Fall 9

Aus Wikibooks


Ein Text der Initiative OpenRewi. Wie du ihn verbesserst, ist hier beschrieben.

Anmerkungen, Kritik, Fragen zu Teilen dieses Kapitels?

Benutze unsere Texte mit diesen Informationen zur freien Weiterverwendung

70%
70%


Autor: Rudi Lang

Schwierigkeitsgrad: Examen; 5 Stunden Bearbeitungszeit

Abwandlung:
Fall 9a vereinfacht

Sachverhalt[Bearbeiten]

Die gläubige Muslima G möchte nach Abschluss ihres rechtswissenschaftlichen Studiums an der Universität Bayreuth im Januar 2021 unmittelbar mit dem Rechtsreferendariat im Oberlandesgerichtsbezirk Bamberg beginnen. Sie bewirbt sich hierzu form- und fristgemäß beim Präsidenten des Oberlandesgerichts (OLG) Bamberg für den Einstellungstermin 1.4.2021. Schon während ihrer Vorbereitungen auf die Erste Juristische Prüfung hatte G erfahren, dass das Tragen eines religiösen Kopftuchs in Gerichtssälen in Bayern für Richter:innen und Staatsanwält:innen untersagt ist. Nach Auffassung der G ist dies inakzeptabel, da das Tragen eines Nikab[1] in der Öffentlichkeit – und damit auch im Gerichtssaal – für sie Ausdruck ihres Glaubens ist und doch nicht staatlicherseits einfach verboten werden könne. Schließlich habe sich der Staat aus Glaubensfragen grundsätzlich komplett herauszuhalten.

G ist sich jedoch nicht sicher, ob ein derartiges Verbot auch für sie im Rahmen ihres Rechtsreferendariats gilt. Als sie die Bewerbungsunterlagen und Vordrucke vor dem Absenden ihrer Bewerbung an das OLG Bamberg durchlas, fand sie hierzu keine Aussage. Als G mittels Einstellungsbescheid des Oberlandesgerichtspräsidenten vom 3.3.2021 die Zulassung zum Rechtsreferendariat im OLG-Bezirk Bamberg erteilt wurde, stieß sie jedoch in dem mit „Auflagen“ überschriebenen Teil des Bescheids auf einen Passus, der wie folgt lautet: „Auf Art. 57 AGGVG i.V.m. Art. 11 Abs. 2 BayRiStAG wird hingewiesen: Bei der Wahrnehmung von Amtshandlungen mit Außenkontakt (zum Beispiel Wahrnehmung des staatsanwaltschaftlichen Sitzungsdienstes, Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen in der Zivilstation) dürfen keine sichtbaren religiös oder weltanschaulich geprägten Symbole oder Kleidungsstücke (zum Beispiel Kopftücher) getragen werden, die Zweifel an der Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung an Recht und Gesetz hervorrufen können.“

Nach Rücksprache mit dem Präsidenten des OLG Bamberg könne hierfür auch keine Ausnahme zugunsten der G zugelassen werden, da hiervon eine negative Vorbildwirkung ausginge und „das Gesetz klar formuliert“ sei. Der Staat sei in religiösen und weltanschaulichen Fragen zu absoluter Neutralität verpflichtet, um ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben sämtlicher Religionen ermöglichen zu können. Zudem würde die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege beeinträchtigt. Die erkennbare Distanzierung der einzelnen Richter:innen von individuellen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen bei Ausübung des Amtes stärke nämlich das Vertrauen in die Justiz insgesamt und die öffentliche Kundgabe von Religiosität sei im Gegensatz hierzu geeignet, das Gesamtbild der Justiz – das gerade durch eine besondere persönliche Zurücknahme der zur Entscheidung berufenen Amtsträger:innen geprägt sei – zu beeinträchtigen. Überdies müssten auch Dritte, vor allem Angeklagte in einem Strafprozess, davor geschützt werden, mit fremden religiösen Anschauungen gegen ihren Willen konfrontiert zu werden.

G möchte sich dies nicht gefallen lassen und ist von den Ausführungen des OLG-Präsidenten nicht überzeugt. Der Sitzungsdienst der Staatsanwaltschaft und die Wahrnehmung richterlicher Tätigkeit stellen für sie die spannendsten Tätigkeiten des gesamten Referendariats dar. Zwar besteht kein Anspruch auf Übernahme und Durchführung dieser Tätigkeiten. Es ist jedoch verbreitete Praxis und im Falle des Sitzungsdienstes der Staatsanwaltschaft sogar vorgeschriebener Bestandteil der praktischen Stationsausbildung, dass Rechtsreferendar:innen Amtshandlungen mit Außenkontakt vornehmen. Diese Aufgaben könne sie zur Wahrung ihres Glaubens beziehungsweise ihres Verständnisses vom Islam jedoch nur wahrnehmen, sofern sie hierbei ein Kopftuch tragen könne. Sie geht daher gerichtlich im einstweiligen Rechtsschutz gegen die „Auflage“ in ihrem Einstellungsbescheid vor, da sie unbedingt die Sitzungsvertretung wahrnehmen will und hierzu eine Aufhebung der Auflage innerhalb der ersten acht Monate des Referendariats (Zivil- und Strafstation) erforderlich ist.

