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Sozialklima von Gruppen: Das Sozialklima als Gruppenphänomen

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Zum Gegenstand der Erörterungen
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Wenn man die Ausführungen über die theoretische Grundlegung einzig auf das vorhergegangene Kapitel beschränken würde, dann wäre ein wesentlicher Teil des Sozialklimakonzeptes ausser acht gelassen. Im Kapitel "Definitionsansätze und Theorien" wurde gezeigt, dass wichtige theoretische Ansätze die subjektive Wahrnehmung des Einzelnen als wesentliche Verhaltensdeterminante sehen. Das hier interessierende Sozialklima ist allerdings Gruppen zugeordnet, nicht einzelnen Individuen, denen man nur die individuell subjektive Wahrnehmung der Umwelt zuschreiben darf. Das Konzept des individuellen 'psychological climate' (JAMES & JONES, 1974; JAMES & SELLS, 1981) ist damit zu eng geworden.

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die individuell subjektive Wahrnehmung einzelner Personen in der Gruppe und die daraus abgeleitete Rechtfertigung für die Verwendung des Konstruktes Sozialklima. Damit wird ein originär sozialpsychologisches Terrain betreten. Es geht in diesem Kapitel nicht darum, die Sozialpsychologie der Gruppe zu referieren (dazu sei auf Standardwerke verwiesen, wie z. B. SECORD & BACKMAN, 1976), sondern Ziel ist es, die Gruppenspezifika des Sozialklimakonzeptes darzustellen. Neben der Gruppe wird deshalb die Gruppensituation sowie die Schulklasse als soziales System Gegenstand der Erörterungen sein.



Die Gruppe

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Das starke Interesse, insbesondere der Sozialpsychologie, an der 'Gruppe' ist darauf zurückzuführen, dass menschliches Verhalten nicht ohne den Bezug zur Umwelt erklärt werden kann, wozu auch die handelnden Mitmenschen zählen, die damit als Teil der Umwelt wesentlich für das jeweilige individuelle Verhalten mit verantwortlich sind.

Wenn MIETZEL (1973) oder SEIFFKE-KRENKE (1981) fragen, ob die Schulklasse überhaupt eine Gruppe sei, dann muss man dies als rhetorische Frage verstehen, denn es gibt kaum eine Gruppe im menschlichen Dasein, die so lange existent ist, wie die Schulklasse. Sie wird von vielen Autoren gerne durch ihre formellen Verhaltensabläufe und ihren Zwangscharakter beschrieben (die Gruppe als 'Zwangsaggregat', ULICH, 1974).

Was ist eine Gruppe? Diese Frage wird als erste zu klären sein, um die logische Verbindung der individuellen Wahrnehmung mit dem gruppenspezifischen Sozialklima zu erkennen.



Definition von 'Gruppe'

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Es liegt in der Natur der Sache, dass die Sozialpsychologie sich fast ausschließlich mit Strukturen und Prozessen befasst, die in irgendeiner Weise das Sozialphänomen Gruppe beschreiben. Deshalb ist es nichts Außergewöhnliches, wenn man bei der Suche nach einer angemessenen Definition von Gruppe in dieser Wissenschaftsdisziplin auf eine Vielzahl verschiedener Ansätze stößt. Die Definitionen von Gruppe beinhalten im wesentlichen folgende Aussagen:


  • die Gruppe ist eine Anzahl von mehr als zwei Personen,
  • die Mitglieder einer Gruppe definieren sich selbst als solche (Wir-Gefühl),
  • zwischen den Personen bestehen mittel- oder unmittelbare Interaktionen,
  • diese Interaktionen sind vorwiegend normativ reguliert,
  • zwischen den Personen liegt eine Rollendifferenzierung vor,
  • die Personen erleben in wesentlichen Punkten Gemeinsames,
  • die Gruppe ist durch Struktur und Dynamik gekennzeichnet.


(ARGYLE, 1972; BATTEGAY, 1974; BAUS & JACOBY, 1976; BERGIUS, 1976; CROTT, 1979; HOMANS, 1960; JAHNKE, 1982;
 LINDGREN, 1973; MÜLLER & THOMAS, 1974; SADER, 1976).


