Fall 10
Autor:innen: Maureen Macoun
Schwierigkeitsgrad: Erstsemester/Anfänger:innen
Sachverhalt
[Bearbeiten]Die 17-Jährige Alexandra Althus (A) ist gebürtige Freiburgerin mit deutscher Staatsangehörigkeit. Sie ist stolz auf ihre schwarze Hautfarbe und bezeichnet sich selbst als Person of Colour (PoC). Seit ihre Eltern sich ein Haus außerhalb Freiburgs gekauft haben, muss sie täglich mit dem Zug in die Stadt pendeln, um zu ihrer Schule zu gelangen.
So auch am Morgen des 20.01.2021: Um 7:15 Uhr befindet sie sich in einem vollbesetzten Wagon. Außer ihr befinden sich dort ganz überwiegend weiße Fahrgäste, die auf dem Weg zur Arbeit sind. A sitzt mit drei anderen weißen Fahrgästen in einem Vierer-Abteil. Zwischen ihren Füßen steht ihr Schulrucksack und über ihr auf der Gepäckablage befindet sich ihr Sportbeutel. Der Fahrgast neben ihr hat eine Plastiktüte mit Proviant auf die Gepäckablage gelegt, während A selbst nur einen Thermosbecher mit Kaffee dabei hat. Da die Heizung in dem Abteil mal wieder ausgefallen ist, hat sie eine Pudelmütze tief ins Gesicht gezogen, und konzentriert sich nun auf ihre Lektüre für den Englischunterricht, „Sherlock Holmes“.
Die Polizeitbeamt:innen Peter Müller (P) und Katharina Meier (K) sind in diesem Zug im Einsatz. Ihnen liegt ein Lagebericht vor, nach dem die Zugstrecke aufgrund ihrer Grenznähe verstärkt zur „illegalen Einreise“ genutzt wird, weshalb sie Kontrollen nach § 22 I a BPolG durchführen wollen. Aus ihrem ersten Antirassismustraining an der Polizeiakademie München wissen sie, dass sie verdachtsunabhängige Kontrollen von Personen nicht allein auf deren „Rasse“, also vor allem die Hautfarbe stützen dürfen. Das würde gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verstoßen. Bei der Auswahl von zu kontrollierenden Personen fällt ihr Blick schnell auf die lesende A. Neben ihrer schwarzen Hautfarbe, die sie in den Augen der Beamt:innen als „Ausländerin“ erscheinen lässt, fällt A den beiden Polizist:innen durch die englische Lektüre und die Plastiktüte auf, die Geflüchtete oftmals anstelle von Koffern benutzen würden. Außerdem vermuten sie, dass A sich mithilfe der Pudelmütze ihren Blicken entziehen möchte.
Daher entscheiden sich P und K zur Kontrolle von A und sprechen diese auf Englisch an. A - noch ganz in ihr Buch vertieft - antwortet reflexhaft auf Englisch, wechselt dann aber ins Deutsche. P und K möchten den Ausweis von A überprüfen und befragen sie zum Grund ihrer Reise. A möchte wissen, warum gerade sie kontrolliert werde. Es entbrennt eine hitzige Diskussion über Racial Profiling. P und K stellen schnell fest, dass A perfekt Deutsch spricht. Außerdem kann A mit Verweis auf ihr Gepäck glaubhaft darlegen, auf dem Schulweg zu sein. Dennoch möchten P und K nicht so schnell aufgeben und „Ergebnisse“ an ihre strenge Vorgesetze melden. Daher bestehen sie auf eine Ausweiskontrolle. A hat ihren Personalausweis dabei und kann ihn vorzeigen. Das Lichtbild weist eindeutig sie als Inhaberin des Ausweises aus. P und K sehen daraufhin von weiteren Maßnahmen ab und steigen am nächsten Halt aus, ohne weitere Fahrgäste zu kontrollieren.
