Fall 2
Autor: Felix Krämer
Schwierigkeitsgrad: Hauptfall: Zwischenprüfungsklausur; Abwandlung: Examensniveau; Bearbeitungszeit Hauptfall: 2h; mit Abwandlung 2,5h
Sachverhalt
[Bearbeiten]M ist deutscher Staatsangehöriger und betreibt einen Kiosk gegenüber des Hauptgebäudes einer Universität. Er bietet neben Lebensmitteln, Zeitschriften und einfachen Haushaltsutensilien auch eine Vielzahl an gekühlten Getränken an. Dieses Angebot wird insbesondere in den Sommermonaten von Personen, die sich auf dem gegenüberliegenden öffentlichen Platz treffen, rege wahrgenommen. Überwiegend wird hierbei aufgrund der örtlichen Nähe jeweils nur ein Getränk gekauft, sodass an einem schönen Sommerabend üblicherweise mindestens 500 einzelne Flaschen über die Ladentheke gehen. Im Übrigen wird der Kiosk des M weitgehend von ihm ebenfalls unbekannter Laufkundschaft frequentiert.
Nach dem Jahreswechsel 2019/2020 wird M mit der sachlich auf ihn anwendbaren Regelung des § 146a II Abgabenordnung (AO) konfrontiert, die in der aktuellen Debatte als „Bonpflicht“ bezeichnet wird. Hierin sieht er, ebenso wie viele weitere kleinere Betriebe, einen unzulässigen staatlichen Übergriff in seine Erwerbstätigkeit. Als Begründung wird etwa vorgebracht, dass die Kundschaft sich – was zutrifft – überwiegend nicht für entsprechende Belege interessiere, sodass diese auf direktem Weg in den Müll wanderten. Dabei bliebe unklar, wie dies der durch das Gesetz verfolgten „verstärkten Transparenz im Kampf gegen Steuerbetrug“ dienen kann. Die neue Regelung widerspreche zudem dem staatlich gesetzten und in Art. 20a GG normierten Ziel des Umweltschutzes, da so unnötig Papier verbraucht werde. Dass in § 146a II 2 AO ein Befreiungsvorbehalt normiert sei, würde den Eingriff in die „Gewerbefreiheit“ nicht ausreichend abmildern.
Die Gesetzesbegründung für § 146a II AO führt hingegen aus, dass die verpflichtende Erstellung von Belegen nach der Einschätzung des Gesetzgebers ein adäquates Mittel sei, um durch einen Abgleich der ausgestellten Bons mit den in der Kasse enthaltenen Daten eine Manipulation der Kassensoftware festzustellen. Hierdurch könne Steuerbetrug effektiver bekämpft werden. Dies würden auch (tatsächlich belegbare) Erfahrungen in anderen Staaten bestätigen. Zudem sei die Ausstellung des Bons in Papierform nach der gesetzlichen Ausgestaltung nicht zwingend – mit dem Einverständnis der Kundin/des Kunden sei auch eine elektronische Übermittlung des Bons etwa per App oder E-Mail möglich. Letzteres sei auch bei der Prüfung der Auswirkungen der „Bonpflicht“ auf die Umwelt berücksichtigt worden, welche insgesamt durch den Gesetzgeber in Anbetracht des verfolgten Ziels als hinnehmbar bewertet wurden.
Auf § 146a II AO wird hingewiesen:
§ 146a Ordnungsvorschrift für die Buchführung und für Aufzeichnungen mittels elektronischer Aufzeichnungssysteme
(..) (2) Wer aufzeichnungspflichtige Geschäftsvorfälle im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 erfasst, hat dem an diesem Geschäftsvorfall Beteiligten in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem Geschäftsvorfall unbeschadet anderer gesetzlicher Vorschriften einen Beleg über den Geschäftsvorfall auszustellen und dem an diesem Geschäftsvorfall Beteiligten zur Verfügung zu stellen (Belegausgabepflicht). Bei Verkauf von Waren an eine Vielzahl von nicht bekannten Personen können die Finanzbehörden nach § 148 aus Zumutbarkeitsgründen nach pflichtgemäßem Ermessen von einer Belegausgabepflicht nach Satz 1 befreien. Die Befreiung kann widerrufen werden. (…)
Die übrigen Bestimmungen der AO sind bei der Bearbeitung außer Acht zu lassen.