Die Nebeneinanderstellung von Beschreibungsmerkmalen resultiert aus der Unmöglichkeit, Gruppe eindeutig zu definieren. Dies wird in der Literatur immer wieder deutlich. Auch darf man nicht davon ausgehen, dass die Beschreibungsmerkmale miteinander verknüpft sind, sie gelten je nach Auffassung des Autors alternativ oder z.T. additiv.

Will man nun eine Gruppe sehr restriktiv beschreiben, muss man alle Beschreibungsmodi akzeptierend mit einbeziehen. Trotz der damit verbundenen definitorischen Restriktion bleibt genügend Spielraum für Nuancen. Der damit zusammenhängende Vorteil dieses Vorgehens besteht in der Klarheit der Beschreibungsmöglichkeiten einer Gruppe. Versucht man die Beschreibungsmodi bis zu einer vernünftigen Grenze zu reduzieren, so verbleiben letztlich folgende Kristallisationspunkte:


  • die gemeinsame Erlebensweise,
  • die normative Regulation,
  • die Struktur und
  • die Dynamik.


Diese vier Beschreibungsmerkmale lassen sich in zwei Aspekte gruppieren: Die gemeinsame Erlebensweise stellt neben der Struktur und der Norm den statischen Aspekt von Gruppe dar. Die Dynamik ist die prozessorientierte Komponente (s. DUNCAN, 1972). Im folgenden werden Struktur und Norm einer Gruppe näher beleuchtet.



Struktur einer Gruppe

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SADER resümiert, dass unter Struktur manchmal fast alles verstanden wird, was überhaupt mit Gruppen zu tun hat (1976, S.49). Diese Kritik zeigt, wie unscharf der Begriff oft verwendet wird. Wenn man einer sozialen Einheit unterstellt, sie habe eine Struktur, so will man damit im Grunde genommen folgendes ausdrücken:


1) in der sozialen Einheit liegen Beziehungen zwischen den Mitgliedern vor,
2) die Gesamtheit dieser Beziehungen lässt sich quasi kondensiert beschreiben,
3) die Mitglieder der sozialen Einheit werden vollständig durch die soziale Einheit definiert (vgl. FEGER, 1979).


Die Struktur dient als Konstrukt dazu, Beziehungen zwischen mehr als zwei Personen unter Berücksichtigung spezifischer Interaktionsaspekte zu beschreiben.


Man wird sich aber fragen müssen, ob es überhaupt eine soziale Einheit ohne Struktur gibt. Erscheint es dann aber sinnvoll, den Begriff Struktur zu verwenden? Die Antwort fällt bivalent aus, denn dass eine soziale Gruppe 'eine' Struktur hat, erscheint trivial. Sicherlich ergeben sich bei genaueren Analysen viele Arten von Strukturen.

PETILLON (1982, S.189) zählt eine Reihe von Be­reichen auf, denen man mit dem Strukturbegriff inhaltlich näher kommen kann: Macht, Entscheidung, Erwartung, Kommuni­kation, Sympathie. Die Verwen­dung des Strukturbegriffes er­scheint dann sinnvoll, wenn sich Gruppen oder Grup­pen­typen (wie Schulklassen) eindeutig daran unterschei­den las­sen. Die Struktur kann ähnlich schwer ermittelt werden wie das Sozial­klima, da sie auch nur indirekt über die Indivi­duen erfassbar ist. Struktur in Gruppen wird oft über sozio­metrische Tech­niken gemessen, wobei meistens von vielen Zwei­erbeziehungen (wie beim ST 3-7 von PETILLON, 1980b) auf die Gesamtstruktur geschlossen wird.

Ein naher Verwandter: die soziale Norm

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Neben der Struktur einer Gruppe sind es vor allem die sozialen Normen, die als zweites Be­schreibungs­merkmal von Gruppen berücksichtigt wer­den müssen. Soziales Verhalten kann nicht direkt aus den Normen der Gruppen abgeleitet werden, da Zusatzbedin­gungen mit herangezo­gen werden müssen. Die unmittelbare Verhaltensrelevanz fehlt also, trotz­dem sind soziale Normen für die vor allem langfristi­ge Prozess­steu­erung in Gruppen verant­wortlich (vgl. BATTEGAY, 1974; EICHNER, 1977).

Es bietet sich an, Muss-, Soll- und Kann-Normen zu un­terscheiden, die im Schulleben z.T. schriftlich fi­xiert sind. Andere sind latent vorhanden, aber nicht so ein­fach zu ermit­teln, wie das bei schriftlichen Normen der Fall ist. Ein weiteres Merkmal von Normen ist, dass ihre Übertre­tung Sanktionen nach sich zieht.

