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Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“

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Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung (kurz HDI) ist einer der bedeutendsten Sätze der Analysis. Nach ihm kann über das Integral die Gesamtänderung einer Funktion bestimmt werden, wenn ihre Ableitung überall bekannt ist. So kann beispielsweise die Veränderung eines Systems ausgerechnet werden, wenn man zu jedem Zeitpunkt die momentane Änderungsrate (also die Ableitung) kennt.

Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung stellt so eine Beziehung zwischen der Ableitung und dem Integral her und zeigt, dass sich Ableitung und Integration in gewisser Weise umkehren. Dies kann beispielsweise ausgenutzt werden, um Integrale leichter auszurechnen. Dabei werden zwei Versionen des Hauptsatzes unterschieden: Die eine Version trifft eine Aussage darüber, was das Integral der Ableitungsfunktion ist und die andere beschreibt, was die Ableitung der sogenannten Integralfunktion ist.

Häufig wird die Definition des Integrals aus der Grundvorstellung hergeleitet, dass es die orientierte Fläche zwischen dem Graphen und der -Achse wiedergibt. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung zeigt, dass diese orientierte Fläche unter dem Graphen einer Ableitung als Funktionsänderung der ursprünglichen Funktion interpretiert werden kann.

Erste Variante des Hauptsatzes

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Version: Integral der Ableitungsfunktion

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Eine Variante des Hauptsatzes kann so formuliert werden:

Das Integral entspricht der Gesamtänderung einer Funktion, die an jeder Stelle die momentane Änderungsrate besitzt.

Sei eine solche Funktion, die an jeder Stelle die momentane Änderungsrate besitzt. Da die Ableitung die momentane Änderungsrate einer Funktion beschreibt, ist also für alle . Eine solche Funktion wird Stammfunktion von genannt. Die Gesamtänderung der Funktion im Intervall entspricht der Differenz . Es muss also gelten:

Dies ist die erste Version des Hauptsatzes. Da wir im Beweis auf den Mittelwertsatz der Integralrechnung zurückgreifen, werden wir die Stetigkeit von zusätzlich voraussetzen:

Satz (Haupsatz der Differential- und Integralrechnung: Integral der Ableitungsfunktion)

Sei eine stetige Funktion. Für jede Stammfunktion gilt:

Stammfunktion

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In der ersten Variante des Hauptsatzes ist die Rede von einer Funktion , deren Ableitungsfunktion gleich ist. Eine solche Funktion wird Stammfunktion von genannt:

Definition (Stammfunktion)

Eine differenzierbare Funktion heißt Stammfunktion einer gegebenen Funktion , wenn die Ableitung von ist. Es muss also für alle gelten.

Salopp gesprochen ist eine Stammfunktion das „Gegenteil“ der Ableitungsfunktion. Sie ist jedoch im Gegensatz zur Ableitungsfunktion nicht eindeutig. Betrachte die Funktion mit . Eine mögliche Stammfunktion ist die Funktion mit . Denn es gilt nach den Ableitungsregeln . Es fällt auf, dass wir anstelle der Konstanten auch eine andere hätten wählen können, da diese bei der Ableitung verschwindet. Tatsächlich ist jede Funktion der Form mit einer beliebigen Konstanten eine Stammfunktion von .

Verständnisfrage: Wie lauten alle Stammfunktionen zu folgenden Funktionen auf ?

  1. .

Antwort:

  1. mit
  2. mit
  3. mit

Differenz von Stammfunktionen

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Hat also eine Funktion eine Stammfunktion , so hat sie auch unendlich viele weitere Stammfunktionen, nämlich alle Funktionen mit einer beliebigen Konstante . Das liegt daran, dass eine (additive) Konstante beim Ableiten wegfällt. Wir können sogar zeigen, dass man auf diese Weise alle Stammfunktionen von erhält:

Satz

Seien und Stammfunktionen der gleichen Funktion . Dann unterscheiden sich und nur um eine additive Konstante, d.h. es existiert eine reelle Zahl mit für alle .