Die Bemühungen der G bleiben jedoch ohne Erfolg, da sowohl das Verwaltungsgericht Bayreuth als auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) ihren Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ablehnen. Der ablehnende Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs wird der G am 31.3.2021 zugestellt. Sie beschließt, gegen die Entscheidung des BayVGH Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu erheben, wird jedoch, bevor sie sich darum kümmern konnte, am 1.4.2021 ohne Verschulden in einen Verkehrsunfall verwickelt und muss bis zum 20.4.2021 im Krankenhaus behandelt werden. Gleichzeitig wird sie bis einschließlich 7.5.2021 krankgeschrieben. Als G am 21.4.2021 nach Hause zurückkehrt, widmet sie sich zunächst ihrer Genesung und vergisst ihre Absicht, Verfassungsbeschwerde einzulegen. Als die G am Morgen des 4.5.2021 an ihren am 10.5.2021 anstehenden (für sie ersten) Arbeitstag im Referendariat und die hierfür auszuwählende Kleidung denkt, erinnert sie sich, dass sie noch Verfassungsbeschwerde erheben muss, um das Referendariat „vollwertig“ auch mit Sitzungsvertretungen ausüben zu dürfen. Schließlich wurde die ihr erteilte „Auflage“ bislang gerichtlich nicht aufgehoben. Das Hauptsacheverfahren ist zwar weiter anhängig, jedoch geht G zutreffend davon aus, dass vor Ablauf der zweiten Station (Strafstation) als letzte Station, in der Sitzungsvertretungen durch Rechtsreferendare stattfinden, insoweit nicht mit einer Entscheidung zu rechnen ist. G befürchtet indes, die Frist für die Erhebung der Verfassungsbeschwerde verpasst zu haben, und will dies nun zumindest so schnell wie möglich nachholen, vielleicht zeige sich das Gericht ja kulant angesichts ihres Verkehrsunfalls. Da sie im Rahmen des Studiums mitbekommen hat, dass für eine Verfassungsbeschwerde gewisse Begründungsanforderungen gelten, beschäftigt sie sich den gesamten Tag bis in den späten Abend hinein mit der Beschwerdeschrift. Am Morgen des 5.5.2021 übermittelt sie schließlich die von ihr unterschriebene, hinreichend begründete Beschwerdeschrift vom Faxgerät ihrer Eltern aus an das BVerfG. Der Eingang beim Gericht erfolgt noch am selben Tag.

G schildert in der Beschwerdeschrift zunächst die Umstände um ihren Verkehrsunfall und behauptet, infolgedessen zur rechtzeitigen Erhebung der Verfassungsbeschwerde außerstande gewesen zu sein. Sie hoffe jedoch auf eine kulante Handhabung. Inhaltlich macht sie geltend, die Entscheidung des BayVGH verkenne die Bedeutung ihrer Glaubensfreiheit und verstoße damit gegen das Grundgesetz. Es könne keinen Unterschied machen, ob sie als Zuschauerin im Gerichtssaal ein Kopftuch trage oder als Vertreterin der Staatsanwaltschaft beziehungsweise des Gerichts. Beides sei private Grundrechtsausübung und staatlicherseits hinzunehmen. Zudem sei zusätzlich ihre Berufsfreiheit verletzt, da ihr ohne Wahrnehmung der Sitzungsvertretung ein bedeutsamer Teil ihrer Ausbildung zur Volljuristin verwehrt würde. G weist zudem auf die besondere Dringlichkeit ihres Anliegens hin und darauf, dass ihr deswegen ein Abwarten der Hauptsacheentscheidungen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit unzumutbar sei. Zutreffend geht sie insoweit davon aus, dass eine Entscheidung des BVerfG nicht mehr rechtzeitig vor Ablauf der Zivil- und Strafstation ergehen würde. Angesichts dessen beantragt sie zusätzlich eine einstweilige Anordnung des BVerfG dahingehend, dass die Auflage in ihrem Einstellungsbescheid für sie nicht gelte. Schließlich entstünde für sie ein irreversibler Schaden, wenn sie die Möglichkeit der Sitzungsvertretung verpassen würde. Dies müsse rechtzeitig unterbunden werden.

Fallfrage[Bearbeiten]

Hat die Verfassungsbeschwerde der G vor dem BVerfG Aussicht auf Erfolg? Auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen ist – ggf. hilfsgutachtlich – einzugehen.

Art. 11 BayRiStAG

(2) 1Richter und Richterinnen dürfen in Verhandlungen sowie bei allen Amtshandlungen mit Außenkontakt keine sichtbaren religiös oder weltanschaulich geprägten Symbole oder Kleidungsstücke tragen, die Zweifel an ihrer Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung an Recht und Gesetz hervorrufen können. 2Satz 1 gilt für Staatsanwälte und Staatsanwältinnen sowie Landesanwälte und Landesanwältinnen entsprechend.

Art. 57 AGGVG

Nimmt ein Rechtspfleger oder ein Rechtsreferendar ihm übertragene richterliche oder staatsanwaltschaftliche Aufgaben wahr, gilt Art. 11 des Bayerischen Richter- und Staatsanwaltsgesetzes entsprechend.

Abwandlung[Bearbeiten]

Hat der Antrag der G auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vor dem BVerfG Aussicht auf Erfolg?

Dieser Text wurde von der Initiative für eine offene Rechtswissenschaft OpenRewi erstellt. Wir setzen uns dafür ein, Open Educational Ressources für alle zugänglich zu machen. Folge uns bei Twitter oder trage dich auf unseren Newsletter ein.

Anmerkungen, Kritik, Fragen zu Teilen dieses Kapitels?

Benutze unsere Texte mit diesen Informationen zur freien Weiterverwendung

Inhaltsverzeichnis des Buches[Bearbeiten]

Zusatzmaterial / Weiterentwickelte Fälle[Bearbeiten]

Fußnoten[Bearbeiten]

  1. Ein Nikab (oder auch Niqab) ist ein Kopftuch in Form eines Schleiers, der das ganze Gesicht bis auf die Augen verdeckt, vgl. Duden/Nikab. Dieser ist vor allem auf der arabischen Halbinsel verbreitet, Wikipedia/Niqab/Verbreitung.