Die soziale Norm und das Klima sind von ihrer Konzep­tion her nahe Verwandte. Der eher soziologische Be­griff Norm und der eher psychologische Begriff Sozial­klima stehen sich unter­einander näher als beide zur 'Struktur'. Dies hat mehrere Ursachen:


1. Der methodische Zugang zur sozialen Norm und zum Sozial­klima weist starke Parallelen auf
   (s. z. B. ER­BRING & YOUNG, 1979).


2. Beide Konzepte werden oftmals über den Mittelwert von Individualdaten der Gruppenmitglieder opera­tionalisiert
   (so für die Norm: TIEDEMANN, 1980, S.17).


Die Definition von 'Norm' fällt außerordentlich schwer, weil Normen bezüglich ihres Inhaltes ähnlich vage und vieldeutig sind, wie es schon beim Begriff Sozialkli­ma gezeigt wurde. So bleibt nur ein abstrakter Defini­tionsversuch möglich:

Soziale Normen sind Bezugspunkte für Urteile und Ver­haltens­vorschriften. Sie sollen eine bessere Orien­tierung geben und die Sicherheit im Handeln fördern (BERGIUS, 1976, S.110ff). Ein ge­wisses Mass an ]ber­ein­stimmung in der Gruppe ist unerlässlich (SECORD & BACK­MAN, 1976, S.371; SEIFFKE-KRENKE, 1981, S.337).

Soziale Normen sind in erster Linie Gruppennormen. Normenge­steuertes Verhalten ist eine Folge einer Handlung, die durch eine bestimmte Situation verlangt wird (s.a. BRANDSTÄDTER, 1977; LAUTMANN, 1971). Durch die soziale Norm wird auch eine soziale Grenze der subjektiven Sichtweise einer objektiven Situation gege­ben (WAKENHUT, 1978, S.40). Es bleiben zwar noch subjek­tive Auslegungen einer Situation möglich, in Bereichen allerdings, wo sozi­ale Normen implemen­tiert sind - also in Gruppen - ist diese Möglich­keit eingeschränkt. Dies untermauert die Berechti­gung der Sozialklimaforschung.

Die operationale Definition von sozialen Normen ist ein schwieriges Unterfangen, auf das der Sozial­wissen­schaftler aber eingehen muss. Im folgenden werden in Anlehnung an EICHNER (1977) verschiedene Modelle vorge­stellt, die man als operationale Defini­tionen von Nor­men ansehen kann. Die operationale Defi­nition von Gruppennormen unterliegt der gleichen Schwierigkeit wie die operationale Definition des So­zialklimas: Beide Gruppenkonzepte lassen sich nur über Indivi­dualwerte erfassen (soweit es nicht schriftliche Muss-Normen sind). EICHNER (1977) stellt dazu drei Mo­delle vor, die soziale Norm fassbar machen sollen: Rela­tionale Reak­tionsmodelle, absolute sowie Metaperzep­tionsmodelle.


A. Relationale Reaktionsmodelle

Das Grundmodell der relationalen Reaktionsmodelle geht davon aus, dass die n-Mitglieder einer Gruppe G zu einem Zeitpunkt t unter­einander in bestimmten Relationen stehen. Diese Relationen sind psychische oder physische Reaktionen, die aus dem Verhalten V resultieren. Man kann ein relationales Reaktionsmodell als eine N x N - Matrix darstellen, in der die Elemente a(kn) stellver­tretend für die Reaktionen stehen. Damit liegt dieser Normbegriff dem Strukturbegriff nahe (Normenstruktur).

Offen ist jetzt nur noch die Frage, wie EICHNER die Reaktion inhaltlich definiert. Er unterscheidet vom Grundmodell ausgehend fünf Spezialfälle, bei denen die Reaktionen zwischen zwei Mit­gliedern einer Gruppe ver­schieden definiert sind.


a) Spezialfall Angemessenheit

Wenn das Mitglied m(i) zum Zeitpunkt t(m) das Verhalten V des Mitgliedes m(j) als angemessen empfindet, dann er­hält das Matrixelement a(ij) den Wert 1. Wird das Verhalten als nicht angemessen empfunden, dann den Wert 0.

