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Sozialklima von Gruppen: Die Erfassung des Sozialklimas

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Methodische Probleme bei der empirischen Erfassung des Sozialklimas

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Die bisherige Darstellung sollte zeigen, dass es sich aus forschungsinternen und externen Gründen lohnt, sich mit dem Konzept des Sozialklimas zu beschäftigen. Die vorhergegangenen Kapitel bezogen sich in keiner Weise auf die methodischen Probleme der Sozialklimaforschung. Dieses ist diesem Kapitel vorbehalten und soll aus­führlich diskutiert werden, weil die Analyse der Li­teratur gezeigt hat, dass Mängel aus vielerlei Gründen vorliegen. Was nützt die Einsicht in die Notwendigkeit der Klimaforschung, wenn die empirische Umsetzung der Problemstellung nicht angemessen ist? MITCHELL z. B. hebt hervor, dass die Komplexität der Person-Situation­-Problematik bessere statistische Analysen verlangt (1969, 695). Trotzdem müssen JAMES & JONES noch Mitte der siebziger Jahre feststellen, dass die Forschung manchmal Züge trägt, als ob die Wahl der Methode eher aus Bequemlichkeit als aus dem Wunsch, neue Konstrukte zu liefern, geleitet wird (1974, 1101).

Sicher ist die Wahl der Auswertungsstrategie durch Unsicherheiten beeinflußt, die auf dem Fehlen angemes­sener Software oder auf dem Verzicht der Prüfung von Anwendungsvoraussetzungen beruhen (LISCH, 1980). Der letzte Punkt ist kein Spezifikum für die Sozialklima­forschung - im Unterschied zum ersten. Einen Ausweg aus diesem schwerwiegenden Problem bieten die sogenannten Mehr­ebenenanalysen. Diesen Ausweg gilt es allerdings genau zu begründen.

Am Anfang dieses Kapitels stehen deshalb Analysen über Voraussetzungen der bisherigen Klimaforschung (4.1 und 4.2), um zu erklären, warum traditionelle Ansätze weit­gehend versagt haben. In den Abschnitten 4.3 und 4.4 wird die Mehrebenenanalyse als adäquate Auswertungs­strategie für die Sozialklimaforschung erklärt.



Methodische Prämissen der Sozialklimaforschung

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Zur hierarchischen Strukturierung von Wirklich­keit: individuelle und kollektive Phänomene

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Einer der am häufigsten verwendeten Begriffe in der theoretischen Beschreibung von Gruppenprozessen ist der Begriff 'sozial'. Das wird auch in dieser Arbeit augen­fällig, und zwar immer dann, wenn vom 'Sozialklima in Schulklassen' und vom 'Sozialsystem Schulklasse' ge­sprochen wurde. Was aber bedeutet 'sozial'? In der traditionellen Soziologie wird der Begriff häufig mit den Termini 'kollektiv' 'gruppenhaft' oder 'zwischen­menschlich' assoziiert (LINDENBERG, 1977). Zudem scheint er ein Antipode zu den Begriffen individuali­stisch', 'idiosynkratisch' oder 'persönlich' zu sein.

Dieser Gegensatz wurde schon im Altertum Grundlage verschiedener Denkeinstellungen. PLATO sprach von einem den Individuen 'übergeordneten Organismus', der Kultur schlechthin überlebensfähig macht. Kein geringerer als ARISTOTELES war es, der das Individuum in den Mittel­punkt rückte und demnach Kultur nur als Ergebnis des Zusammenwirkens von Individuen betrachtete (BERGIOS, 1976). Diese beiden Denkrichtungen haben sich bis heute erhalten. OPP & HUMMEL (1973) unterscheiden beispiels­weise innerhalb der Soziologie zwei Strategien zur Beschreibung von sozialen Phänomenen:


  • den holistischen Ansatz, bei dem Soziologie als Ma­kro-Soziologie verstanden und das System als autonome Entität erfaßt wird,
  • sowie den Mikroansatz, bei dem das Individuum Einheit der Analyse ist.