Fallfrage
[Bearbeiten]M erhebt „gegen § 146a Abs. II AO“ Verfassungsbeschwerde.
Bearbeitungsvermerke:
Prüfen Sie die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde.
Gehen Sie hierbei davon aus, dass der Verkauf von Ware im Kiosk einen aufzeichnungspflichtigen Geschäftsvorfall i.S.d. § 146a II 1 AO darstellt. Unterstellen Sie ferner, dass § 146a AO formell verfassungsgemäß ist.
Der Verstoß gegen die Belegausgabepflicht als solcher ist nicht bußgeldbewehrt. Er kann aber als Indiz dafür gewertet werden, dass den gesetzlichen Aufzeichnungspflichten nicht entsprochen wurde, was seinerseits ein Bußgeld nach sich ziehen kann.
Unterstellen Sie ferner, dass für M eine Befreiung nach § 146a II 2 AO nicht in Betracht kommt.
Abwandlung
[Bearbeiten]§ 146a AO existiert nicht. Vielmehr ist insbesondere eine „Belegausgabepflicht“ in einer durch das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union erlassenen Verordnung („Bonpflicht-Verordnung“) wie folgt geregelt:
Art. 2 Bonpflicht-Verordnung
Wer aufzeichnungspflichtige Geschäftsvorfälle im Sinne des Art. 1 Nr. 3 dieser Verordnung erfasst, hat dem an diesem Geschäftsvorfall Beteiligten in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem Geschäftsvorfall einen Beleg über den Geschäftsvorfall auszustellen und dem an diesem Geschäftsvorfall Beteiligten zur Verfügung zu stellen (Belegausgabepflicht). Bei Verkauf von Waren an eine Vielzahl von nicht bekannten Personen können die mitgliedstaatlichen Behörden aus Zumutbarkeitsgründen nach pflichtgemäßem Ermessen von einer Belegausgabepflicht nach Satz 1 befreien. Die Voraussetzungen dieser Befreiung sind durch die Mitgliedstaaten gesetzlich zu regeln und dürfen den Zwecken dieser Verordnung nicht zuwiderlaufen. Zuwiderhandlungen können mit einem Bußgeld von bis zu 5.000 € belegt werden.
Für den Erlass der Bonpflicht-Verordnung besteht eine Kompetenz der EU, von welcher sie auch durch weitere Richtlinien und Verordnungen „zur Errichtung eines Rahmens zum Schutz der finanziellen Interessen der Union“ Gebrauch gemacht hat. M wird von der Regelung des Art. 2 Bonpflicht-Verordnung erfasst, hält diese jedoch nicht ein. Daraufhin erlässt die zuständige deutsche Finanzbehörde ein Bußgeld, gegen das sich A über den gesamten deutschen fachgerichtlichen Rechtsweg hinweg erfolglos wehrt.
M will nun Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche Entscheidung erheben. Er überlegt dabei, ob seine berufliche Tätigkeit, die hier durch den auf der Bonpflicht-VO beruhenden Bußgeldbescheid beeinträchtigt sei, nicht auch auf Unionsebene grundrechtlich geschützt wird. Er ist sich zudem unsicher, inwieweit dies hier Auswirkungen auf den Prüfungsmaßstab des BVerfG haben würde.
Nehmen Sie gutachterlich Stellung zu den von M aufgeworfenen Fragestellungen. Die Grundfreiheiten sind hierbei ebenso wie die EMRK außer Acht zu lassen.
Fußnoten
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