Dieses Modell orientiert sich stark an den Konzeptionen von PARSONS, HOMANS und MERTON. Bei diesem Modell sind die Hilfsver­ben 'sollten', 'müßten' etc. in entsprech­ender Verknüpfung anzu­wenden.


b) Spezialfall Erwartung

Wenn das Mitglied m(i) zum Zeitpunkt t(m) das Verhalten V des Mitgliedes m(j) erwartet, dann erhält das Matrix­element a(ij) den Wert 1, andernfalls 0 (vgl. BASKIN & ARONOFF, 1980; SECORD & BACKMAN, 1976).


c) Spezialfall Erwartungsperzeption

Wenn das Mitglied m(i) zum Zeitpunkt t(m) eine Verhal­tenserwartung seitens des Mitgliedes m(j) wahrnimmt, dann erhält das Matrixele­ment a(ij) den Wert 1, andern­falls 0. Nach diesem Modell sind Normen umso verhal­tensrelevanter, je stär­ker eine 'gesendete' Erwartung auch vom anderen wahrge­nom­men wird.


d) Spezialfall Sanktion

Wenn das Mitglied m(i) das Mitglied m(j) nach dessen gezeigtem Verhalten belohnt (oder bestraft), dann er­hält das Matrixelement den Wert 1, andernfalls 0. Bei diesem Modell muss m(i) die Sanktion nicht unbedingt durchführen, sondern es genügt auch schon, eine Dispo­sition im Sinne von 'würde bestrafen (belohnen)'.


e) Spezialfall Verhaltensperzeption

Wenn das Mitglied m(i) zum Zeitpunkt t(m) das Verhalten von m(j) als verhaltenskonform wahrnimmt, dann erhält das Element der Matrix den Wert 1, andernfalls 0.


B. Absolutes Modell

Beim absoluten Modell geht es nicht mehr um die Bezie­hungen zwischen den Einzelmitgliedern einer Gruppe un­tereinander, son­dern um die Relation zwischen einem Mitglied und der Gesamtgrup­pe. Jedem Mitglied wird ein absoluter Wert zugeschrieben, der sein Verhältnis zur Gruppe beschreibt. Die Werte werden daher nicht als N x N - Matrix festgeschrieben, sondern als N x 1 - Vektor. Dabei können die gleichen Kriterien angelegt werden, wie bei den Relationsmodellen. Am Beispiel des Angemes­senheitsmodells soll dies gezeigt werden:

Wenn das Mitglied m(i) das Verhalten V der Gesamtgruppe G zum Zeitpunkt t(m) als angemessen empfindet, dann erhält das Vektorenelement a(i) den Wert 1, andernfalls Null. Die operationale Definition im Sinne des Modells ist an dem Verhältnis der Einsen zu den Nullen im Vektor charakterisiert.


C. Metaperzeptionsmodell

Bei dem Relations- und Absolutmodell wird eine Bezie­hung zwischen zwei Mitgliedern empirisch direkt erfasst. Nun besteht aber noch die Möglichkeit, die Beziehung zwischen zwei oder mehreren Mitglie­dern über ein drit­tes Mitglied einer Gruppe zu erfassen. Wiederum soll am Beispiel des Angemessenheitsmodells diese Kon­zeption verdeutlicht werden:

Wenn Mitglied m(k) aus der Gruppe G wahrnimmt, dass Mitglied m(i) das Verhalten V des Mitgliedes m(j) zum Zeitpunkt t(m) als angemessen empfindet, dann bekommt das Matrixelement a(ij) den Wert 1, andernfalls 0.

Alle bisher vorgestellten Modelle lassen sich durch den Vorsatz "wenn Mitglied m(k) wahrnimmt, dass ..." zu einem Metaperzeptionsmo­dell umwandeln. Auch können alle Modelle von Matrix-, über Vek­tor- zu Skalarmodellen reduziert werden. Ein Beispiel für ein Angemessenheits­skalarmodell ist: Wenn die Gruppe G das Verhalten V der Gruppe G als angemessen empfindet, dann bekommt der Skalar den Wert Eins, andernfalls den Wert Null.

