  9. Vgl. Kaesler / Vogt, 2000, S.80f
  10. Vgl. Münch, 2004, S.331f
  11. Vgl. Kaesler / Vogt, 2000, S.81
  12. Vgl. Kaesler / Vogt, 2000, S.81
  13. Münch, 2004, S.333f
  14. Münch, 2004, S.336
  15. Münch, 2004, S.337f
  16. Münch, 2004, S.339ff
  17. Vgl. Münch, 2004, S.345
  18. Vgl. Scheuch, 2003, verfügbar über | In memoriam Lewis A. Coser
  19. Balla, Bálint zitiert in :Endruweit/ Trommsdorff, 2002, S.282
  20. Vgl. Scheuch, 2003, verfügbar über | In memoriam Lewis A. Coser
  21. Vgl. Scheuch, 2003, verfügbar über | In memoriam Lewis A. Coser
  22. Vgl. Scheuch, 2003, verfügbar über | In memoriam Lewis A. Coser
  23. Vgl. Kaesler / Vogt, 2000, S.82f

Epilog und Rezeption[Bearbeiten]

Hier werden Parallelen und innovative Erkenntnisse der bearbeiteten Theorien herausgearbeitet und dokumentiert.
  • Resümee zu den Anfängen der nordamerikanischen Soziologie

Am 3. Februar 1890 wurde um 17:00 Uhr im „Department of Sociology“ an der „University of Kansas“ von Frank Wilson Blackmar zum ersten Mal eine Vorlesung zum Thema „Elements of Sociology“ gehalten. Blackmar war Professor für Soziologie und Geschichte. Tatsächlich gab es bereits viele Soziologen schon vor dem Ersten Weltkrieg und seit der Jahrhundertwende war die Soziologie in den USA fester Bestandteil des geregelten Unterrichts.

Ein wesentlicher Unterschied zur Soziologie in Europa lag jedoch darin, dass die Soziologie in Nordamerika bis in die 1920er Jahre als „Social Gospel“ verstanden wurde, einer Mischung aus christlicher Gesinnung, Wissenschaft und Weltverbesserung, mit dem Anspruch durch Auswertung und Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse Lösungen zu erarbeiten. So mancher Soziologe war ein baptistischer Pfarrer wie Charles R. Henderson oder Albion W. Small. Die Notwendigkeit entstand vordergründig aus den spezifischen „Hot Spots“ jener Zeit, wie es sie beispielsweise in Chicago gab und durch Robert E. Park in seinem Buch „The City“ beschrieben wurden. Beispiele sind dafür Immigration und Masseneinwanderung aus allen Teilen der Welt, vorzüglich jedoch aus Europa, das rasche Wachstum der Städte und vor allem auch die Rassenproblematik. Ein entscheidendes Problem war auch die nicht vorhandene sozialpolitische Absicherung. Es fehlte an jeglicher Sozial- und Krankenversicherung, Wohlfahrtspflege und Krankenvorsorge. An dieser und ähnlicher Problematik versuchte die nordamerikanische Soziologie der damaligen Zeit durch wissenschaftliche Kenntnisse Herr zu werden.

Theoretisch wurde sie hierbei entscheidend durch die europäische Soziologie beeinflusst. Sei es durch Herbert Spencer, Ferdinand Tönnies oder Max Weber. Ein besonderes Augenmerk lag auf Georg Simmel, der durch seine Konfliktsoziologie die Chicagoer Schule maßgeblich beeinflusste. Die Verwissenschaftlichung der nordamerikanischen - bis dahin als teilweise „unredlich“ titulierten Soziologie - begann initial mit Robert E. Park. Sie orientierte sich auch stark an der europäischen Wissenschaft, wo Forschung einen hohen Stellenwert hatte und das empirisch gehaltene „Social Gospel“ wurde mehr und mehr durch theoretisch abgesicherte Begriffe ersetzt und führte so zu einer typisch nordamerikanischen Stadtsoziologie und Sozialökologie, die in einer empirischen Orientierung begründet lag. Obwohl die nordamerikanische Soziologie fortan abstrakter wurde, wurde ihr Fokus auf soziale Problemfelder und reale Tätigkeiten beibehalten. Dieser Aufschwung hielt bis in die Mitte der 1930er Jahre, wandelte sich dann der Schwerpunkt von Chicago an die Universität von Harvard, denn dort begann der Augstieg des seit dort 1931 unterrichtenden Talcott Parsons (1902 – 1979), dessen Theorien die soziologischen Debatten bis in die 1960er Jahre dominierten.