Beweis

Wir betrachten die Differenz der beiden Stammfunktionen. Für diese gilt nach der Differenzregel

für alle . Wir wollen zeigen, dass die Funktion konstant ist, denn aus für alle folgt, dass für alle .

Angenommen, ist nicht konstant. Dann gibt es mit . Nach dem Mittelwertsatz gibt es ein mit

Wegen gilt einerseits . Andererseits haben wir uns oben bereits überlegt, dass für alle gilt, also auch . Das ist ein Widerspruch und somit muss konstant sein.

Anwendung: (Re-)konstruktion der Stammfunktion

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Über das Integral kann aus der Ableitung die Gesamtänderung einer Funktion berechnet werden. Damit können wir das Integral benutzen, um aus einer bekannten Ableitung die ursprüngliche Funktion zu rekonstruieren bzw. eine gesuchte Funktion zu bestimmen, deren Ableitung bekannt ist. Da wir nur Änderungen einer Funktion bestimmen können, brauchen wir noch einen Anfangswert, den die Funktion an einer festgelegten Stelle haben soll.

Nehmen wir an, dass wir eine Funktion bestimmen wollen. Ihre Ableitung sei die für uns bekannte Funktion . Außerdem wissen wir, dass an der Stelle die Funktion den Wert besitzt. Es gilt also . Aus diesen beiden Informationen können wir mit Hilfe des Integrals die Funktion (re-)konstruieren:

Mit dieser Formel kann der Wert einer Funktion bestimmt werden, wenn man deren Ableitung und einen Anfangswert kennt.

Zweite Variante des Hauptsatzes

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Version: Ableitung der Integralfunktion

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In der Herleitung der Formel haben wir angenommen, dass die Ableitung von ist. Können wir umgekehrt die Gleichung zeigen, wenn wir über definieren? Hierzu müsste gelten:

Damit unsere Vermutung stimmt, müssen wir beweisen. Sprich: Für eine Funktion mit muss gelten. Eine solche Funktion werden wir Integralfunktion nennen. Auch bei dieser neuen Version des Hauptsatzes werden wir voraussetzen, dass die Funktion stetig ist:

Satz (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung: Ableitung der Integralfunktion)

Sei stetig. Dann ist die Integralfunktion mit eine Stammfunktion von . Es gilt also für alle .

Integralfunktion

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In der Rekonstruktion der Stammfunktion kommt eine Funktion mit vor. Eine solche Funktion wird Integralfunktion genannt:

Definition (Integralfunktion)

Sei eine reellwertige stetige Funktion auf dem abgeschlossenen Intervall . Dann definieren wir die Integralfunktion von als

Verständnisfrage: Besitzt die Integralfunktion von immer eine Nullstelle?

Ja, denn es gilt .

Zusammenhang: Integral- und Ableitungsfunktion

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Die Integralfunktion ist das Pendant zur Ableitungsfunktion. Wie die Ableitungsfunktion ist es ein Funktionsoperator: Es nimmt als Argument eine Funktion an und ordnet ihr als Resultat eine neue Funktion zu, wobei die Zuordnungsvorschrift gleich ist. Die Hauptsätze der Differential- und Integralrechnung klären den Zusammenhang zwischen der Ableitungs- und der Integralfunktion. Zum einen ändert man eine Funktion nicht, wenn man zuerst die Integralfunktion bildet und von dieser die Ableitungsfunktion bestimmt:

Anders verhält es sich, wenn wir die Reihenfolge umkehren. Wenn man die Integralfunktion der Ableitungsfunktion bildet, dann kommt nicht zwangsweise die ursprüngliche Funktion raus. Jedoch erhalten wir so eine Funktion, die sich nur um einen konstanten Wert von unterscheidet. Dieser konstante Wert ist gleich dem Funktionswert . Es gilt nämlich:

Dies kann so erklärt werden: Durch die Bildung der Ableitung erhält man nur die Information darüber, wie sich eine Funktion ändert. Die Information über den Anfangswert geht verloren (die Ableitung einer Konstanten ist gleich Null). Wenn man von der Ableitungsfunktion die Integralfunktion bildet, kann man diese verlorene Information zum Anfangswert nicht mehr herstellen. Man weiß zwar, dass die ursprüngliche Funktion eine Stammfunktion der gebildeten Ableitungsfunktion ist – welche es ist, weiß man aber nicht. Deswegen gibt man diejenige Stammfunktion zurück, die an der Stelle eine Nullstelle besitzt. So kann durch Addition des Wertes die ursprüngliche Funktion wiederhergestellt werden.