Aber nicht nur innerhalb der Soziologie, sondern auch bei dem Vergleich der beiden Wissenschaftsrichtungen Psychologie und Soziologie wird der Dualismus deutlich. HUMMEL & OPP (1971) haben zur wissenschaftstheoretischen Begründung ihrer verhaltenstheoretisch orientier­ten Soziologie die These gewagt, daß kollektive Phäno­mene grundsätzlich auf individuelle Phänomene reduzier­bar sind. Diese heftig diskutierte Reduktionismusthese' baut auf dem vermeintlichen Gegensatz von Sozio­logie und Psychologie auf: Als psychologisch werden alle Aussagen bezeichnet, deren Subjekte menschliche Organismen (Individuen, Personen) sind. Als soziolo­gisch werden solche Aussagen definiert, deren Subjekte menschliche Kollektive (Gruppen, Aggregate, soziale Systeme) sind.


Die Autoren stellen drei Behauptungen auf, die die Reduktionismusthese kennzeichnen:


a. Begriffe der Soziologie sind durch Begriffe der Psychologie definiert.
b. Singuläre Ereignisse, die durch soziologische Aus­sagen beschrieben werden, können durch psychologische Hypothesen erklärt werden.
c. Soziologische, gesetzesartige Aussagen sind in ihrer ursprünglichen oder in einer modifizierten Form aus psychologischen Aussagen logisch ableitbar (1971, 7).


Nachdem die Autoren einige kollektive, soziologische Begriffe auf psychologische Hypothesen reduzieren konn­ten, kamen sie zu folgendem Ergebnis, das in seiner Tragweite - wenn zutreffend - verheerende Folgen für die Soziologie als Wissenschaftsdisziplin haben müßte: "Das Ergebnis unserer Untersuchung war, daß wir keinen einzigen soziologischen Begriff gefunden haben, der nicht durch einen psychologischen Begriff definierbar ist, und daß wir keine einzige soziologische Hypothese gefunden haben, die nicht aus einer psychologischen ableitbar ist" (1971, 10).

Kollektivphänomene sind demnach anscheinend gänzlich durch Individualphänomene zu erklären. Ist also das Ganze doch nicht mehr als die Summe seiner Teile (vgl. TOPITSCH, 1967)?

Das Vorgehen von OPP & HUMMEL ist ein Spezialfall des methodologischen Individualismus (vgl. LENK, 1977). Diese Denkensart konnte sich trotz aller Bemühungen nicht durchsetzen, wurde sogar als 'soziologisch naiv' bezeichnet (LINDENBERG, 1977). Andererseits aber kann man leicht feststellen, daß Soziologen bei dem Versuch, soziale Mechanismen zu erklären, immer wieder auf indi­vidualistische Positionen zurückgreifen (vgl. LANGEN­HEDER, 1973a, 49ff). Ein Ergebnis der hier nicht näher diskutierten Reduktionismusdebatte ist, daß kollektive Phänomene zwar tatsächlich vorhanden sind, aber nur durch den Bezug zur individuellen Ebene erklärt werden können.

Wenn diese Annahme stimmt, dann fragt man sich, wer oder was eigentlich individuelle und kollektive Tat­bestände verbindet. LINDENBERG (1977) spricht hierbei vom Transformationsproblem. Wie man transformiert, ist ein in erster Linie theoretisches Problem und die Da­tenanalyse zwischen zwei oder mehreren Ebenen eine notwendige Folge davon.

Im weiteren gilt es deshalb, auf dem Hintergrund dieser Problematik das Sozialklima als kollektives Phänomen näher zu beleuchten und das Transformationsproblem für dieses Konstrukt zu lösen.