  • Synchrone und divergierende Verläufe der Frankfurter Schule und der Wiener Empirie

Bei der Beschäftigung mit der Kritischen Theorie der Frankfurter sowie der Wiener Empirie sind weniger die inhaltlichen Parallelitäten als vielmehr die äußeren Umstände als auffällig zu sehen. Und der Beobachter fragt sich schließlich, warum es hier nicht zu einer Synthese kommen konnte, da sie beide nach New York emigriert sind und noch andere Parallelitäten aufweisen.

Dafür sollen zunächst die Parallelitäten aufgezeigt werden. Noch in Europa gab es bereits einen wissenschaftlichen Austausch zwischen Lazarsfeld und der Frankfurter Schule. Und auch in den USA ergab sich eine Zusammenarbeit, da Adorno in die USA folgte und Arbeit suchte. Deswegen erhielt er von Lazarsfeld die Leitung der Music Study in seinem Forschungsprogramm, da Horkheimer ihn unterstützte. Lazarsfeld und auch die meisten Vertreter der Frankfurter Schule haben jüdische Wurzeln und allesamt sind sie in die USA nach New York emigriert. Ihre politische Richtung war gleichermaßen linksorientiert und vom Marxismus geprägt.

Jedoch, und das sind nun die gravierenden Unterschiede, kam Lazarsfeld aus dem Kleinbürgertum, während die Frankfurter aus dem Großbürgertum stammten. Dadurch war eine unterschiedliche soziale Herkunft gegeben. Horkheimer sorgte stets dafür, dass sein Institut in New York dem intellektuellen Ansprach entsprach und sah sich in der Tradition der deutschen Aufklärung. Neben der philosophischen Tradition sahen sie auch ihren Aufenthalt in den USA als vorübergehend an. Sie lehnten die Erstellung ihrer Werke in englischer Sprache ab und wollten sich nicht integrieren. So empfanden sie sich als Europäer, weshalb sie auch als arrogant galten. Anders Lazarsfeld, der günstige Bedingungen in den USA sah und sich anpasste. Er schrieb seine dortigen Werke in englischer Sprache. Auch wenn beide eine linkspolitische Einstellung hatten, so gestaltete sich ihre politische Arbeit gänzlich unterschiedlich. Lazarsfeld betätigte sich aktiv in der Sozialdemokratie und legte diese Tätigkeit allerdings in den USA nieder. Die Frankfurter waren Linksintellektuelle, die kaum auf Erfahrungen aktiver politischer Betätigung zurückgreifen können. Sie behalten in den USA diese intellektuelle Ansicht bei. Da sich beide Richtungen in verschiedener Weise der Realität annäherte, kam es unweigerlich auch zu methodischen Konflikten. Diese zeigten sich in der Zusammenarbeit von Adorno und Lazarsfeld. Dabei warf Lazarsfeld Adorno vor, dass dieser seine Theorie nicht anhand der Empirie überprüfen lassen wolle. Er forderte Evidenzen für dessen Theorie. Adorno hingegen lehnte die Kommerzialisierung der Forschung, wie sie in der Marktforschung geschah, entschieden ab. Er sah in dieser Forschung nur eine Datensammlung, aber nicht die Erklärung von sozialen Phänomenen. Zudem fühlte er sich beleidigt, dass seine Theorie zur reinen Spekualation werde, die sich mit der Empirie erst bestätigen müsse.

Das Ergebnis dieser Kontroverse war schließlich, dass es zu keiner weiteren Zusammenarbeit kam und die Spannung aufrecht blieb. Es zeigt sich, dass trotz ähnlicher Emigrationsverläufe noch andere Faktoren in der Forschung mitspielen. Zudem ist auch die soziale Herkunft von Bedeutung. Interessant ist, dass dieser Konflikt eigentlich kennzeichnend für die Soziologie der Nachkriegszeit war. Auf der einen Seite stand die empirische Richtung, die sich politisch anpasste und nicht auffallen wollte, vorwiegend Daten sammelte und sich auf die Statistik konzentrierte. Die andere Richtung war die Sozialkritik, die sich nicht um die Konfrontation mit der Wirklichkeit kümmerte. Während Adorno noch in der Tradition der europäischen Gebildeten stand, zählte Lazarsfeld zu den Forschungstechniker, die erstere allmählich ersetzen.