Die einzelnen Modelle sind dieser Konzeption entspre­chend also sowohl inhaltlich verschieden definiert als auch in ihrer Dif­ferenziertheit unterschiedlich. Für welches Modell man sich nun entscheidet, ist nur nach theoretischen Überlegungen zu entschei­den. Problema­tisch ist sicherlich die Anwendung von Matrixmodel­len in größeren Gruppen, da hier eine sehr starke Differen­zie­rungsfähigkeit von den Einzelmitgliedern gefordert wird, die in der Praxis schlechterdings nicht vorausge­setzt werden kann.

Die Gruppensituation

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Eine Gruppensituation liegt dann vor, wenn die Indivi­duen die Gruppennormen kennen und diese auch zur Inter­pretation der Gruppensituation heranziehen (PERINBANA­YAGAM, 1981, 332). Interaktionen und Situa­tionsdefini­tionen sind nicht das, was ein Subjekt zu erkennen glaubt, sondern sind die syn­thetisierten Aktivitäten und Handlungen der Gruppenmitglieder.

Der Begriff Gruppensituation wird angemessen von WITTE definiert: Eine Gruppensituation ist "eine Situa­tion, in der man als Einzel­person veranlasst wird, das eigene Urteil (Reaktion) in Beziehung zu anderen Urteilen zu setzen" (1979, S.125). Menschliches Verhal­ten in Gruppen ist also weitgehend von diesen beeinflusst. Objekte erhal­ten ihre Bedeutung durch die Interaktion mit Mit­men­schen. Kollektives Handeln ver­läuft durch Anglei­chung indviduellen Handelns.

Diese Grundaussagen erinnern an den symbolischen Inter­aktionismus (vgl. Kap 2.2.1.3) und machen erneut deut­lich, dass indivi­duelles Handeln nicht kontextun­abhängig sein kann. Es wird weiterhin hervorgehoben, dass indivi­du­elles Handeln sich von gruppenbezo­genem Handeln durch die verschie­denen Reflexionsgrade unterscheidet. Die Kennt­nis und das Akzeptieren von Regeln und Normen erhöht die Be­reit­schaft, eigenes Handeln weniger zu reflektie­ren und sich z. B. rituellen Situationen eher zu unter­werfen (WELLENDORF, 1977). Reflexionsarmes Handeln bzw. Rituale werden so erst möglich. Die Refle­xion einer Situation durch den Ein­zelnen muss mit dem Grade ihrer Neuheit steigen (STEBBINS, 1981). Der Sinn einer Gruppenbildung wäre u.a. dann verfehlt, wenn die Mehr­zahl der Gruppen­situationen ein hohes Reflexions­ausmaß verlangen wür­den. In diesem Zusam­menhang könnte man die These ver­treten, dass in Situatio­nen mit hohem Reflexionsgrad das Handeln personenspe­zifischer aus­fällt als in stär­ker ritualisierten Handlungsab­läufen. Wol­lte man also Person-Situation-Prozesse untersuchen, so wäre das Ausmass der von der Person durchgeführten Reflexionen zu berück­sichtigen (vgl. THOMAS & ZNANIE­CKI, 1981, S.9). Dies erin­nert an eine Variable in ROT­TERs Modell (Kap. 2.2.2.1 ?): den Grad der Neuheit einer Situation.

DUNCAN (1972) stellt zwei unabhängige, bipolare Dimen­sionen vor, die zum einen die Komplexität, zum anderen die Dynamik der sub­jektiv erlebten Lernumwelt verdeut­lichen. Die eine Dimension (einfach - komplex) be­schreibt die Ausdifferenzierung der Umweltwahr­nehmung, die andere (sta­tisch - dynamisch) den Grad des wahrge­nommenen Wandels. DUNCAN nimmt an, dass die individuell wahrgenommene Unsi­cherheit in einer Si­tuation mit dem Grad der Komplexität und Dynamik der Umwelt zunimmt. Diese Annahme wird in Abbildung 3.1 verdeutlicht. Dabei zeigt sich, dass der Komplexität ein stärkeres Gewicht zukommt als der Dynamik.