Das Sozialklima von Schulklassen als kollektives Phänomen

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In der bisherigen Forschung wird das Sozialklima als kollektives Phänomen betrachtet. Auch diese Arbeit steht in dieser Tradition. Offen blieb bisher aller­dings die Frage, warum das Sozialklima z.B. als 'ge­meinsame Erlebensweise' definiert wird. Der dahin­terstehende Mechanismus ist ungeklärt. Man kann aller­dings durch das HEMPEL-OPPENHEIM-Schema (H-O-Schema) - trotz aller Kritik seitens der Sozialwissenschaften am deterministischen Gesetzesbegriff - ein hypothetisch­deduktives Erklärungsmodell skizzieren, welches Auf­schluß über die im vorherigen Abschnitt problemati­sierte Beziehung von individuellen und kollektiven Phänomenen geben kann. Das allgemeine H-O-Schema, über­tragen auf das vorliegende Problem. sieht wie folgt aus (LINDENBERG, 1977):


Abbildung 4.1: Die Transformation von individuellen Effekten zu einem kollektiven Effekt.


Die erklärten individuellen Effekte innerhalb eines Kollektivs werden ebenso wie die Randbedingungen und die Transformationsregel zum Explanans des 'Kollektiven Effekts'. Die Transformationsregel definiert die Art der Beziehungen zwischen den Bedingungen. Jeder kollek­tive Effekt ist eine Bedingungskonstellation individu­eller Effekte. Aus diesem Grunde können kollektive Effekte Individuen nicht zugeschrieben werden. So las­sen sich kollektive Phänomene, so z.B. das Sozialklima, nicht an individuelle Effekte knüpfen, wie es etwa OPP & HUMMEL mit Hilfe ihrer 'Koordinationsregeln' wohl versuchen würden, da damit die Bedingungskonstellation noch unaufgeklärt wäre. Für das kollektive Phänomen 'Sozialklima' ist eine Transformationsregel relevant, wie sie LINDENBERG (1977) vorgestellt hat: Wenn die Bedingungen (1,2,...n) zutreffen, dann folgt logisch der kollektive Effekt (s. Abb. 4.2).


Abbildung 4.2: Die Implikationsaussage als Transformationsregel (LINDENBERG, 1977).


Nach diesem Muster scheinen die Definitionen zum Sozi­alklima formuliert worden zu sein. Folge dieser theore­tischen Vorgehensweise ist eine bestimmte Form der Aggregierung der Individualdaten in der Datenanalyse. Im folgenden werden Formen von Aggregatbildungen be­schrieben und schließlich die in der Sozialklimaforschung vorherrschende Aggregierungsform kritisiert.



Formen der Aggregierung

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Aggregierung bedeutet das Zusammenfassen von einzelnen Partikeln zu einem Ganzen. Man mag es auch mit Verei­nigung, Versammlung, Zusammenfügung oder linearer Transformation bezeichnen. Desaggregierung ist der entsprechend umgekehrt verlaufende Prozeß (FEIGE & WATTS, 1972). Man kann aus verschiedenen Gründen aggre­gieren: Einmal kann eine Aggregierung schlicht dem Ziel dienen, Komplexität i.S. LUHMANNs zu reduzieren. Zum anderen muß man aggregieren, weil ein evtl. vorhan­denes, theoretisches Konstrukt nur dadurch empirisch sinnvoll erfaßt werden kann.

In der wissenschaftlichen Literatur wird das Aggregie­ren häufig mit qualitativ verschiedenen Ebenen (z.B. Individuum-Gruppe) in Zusammenhang gebracht. Dies ist richtig, aber engsichtig, denn es gibt verschiedene Formen der Aggregierung, die im folgenden kurz dar­gestellt werden sollen:


a) Die wichtigste Form der Aggregierung ist die 'theo­retische' Aggregierung (ROBERTS, HULIN & ROUSSEAU, 1978). Diese liegt immer dann vor, wenn menschliches Verhalten in Organisationen nur durch organisationsspe­zifische Kriterien erklärt werden kann. Dies kann nur über ein hypothetisches Konstrukt geschehen, welches ausschließlich über die Aggregierung von Individualda­ten nachgebildet werden kann. Diese Form der Aggregie­rung liegt in der Sozialklimaforschung vor.
b) Eine weitere Form der Aggregierung besteht darin, Klumpenstichproben (z.B. Klassen oder Schulen) aus einer Population von Organisationseinheiten zu ziehen. Dabei werden - größtenteils unbeabsichtigt - Indi­vidualdaten aggregiert, obwohl diese Aggregierung theo­retisch nicht gerechtfertigt werden kann (s. v. SALDERN, 1982).
c) Die dritte Form der Aggregierung wird meist ebenso unreflektiert vollzogen: das Zusammenfassen von Varia­blen, die zu verschiedenen Zeitpunkten erhoben wurden. Beispielsweise werden bei einer Querschnittuntersu­chung, bei der der erste und letzte Meßzeitpunkt aus praktischen Erwägungen sieben Tage auseinander liegen, die Daten so verrechnet, als seien die Erhebungen alle zum gleichen Zeitpunkt verlaufen. Ein Einfluß der Zeit wird stillschweigend als nicht vorhanden angenommen.
d) Eine letzte, sehr einfache Form der Aggregierung, ist die Bildung von Skalensummenwerten z.B. bei Frage­bogen. Diese Vorgehensweise ist nur dann zulässig, wenn die Ladungen der einzelnen Items auf dem Faktor gleich sind. Dies läßt sich mit Faktorenanalysen überprüfen. Deshalb ist diese Form der Aggregierung weniger proble­matisch.


Aggregierung - so läßt sich zusammenfassen - gehört in vielfältiger Form zum alltäglichen Handwerk des empi­risch orientierten Forschers (s. ergänzend BLALOCK, 1971) und muß als gewichtige Fehlerquelle angesehen werden.


Zu klären ist noch, wann so aggregiert werden darf, wie es in der Sozialklimaforschung bisher geschehen ist. Nach CONRAD & SYDOW (1981, 17) sind folgende Bedingun­gen zu beachten:


  • Die individuellen Werte beschreiben die wahrgenommene Situation,
  • die situativen Bedingungen werden von den Mitgliedern einer Gruppe ähnlich beschrieben,
  • die Aggregierung betont die wahrnehmungsmäßige Ähn­lichkeit der individuellen Wahrnehmungen.


Ob und wie diese Bedingungen in der Sozialklimafor­schung Berücksichtigung fanden wird im nächsten Ab­schnitt diskutiert werden.



Zur Wahl der Analyseebene

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In der Literatur werden immer wieder zwei Begriffe durcheinandergebracht: die Beobachtungsebene und die Analyseebene. Die Beobachtungsebene ist die Ebene, auf der die Daten erhoben werden. Die Analyseebene ist die Ebene, auf der die Daten verarbeitet werden und auf der die Interpretationen beruhen. Wenn man das Sozialklima von Schulklassen erfassen will, so geschieht dies z.B. über die individuelle Befragung des einzelnen Schülers (Beobachtungsebene). Nach Aggregierung auf Klassenebene folgen weitere Analysen und schließlich die Interpre­tation der Daten (Analyseebene).

Die begründete Wahl der theoretisch angemessenen Ana­lyseebene scheint immer noch Stiefkind der empirischen Forschung zu sein (vgl. POYNOR, 1974). BRIDGE, JUDD & MOOCK kommen nach Durchsicht der Literatur zu der er­nüchternden Feststellung, daß allzu viele Forscher die Wahl der Analyseebene nicht ihrer Fragestellung anpas­sen (1979, 286). Es gibt prinzipiell nur eine Entschei­dung, die richtige Analyseebene zu wählen: die logisch­inhaltliche Begründung (s. BARCIKOWSKI, 1981, 269; WAKENHUT, 1978, 72). Man vergleiche dazu die Diskussion in dem Artikel von BIDWELL & KASARDA (1975; ALEXANDER & GRIFFIN, 1976; HANNAN. FREEMAN & MEYER, 1976)


Es gibt aber auch andere Arten der Begründung:

Wenig überzeugend wirkt die Rechtfertigung, die RENTOUL & FRASER (beide Protagonisten einer Veröffentlichungsin­flation) geben: "Wegen der kleinen Stichprobe wurde die individuelle Ebene statt des Mittelwerts als Analyse­wert für die statistische Analyse herangezogen" (1979a). Die Wahl zwischen Individualwert und Mittel­wert darf immer nur theoretisch abgeleitet sein und nicht Resultat rein forschungsökonomischer Überlegun­gen. Hier zeigt sich sehr deutlich, wie wenig sensibel die Untersuchungsansätze zum Sozialklima sind. Bei MOOS bleibt gar die Analyseebene unklar (MOOS, 1974a, 144; 1979b, 24), was aber schon gar nicht mehr verwundert, weil oft auch andere für einen empirischen Bericht wesentliche Angaben weggelassen werden, z.8. die Pro­blematik um die Stichprobenziehung: Bei der Analyse­ebene Klasse zieht man Klumpenstichproben und keine re­präsentativen Stichproben von Schülern (vgl. WOTTAWA, 1981; v. SALDERN, 1982), wie oft angenommen wird. Diese Tatsache müßte sich auf die Auswertung nieder­schlagen.

Bei aller Kritik soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß das Problem um die Wahl der Analyseebene z.T. er­kannt wurde, ohne allerdings befriedigende Lösungen anzubieten (TRICKETT & HILKINSON, 1979; WALBERG, 1972; WALBERG & HAERTEL, 1980).

Anzustreben ist eine adäquate Theorie-Praxis-Passung. In unserem Falle ließen sich z.B. folgende Begründungen für die Wahl der Analyseebene 'Klasse' geben: Man kann erstens davon ausgehen, daß Schüler in Klassen nicht nur Individuen sind, da die ablaufenden sozialpsy­chologischen Prozesse in der Gruppe eine eigene Quali­tät haben, die mehr darstellt als die Summe der Indivi­duen in dieser Gruppe. Dementsprechend ist das Schüler­verhalten auch immer durch das soziale Umfeld 'Schulklasse' determiniert. Eine zweite mögliche Be­gründung für die Analyseebene 'Klasse' kann in einem Design liegen, in dem bestimmte Lehrer bestimmten Treatments zugewiesen werden. Die individuelle Ana­lyseebene muß dann gewählt werden, wenn nicht-kontext-bezogene Variablen bei Individuen erhoben werden sol­len.

Diese werden aber in der Praxis kaum anzutreffen sein. GEBERT & v.ROSENSTIEL (1981) weisen mit allem Nachdruck darauf hin, daß die sozialen Bedingungen maßgebliche Einflußfaktoren auf das Individualverhalten sind (siehe dazu Abb. 4.3).

Offen bleibt dabei, wie man Individualverhalten erklä­ren kann, denn die entscheidende Frage ist nicht, wel­che Analyseebene grundsätzlich gewählt werden sollte, sondern welche Analyseebene für welche Variable gewählt wird.


Abbildung 4.3: Die Verknüpfung von Kontext- und Individualebene.


B. D. ANDERSON (1972) stellt für die Sozialklimaforschung vier mögliche Gleichungen auf:


1. Individualverhalten = f (individuelle Umweltwahr­nehmung + individuelle Hintergrundvariable)
2. Individualverhalten = f (durchschnittliche Umweltwahrnehmung + individuelle Hintergrundvariable)
3. Individualverhalten = f (durchschnittliche Umwelt­wahrnehmung + aggregierte Hintergrundvariable)
4. Gruppenverhalten = f (durchschnittliche Umwelt­wahrnehmung + aggregierte Hintergrundvariable)


Diese Gleichungen lassen sich beliebig erweitern. Deut­lich wird an ihnen, daß rechts des Gleichheitszeichens Effekte verschiedener Ebenen miteinander verknüpft werden können. Es geht also im folgenden nicht mehr um die Auswahl einer Analyseebene, sondern um den simulta­nen Einbezug mehrerer Ebenen.


Welche Ebenen gibt es? HUMMEL (1972) unterscheidet die Analyseebenen in 'Gegenstände' n-ter Ordnung: Gegen­stand erster Ordnung ist die Person, zweiter Ordnung, z.B. die Clique, dritter Ordnung die Klasse, vierter Ordnung die Schule etc..