A ist es vor allem unangenehm, als einzige Reisende kontrolliert worden zu sein. Die anderen Personen haben sie während der Kontrolle unverhohlen angestarrt. Hinzu kommt, dass A so eine Kontrolle nicht zum ersten Mal passiert ist. Während sie mit ihren 17 Jahren schon sechs Mal von der Polizei kontrolliert wurde, ist ihrer weißen besten Freundin so etwas noch nie passiert. Sie fühlt sich ausgegrenzt, nimmt die Polizei als Bedrohung wahr und hat das Gefühl, mit ihrer schwarzen Hautfarbe nicht „dazu zu gehören“.
Zuhause berichtet sie ihren Eltern von den Ereignissen. Diese suchen gemeinsam mit A Rechtsanwältin R auf, die auf solche Fälle spezialisiert ist. Als R von den Geschehnissen der Zugfahrt erfährt, ist sie empört. Sie hält schon § 22 I a BPolG für verfassungswidrig. Die Norm verstoße in ihren Augen ganz grundsätzlich gegen Art. 3 III 1 GG. Außerdem sei die Norm viel zu vage formuliert und darüber hinaus völlig unverhältnismäßig. Sie ist sich auch sicher, dass die konkrete Art der Kontrolle gegen Art. 3 III 1 GG verstoße. Dabei nimmt sie an, dass A diskriminiert worden sei, auch wenn die Kontrolle nicht nur aufgrund ihrer Hautfarbe erfolgt sei. Es genüge schon, dass die Auswahl auch wegen ihrer Hautfarbe auf A gefallen sei. Die von P und K angeführten Gründe erscheinen R nicht plausibel zu sein und legten die Auswahl von A nicht schlüssig dar. Das von A mitgeführte Gepäck sei keineswegs „verdächtig“ gewesen und eine Mütze im Winter keine Besonderheit. Spätestens nachdem A in perfektem Deutsch ihren Schulweg dargelegt hatte, hätten P und K die Kontrolle beenden müssen. Daher kehre sich die Beweislast um und P und K müssten nun darlegen, dass die Hautfarbe von A kein Motiv für die Auswahl gewesen sei.
P und K behaupten, dass die Hautfarbe höchstens ein Grund unter vielen anderen gewesen sei, die A anzusprechen und sicherlich nicht der Hauptgrund. A sei durch ihr Gepäck, die Mütze und das englische Buch aufgefallen. Die Ausweiskontrolle sei nötig gewesen, da Geflüchtete sich oftmals gut tarnen würden, z.B. durch hochwertige Kleidung. Auch der Schulrucksack hätte nur der Tarnung dienen können. Schließlich würde die Bahnstrecke sehr häufig für die illegale Einreise genutzt, die es auf jeden Fall zu unterbinden gelte. Im Auftrag der A erhebt R erfolglos Klage vor dem Verwaltungsgericht. Nach Erschöpfung des Rechtsweges möchte R für A form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde erheben.
Bearbeitungshinweis:
Mögliche Verstöße gegen das Europarecht sind nicht zu prüfen.
Auszug aus dem Gesetz über die Bundespolizei (Bundespolizeigesetz - BPolG)
§ 22 Befragung und Auskunftspflicht
(1) Die Bundespolizei kann eine Person befragen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß die Person sachdienliche Angaben für die Erfüllung einer bestimmten der Bundespolizei obliegenden Aufgabe machen kann. Zum Zwecke der Befragung kann die Person angehalten werden. Auf Verlangen hat die Person mitgeführte Ausweispapiere zur Prüfung auszuhändigen. (1a) Zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet kann die Bundespolizei in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes (§ 3), soweit auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, daß diese zur unerlaubten Einreise genutzt werden, sowie in einer dem Luftverkehr dienenden Anlage oder Einrichtung eines Verkehrsflughafens (§ 4) mit grenzüberschreitendem Verkehr jede Person kurzzeitig anhalten, befragen und verlangen, daß mitgeführte Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen.
[...]
Fallfrage
[Bearbeiten]Hat die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
Abwandlung
[Bearbeiten]Nehmen Sie an, dass sich nicht endgültig feststellen lässt, ob die Hautfarbe der A ein Motiv für die Auswahlentscheidung von P und K war. Die Polizeibeamt:innen berufen sich auf das Gepäck, die Kleidung und die Literatur und führen ihre Theorie der getarnten unbegleiteten Minderjährigen an. Was würde sich ändern?
Fußnoten
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