Abb. 3.1: Die Abhängigkeit der wahrgenommenen Unsicher­ heit von Komplexität und Dynamik (n. DUNCAN, 1972)


WITTE (1979) hat eine genauere Analyse der Gruppensi­tuation vorgelegt, die er unter prozesshaftem Charakter zu analy­sieren suchte. Seine Abfolge von normati­ven Dimensionen sieht wie folgt aus:


Kenntnis über die Erklärung des Verhaltens in einer Gruppensituation (KE)

|
Gruppenatmosphäre (GA)
|
Verteilung der Werte der Gruppenmitglieder
|
Schwierigkeit, einen Orientierungspunkt anzuwenden (SdA)
|
Gebundenheit an frühere Beschlüsse (GFB)

|
Uniformitätsdruck (Verhalten)


Diese Abfolge hätte WITTE eigentlich auch als Kreis dar­stellen können. (Der letzte Punkt wurde von mir hinzu­gefügt.) Dieser Prozess ist bei neu zusammenge­setzten Gruppen oder neu eingeglie­derten Einzelperso­nen wohl noch sehr offen. Die Beschreibung der Einzelkompo­nenten ist hier von weniger grossem Inter­esse; es sei auf die Originalliteratur verwie­sen. Zentral für unser Vorhaben ist natürlich die von WITTE in diesen Prozess einbezo­gene Gruppenatmosphäre, die er als "das durchschnitt­liche Aus­mass der gegenseiti­gen emotional­wertschätz­enden und persönlichen Akzep­tierung in einer Klein­gruppe" defi­niert, wobei "jede Person jede andere auf einer Skala ein­schätzt, die das emo­tional-wert­schätzen­de Verhalten erfasst, das man von der Person erwartet" (1979, S.137). Damit ist hier Gruppenatmos­phäre der Kohäsion in einer Gruppe sehr ähnlich definiert. WITTE fordert aber selbst, bei detaillierteren For­schungen andere Berei­che, wie z. B. Cliquenbildung, mit einzubeziehen.

MOLLENHAUER hat bereits 1972 in einem Modell zu zeigen versucht, wie es in der Interaktion von 'Ego' und 'Alter' zur Situationsdefinition kommt (s. Abbildung 3.2). In der oberen Hälf­te des Modells sind die indivi­duellen Bedin­gungen von 'Ego' für eine Situationsdefini­tion auf­ge­zeigt. Diese Bedingungen sind auch für 'Alter' formal, aber nicht inhaltlich gültig. Die untere Hälfte der Abbildung strukturiert die Merkmale der Situ­ation, die gemeinhin als objektiv bezeichnet wer­den. Diese sind für 'Ego' wie für 'Alter' formal und inhaltlich iden­tisch, was u.a. auch für die Schüler einer Klasse zutrifft. Wie an der unteren Hälfte der Abbildung unschwer zu erken­nen ist, strukturiert und definiert Mollenhauer die objektive Situation nicht durch Merk­male, wie sie z. B. durch Vertreter einer 'environmental psychology' ver­wendet wurden, sondern nahezu aus­schließlich durch soziale Phänomene. 'Echt' objektive Merkmale werden nur dann berück­sichtigt, wenn diese 'Objekte der Kommunika­tion' werden, an­sonsten bleiben sie unberücksichtigt.


Abb. 3.2: Das Modell von Mollenhauer (1972)


Der Bezug des Sozialklimas von Schulklassen zur Insti­tution Schulklasse lässt sich demnach wie folgt umreissen (vgl. Evan, 1968):

  1. Schüler einer Klasse haben genauso Wahrnehmungen über die Klasse wie Nichtmitglieder.
  2. Schüler und Nichtmitglieder einer Klasse nehmen die Umwelt verschieden wahr. Dies liegt an den ver­schiedenen Bezugsrahmen und an den verschiedenen Eva­luationskriterien beider Gruppen.
  3. Die Wahrnehmung der Umwelt - ob sie nun mit der tatsächlichen Umwelt übereinstimmt oder nicht - hat Einfluss auf das Verhalten.
  4. Schüler mit verschiedenen Rollen und verschiedenem Status in ihrer Klasse nehmen die Umwelt verschieden wahr.
  5. Schüler, die Untergruppen in der Klasse angehören, nehmen die Umwelt deswegen unterschiedlich wahr.


Damit ist die Relevanz der Gruppensituation und deren Wahrnehmung für die Erklärung menschlichen Verhaltens ver­deutlicht. Gruppensituationen sind al­lerdings viel­fältig strukturiert, und man muss, um sichere Aussagen treffen zu können, diese Differen­ziertheit greifbar machen. Ein vielversprechender Weg liegt in der Be­schreibung der Gruppe als System. Dieser Begriff wird im nächsten Ab­schnitt auf seine Tauglichkeit hin disku­tiert.




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