Dieser Ansatz ist damit offen für eine differenziertere Sichtweise, wie z.B. bei WELZ (1974), der folgende 'so­ziologische Objektbereiche' unterscheidet:


   Individuen
    Cliquen
   Gruppen
Organisationen
Lokale Gemeinschaften
 Gesamtgesellschaften


Diese hierarchische Gliederung sozialer Realität sollte nach DIEDERICH (1975) schon längst in die Methodologie der Unterrichtsforschung eingegangen sein, was aus Mangel an Theorie und Forschung bisher nur sporadisch geschah.

Wenn man sich für eine bestimmte Ebene entscheidet, so sollte man sich darüber im klaren sein, daß der Einfluß der Variablen mit der Entfernung der Untersuchungsein­heit, der sie entstammen, zur individuellen Ebene hin abnimmt. Sehr anschaulich ist dies bei den Schulver­gleichsuntersuchungen geworden: Die Variable 'Schulsy­stem' konnte nur bedingt Schülerverhalten erklären, im Gegensatz zu hierarchisch tiefer liegenden Variablen.

Offen bleibt das Problem, wie das Sozialklima stati­stisch abgebildet werden kann.



Das Problem der Indexbildung

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Allen genannten Definitionsansätzen zum Sozialklima (s. Kap. 2. 1. 3) ist ein Merkmal gemeinsam: Sozialklima ist ein Gruppenphänomen, das etwas über den Konsens der Wahrnehmung aussagt (SINCLAIR, 1977). Nun ist für die empirische Forschung eine Frage von zentraler Bedeu­tung: Wie kommt man zu einem Gruppenwert, der das Sozialklima adäquat wiedergibt? Sozialklima wird über­wiegend durch die gesammelten Urteile der Mitglieder einer Gruppe (z.B. Schüler einer Klasse) erfaßt. Welche Möglichkeiten gibt es nun, von den Individualwerten zu einem Gruppenwert zu gelangen? Folgende Wege bieten sich an (vgl. BLAU, 1979; LOHNES, 1972):


a) der Gruppenwert als kleinster gemeinsamer Nenner der Individualwerte,
b) der prozentuale Anteil von Zustimmung/Ablehnung als Index,
c) der Gruppenwert als Summe oder Mittelwert der Indi­vidualwerte.


Im folgenden werden diese Möglichkeiten diskutiert:


Zu a) Sozialklima als kleinster gemeinsamer Nenner

Wenn man davon ausgeht, daß jedes Mitglied einer Gruppe zu einem Aspekt des Sozialklimas ein Urteil abgibt, so wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit zu verschieden hohen Ausprägungen kommen. Manche Gruppenmitglieder werden positivere, manche negativere Stellungnahmen abgeben: So wird z. B. 'Kohäsion' als weniger stark ausgeprägt oder als stark ausgeprägt wahrgenommen wer­den. Nun werden alle Mitglieder einer Gruppe die Kohä­sion mindestens so stark empfinden wie das Mitglied der Gruppe, welches die Kohäsion am schwächsten wahrnimmt. Der schwächste Individualwert wird bei dieser Art der Indexbildung als Gruppenwert herangezogen. Man mißt damit die Kohäsion einer Klasse an ihrem schwächsten Punkt wie eine Kette, die so stark ist wie ihr schwäch­stes Glied. Unter diesem Aspekt ist diese Vorgehens­weise sicherlich vertretbar.


Abb. 4.4: Der kleinste gemeinsame Nenner als Sozialkli­maindex.


In Abb. 4.4 wird deutlich, daß der niedrige Wert des Schülers mit der Nummer 4 bei diesem Konzept der Index­wert ist. Dabei gingen die hohen Werte der Schüler 1-3 verloren. Im Extremfall würden also Außenseiterwerte Beschreibungsmerkmale der Gruppe werden. Aus diesem Grunde konnte sich dieser Index nicht durchsetzen.



Zu b) Prozentualer Anteil

FEND (1977) diskutiert eine Art der Indexbildung, die bisher sehr selten herangezogen wurde: Ein vom Forscher festgesetzter prozentualer Anteil von Schülern in einer Klasse, die einer Klimadimension zustimmen, wird als 'Konsens' und damit als Klimaindex angesehen.


