Da die Sinusfunktion üblicherweise geometrisch definiert ist, ist eine exakte Berechnung ausschließlich mit Methoden der Analysis nicht möglich. Je nachdem, welche geometrischen Eigenschaften vorausgesetzt werden, gibt es unterschiedliche Zugänge zur Differentiation der Sinusfunktion.
Setzt man den Begriff der Bogenlänge als bekannt voraus, so lässt sich die Ableitung der Sinusfunktion mit Hilfe der Definition des Sinus am Einheitskreis berechnen, wobei der Winkel zweckmäßigerweise im Bogenmaß angegeben wird.
Aus der Skizze kann man folgende Zusammenhänge erkennen. ist das Bogenmaß zum Sinuswert. Im Einheitskreis ist
Ändert sich der Bogen um das Maß , so ergibt sich auch das Maß .
Denkt man sich gegen Null gehend, so ergeben sich zwei ähnliche Dreiecke ABC und EDC.
Setzt man diese ins Verhältnis, so erhält man
Obige Berechnung der Ableitung beruht auf dem nicht elementaren Begriff der Bogenlänge; es ist nicht so einfach zu zeigen, dass die Länge des Kreisbogens einfach durch die Länge der Sehne angenähert werden darf. Eine andere Berechnung der Ableitung der Sinusfunktion, die auf Flächenüberlegungen beruht, vermeidet dieses Problem.
Für diesen Zugang interpretiert man den Winkel als doppelten Flächeninhalt des zugehörigen Sektors am Einheitskreis, analog zu den Umkehrfunktionen der Hyperbelfunktionen. Numerisch ist das zwar derselbe Wert wie das Bogenmaß, diese Interpretation vermeidet aber die Problematik der Bogenlänge.
Betrachtet man in nebenstehender Abbildung die Punkte und und ist in Bogenmaß gegeben, so hat das Dreieck (rote Fläche) den Flächeninhalt, der Kreissektor (rote plus orange Fläche) den Flächeninhalt , und das Dreieck (rote plus orange plus gelbe Fläche) den Flächeninhalt Da eine Fläche jeweils die vorige umfasst, gilt erstens
, also ,
und zweitens
, also ,
insgesamt also
und daher
.
Für die Ableitung der Sinusfunktion ergibt das
.
Analytische Berechnung der Ableitung mit der Bogenlänge
Leopold Vietoris hat im September 1956 auf dem vierten österreichischen Mathematikerkongress in Wien eine Berechnung der Ableitung der Sinusfunktion vorgestellt, die im Wesentlichen nur die Additionstheoreme und Monotonie und Stetigkeit der Sinus- und Kosinusfunktion benötigt. Sei ein Winkel mit . Dann folgt aus mehrmaliger Anwendung der Additionstheoreme
.
Setzt man
,
und
,
so lässt sich leicht zeigen, dass
gilt. Daher konvergiert die Folge , und für den Grenzwert gilt
.
Die Folge konvergiert somit ebenfalls und der Grenzwert erfüllt und . Aus der Stetigkeit der Kosinusfunktion bei folgt, dass der Cauchyschen Funktionalgleichung genügt:
Da monoton steigend ist, ist ebenfalls monoton steigend und hat daher als monotone Lösung der Cauchyschen Funktionalgleichung notwendigerweise die Form
,
wobei eine Konstante ist. Es gilt also . Aus folgt und daher
definierte Konstante ? Wie sich geometrisch zeigen lässt, ist
der Umfang des dem Einheitskreis eingeschriebenen regelmäßigen -Ecks und
der Flächeninhalt. Analytisch wurde bereits gezeigt, dass diese Folgen konvergieren; geometrisch anschaulich sind die Grenzwerte Umfang bzw. Fläche des Einheitskreises. Mit der geometrischen Definition der Kreiszahl gilt also
sowie
.
Es gilt also
.
Dieser Grenzwert lässt sich als analytische Definition von verwenden, wobei zu beachten ist, dass die dabei verwendete Folge die genaue Kenntnis der Sinusfunktion nicht voraussetzt, da sie wegen