  • Resümee zum Ansatz "Lebenswelt und soziale Konstruktion der Wirklichkeit"

Der wohl interessanteste Aspekt an der Entstehung und Wanderung dieses theoretischen Ansatzes ist die Verflochtenheit der Lebensumstände der relevanten Akteure mit ihrer Auffassung von den sozialen Strukturen der Wirklichkeit und wie eine Theorie, die diese zwar manifesten aber veränderlichen Strukturen beschreibt, ausgerichtet sein müsse. Die wichtigsten Vertreter wie Schütz, Berger, Luckmann haben alle bereits in ihrer Herkunftsnation, fundamentale Umgestaltungen der gesellschaftlichen Strukturen durch politische und militärische Umwälzungen erfahren müssen. Ihre Emigration nach Amerika bestätigt diese Erfahrungen und zeigt den Akteuren erneut auf, wie das gesellschaftliche Gefüge aus veränderlichen Faktoren der Reziprozität von Perspektiven und Relevanzen, der Erwartungssicherheit und aus aufgeschichteten Wissens- und Erfahrungssphären in unterschiedlichen Gegebenheiten von Zeitlichkeit und Räumlichkeit besteht. Das Leben in einer „stabilen“ oder vielleicht „konservativen“ Gesellschaft, in der Institutionen manifest und unabänderlich sind, in der tradiertes Wissen etabliert und wenig Bewegung im Sinne von strukturellen Veränderungen (Erneuerungen) gegeben ist, ein derartiges Umfeld würde die Sicht auf eine soziale Konstruktion der Wiklichkeit hinter der vermeintlichen Stabilität und (Erwartungs-)Sicherheit verbergen.

Das Verhältnis zu anderen soziologischen Theorien ist im Falle der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit ein durchaus verbindendes. Bereits der Briefwechsel zwischen Schütz und Parsons zeigt, dass Schütz nicht der Auffassung war sich in einem Widerspruch zum Strukturfunktionalismus zu befinden. Leider haben die beiden Autoren es nicht vollbracht, einen wissenschaftlichen Konsens zu erarbeiten. Luckmann gelingt es schließlich ein Konzept vorzustellen, das unter Bewahrung der Weber’schen sinnverstehenden Tradition (ausgehend vom Individuum), den Versuch eines Brückenschlages unternimmt, von einer Handlungstheorie hin zu einer Gesellschaftstheorie. Es sind Individuen, die handeln, und Handlungen, welche die Wirklichkeit konstruieren. Ihren objektiven Charakter erhält die Wirklichkeit erst indem sie von mehreren geteilt wird, also intersubjektiv ist. So lassen sich neben der individuellen Handlungsmotivation auch Normen bzw. soziale Tatsachen in das Konzept einbinden. 1965 remigriert Luckmann nach Deutschland und folgt einem Ruf an die Universität Frankfurt, wo er sich nun Seite an Seite mit der ebenfalls remigrierten Kritischen Theorie wieder findet. Die Kritische Theorie (Frankfurter Schule) vertritt eine ganz andere Auffassung von der Aufgabe der Soziologie als Wissenschaft als Luckmann dies tat. Ihr geht es um das „falsche Bewusstsein“, um den Kampf wahrer gegen falsche Lebensform und so ist es kein Wunder, dass Luckmann relativ bald seinen Wirkungsort verlagerte.

Die Wirkungsweise der Begriffe ‘Braindrain’ und ‘Braingain’ zeigt sich in im Ansatz zur sozialen Konstruktion der Wirklichkeit in beinahe mustergültig ausgeprägter Form, ebenso kommt die Zeitverschiebung im Zugänglich-werden wissenschaftlichen Wissens, durch v.a. sprachliche Barrieren, bestens zum Ausdruck. Schütz publiziert sein Erstwerk 1932 in deutscher Sprache, erst 1967 wird es in Englisch aufgelegt. 1971 und 1972 gelangen Schütz’ „collected papers“ auf den deutschsprachigen Buchmarkt, das heißt, dass im deutschsprachigen Raum erst in den 70er Jahren eine spracheinheitliche Gesamtschau auf sein Werk möglich war. Der US-Soziologie war dabei ein mehrjähriger Vorsprung vergönnt. Dennoch sollte man davon Abstand nehmen, von Vorteilen oder Nachteilen für den einen oder anderen Sprachraum zu sprechen. Gerade im Falle dieser Theorie liegt der Schluss nahe, dass gerade der Umstand der Emigration das Fundament für den theoretischen Zugang bildet. Und der Gewinn teilt sich letztlich auf alle Sprachräume und auf die Soziologie "an sich" auf.

Literaturverzeichnis[Bearbeiten]

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Einzelnachweise[Bearbeiten]