In unserem kleinen Beispiel in Abb. 4.5 haben sich zwölf von 18 Schülern(= 66,6%) positiv zur Kohäsion in ihrer Klasse geäußert. Damit wird eine z.B. auf 60% festgelegte Grenze für das Eintreten eines Konsens weit überschritten und gefolgert, daß in dieser Klasse Kohä­sion positiv wahrgenommen wird­


Abb. 4.5: Der prozentuale Anteil der Zustimmung/Ab­lehnung einer Dimension als 'Konsens'.


Der Nachteil dieses Vorgehens besteht darin, daß die nicht unter den Konsens fallenden Restschüler unberücksichtigt bleiben.



Zu c) Sozialklima als Summe oder Mittelwert der Individualwerte

Eine andere Möglichkeit, der Summenwert, ist allerdings unbefriedigend, da die Anzahl der Mitglieder einer Gruppe den Wert entscheidend bestimmt. Dieser Nachteil kann vermieden werden, wenn die Summe an der Anzahl der Gruppenmitglieder relativiert wird, woraus bekannter­maßen der Mittelwert resultiert. In diesen Index werden im Gegensatz zu a) alle Individualwerte einer Gruppe einbezogen. Allerdings verschwinden durch die Mittel­wertbildung die Varianzen der Klasse, wie Abb. 4.6 verdeutlicht.


Abb. 4.6: Der Mittelwert als Sozialklimaindex.


Die Diskussion um Summe und Mittelwert ist - unabhängig von der Problemstellung in der Sozialklimaforschung - eine alte Frage im Rahmen des Emergenzproblems, was im folgenden kurz umrissen wird.

NAGEL (1967) machte sich Gedanken über die Aussage 'Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile'. Die Viel­falt seiner Überlegungen läßt sich hier kaum wiederge­ben, aber ein wesentlicher Punkt sei herausgegriffen.

Die Aussage 'Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile' ist teils richtig, teils falsch. NAGEL gibt dazu ein Beispiel: Setzt man vier gleiche Quadrate zu einem großen Quadrat zusammen, so stimmt die Aussage nicht, denn in diesem Falle ist das Ganze notwendig die Summe seiner Teile. Betrachtet man nun die musikalische Note als Teil einer Melodie, so wird niemand auf den Gedan­ken kommen, eine Melodie nur als Summe von Noten zu betrachten. Auch in der Gestaltpsychologie ist dieser Gedankengang zentral. Damit ist das Emergenzproblem umrissen. Unter diesem Aspekt ist die alleinige Verar­beitung des Mittelwertes in der Erforschung des Sozial­klimas ungeeignet.

DREESMANN (1980a) zieht zu der Indexbildung durch den Mittelwert noch ein weiteres Kriterium hinzu: Der Mit­telwert wird durch solche Items gebildet, die eine geringe Streuung haben. Dies ist wie folgt begründet: Wenn man den - so DREESMANNs Definition - 'gemeinsamen Erlebensanteil' der Schüler einer Klasse ermitteln will, so darf man bei der Fragebogenkonstruktion nur solche Items verwenden, die von den Schülern relativ gleichartig beantwortet wurden.

Diese Argumentation scheint einzuleuchten, hat aber erhebliche Nachteile. Wenn man sich nämlich fragt, ob das Sozialklima überhaupt ein gerechtfertigtes Konzept gegenüber der individuell wahrgenommenen Umwelt ist, so kann man diese Frage mit DREESMANNs Vorgehen nicht beantworten: Das Ergebnis wird immer den Sozialklimaan­satz bestätigen. Ein weiterer Nachteil liegt darin, daß man evtl. sehr reliable Skalen oder sehr trennscharfe Items aufgibt, weil sie eine zu große Streuung haben. Wenn der Sozialklimaansatz theoretisch gerechtfertigt ist, muß er sich in den Ergebnissen auch dann nieder­schlagen, wenn die Methode offener - und damit konser­vativer - ist als die DREESMANNs.

Unter Vernachlässigung von Gegenargumenten (NISCHEL, 1979; THELEN & WITHALL, 1949) hat sich die Mittel­wertbildung in der Forschung zum Sozialklima eindeutig durchgesetzt. Mit dieser wohl rein statistisch begrün­deten Indexbildung wurde aber auch eine Entscheidung über die Qualität des Konstruktes Sozialklima getrof­fen: Durch diese Indexbildung wird das Sozialklima zu einem sog. 'analytischen Merkmal' (vgl. für die Sozio­logie: BLALOCK & WILKEN, 1979).

Was ist ein analytisches Merkmal? Wir schließen uns der Definition von LAZARSFELD & MENZEL (1961) an. Sie un­terscheiden drei Arten von Variablen, die für Mengen und Individuen definiert sind (vgl. TREIBER, 1980b, 167):


- die 'analytischen Variablen' , die man durch "An­wendung einer mathematischen Operation auf Variablen, welche für Individuen definiert sind", erhält,
- die 'strukturellen Variablen' , die man durch "Anwendung einer mathematischen Operation auf elementare Informationen erhält, die die Beziehungen jedes Indi­viduums mit bestimmten anderen oder allen anderen Individuen betreffen" (z.B. Klassifikation von Klas­sen aufgrund des Anteils von 'Isolierten' im soziome­trischen Sinne),
- die 'globalen Variablen' , die aus Informationen kon­struiert werden, die sich nicht auf Individuen bezie­hen (z.B. wenn die Bequemlichkeit von Stühlen für Schüler an der Stuhlhöhe gemessen wird; zit. nach BOUDON, 1976, 466).


Für die Forschung läßt sich zusammenfassend festhalten: Die definitorischen Ansätze verlangen eine Bildung eines Sozialklimaindex aus den individuellen Wahr­nehmungen der einzelnen Schüler einer Klasse. Als Ana­lyseebene wird die Klasse bevorzugt. Der Mittelwert wird als Index gewählt. Nach Erhebung der Daten stellt sich nun die Frage, wie sie weiter verarbeitet werden. Da in der Sozialklimaforschung vorwiegend korrelations­statistische Verfahren verwendet wurden, wird im näch­sten Abschnitt die Frage nach der Schätzung des Popula­tionskorrelationskoeffizienten gestellt werden. Vor allem mit der Indexwahl wird eine Reihe problematischer Sachverhalte übersehen oder in Kauf genommen, die Ge­genstand der weiteren Darstellung sein werden.



Zusammenfassung

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Nachdem sich sowohl in der theoretisch orientierten als auch in der empirischen Literatur gezeigt hat, dass die Sozialklimaforschung ihre Berechtigung hat, muß eine Analyse der bisherigen Forschungsmethoden erfolgen. Ein Problem ist die Bildung einer Kollektivaussage aus Individualaussagen (Transformationsproblem).

Praktisch wurde die Transformation durch Aggregierung von Individualwerten durchgeführt. Es gibt verschiedene Formen der Aggregierung, weshalb die Auswahl einer bestimmten Prozedur klar begründet werden muß.

Mit der Aggregierung ergibt sich die Frage, zu welcher Ebene aggregiert werden soll. Diese Wahl der Analyse­ebene muß theoretisch hergeleitet werden und darf nicht undiskutiert bleiben.

Aggregierung bedeutet immer, daß ein Aggregierungsindex gefunden und begründet werden muß. Es bieten sich eini­ge Alternativen an, von denen sich der Mittelwert als sinnvolle Größe eindeutig durchgesetzt hat. Die derzeit vorliegenden Begründungen dafür bleiben allerdings unbefriedigend.


Zusammenfassend kann man festhalten, dass Aspekte der spezifischen Methodik der Sozialklimaforschung unge­prüft übernommen wurden oder mit z.T. naiven Begründun­gen unterlegt worden sind. Dies kann schwerwiegende Folgen haben, wie z.B. die Fehlinterpretation von For­schungsergebnissen. Mit diesem Problem beschäftigt sich der nächste Abschnitt.




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