Beweis

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Wir werden erst die zweite Variante des Hauptsatzes beweisen und aus dieser dann die erste Variante herleiten.

Variante: Ableitung der Integralfunktion

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Satz (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung: Ableitung der Integralfunktion)

Sei stetig. Dann ist die Integralfunktion mit eine Stammfunktion von . Es gilt also für alle .

Beweis (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung: Ableitung der Integralfunktion)

Sei stetig und mit die Integralfunktion von . Wir müssen zeigen, dass der Differentialquotient existiert und gleich ist. Sei dazu fest und mit . Aufgrund der Additivität der Grenzen des Integrals gilt

Nach dem Mittelwertsatz für Integrale existiert eine reelle Zahl mit:

Im Grenzwert haben wir wegen . Mit der Stetigkeit von folgt

Die Ableitung von in existiert also und hat den Wert .

Variante: Integral der Ableitungsfunktion

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Satz (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung: Integral der Ableitungsfunktion)

Sei eine stetige Funktion. Für jede Stammfunktion gilt:

Beweis (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung: Integral der Ableitungsfunktion)

Sei eine stetige und damit integrierbare Funktion. Sei mit die Integralfunktion von . Nach der Variante „Ableitung der Integralfunktion“ ist wegen der Stetigkeit von die Integralfunktion eine Stammfunktion von . Außerdem gilt wegen :

Die zu beweisende Gleichung ist also für die Integralfunktion als spezielle Stammfunktion von erfüllt. Sei nun eine beliebige Stammfunktion von . Da sich zwei Stammfunktionen nur um eine Konstante unterscheiden, gibt es einen Wert mit . Damit ist:

Anwendung

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Mit dem Hauptsatz können bestimmte Integrale berechnet werden. Sofern eine Stammfunktion des Integranden bekannt ist, kann das Integral über die Differenz bestimmt werden. In der Praxis wird häufig der Ausdruck oder für die Differenz verwendet. Dabei spielt es keine Rolle, welche Stammfunktion gewählt wird. Da diese sich nur um eine Konstante unterscheiden, fällt diese bei der Differenz weg.

Beispiel (Bestimmtes Integral der Quadratfunktion)

Wir berechnen das Integral von im Intervall mittels Umkehrung der Potenzregel. Nach der allgemeinen Ableitungsregel für Potenzen ist die Ableitungsfunktion der Polynomfunktion gleich . Daher ist die Ableitungsfunktion von gleich . Mit dem Hauptsatz erhalten wir

Beispiel (Bestimmtes Integral der Sinusfunktion)

Sei . Man möchte nun die bilanzierte Fläche unter dem Graphen von zwischen wissen, was in mathematischer Schreibweise dem Integral entspricht. Da eine Stammfunktion von ist, folgt:

Verständnisfrage: Sei eine differenzierbare Funktion. Bestimme

Lösungen:

Unbestimmte Integrale

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Definition des unbestimmten Integrals

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Zu einer Funktion gibt es mehrere Stammfunktionen. Über das unbestimmte Integral kann die Menge aller Stammfunktionen bestimmt werden:

Definition (Unbestimmtes Integral)

Die Menge aller Stammfunktionen einer Funktion wird mit bezeichnet und heißt unbestimmtes Integral von .

Beispiel (Unbestimmtes Integral)

Jede Stammfunktion der Funktion mit hat die Zuordnungsvorschrift . Damit gilt:

Der Einfachheit halber schreiben wir kürzer:

Verständnisfrage: Bestimme das unbestimmte Integral .

Zusammenhang zwischen bestimmtem und unbestimmtem Integral

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Es ist wichtig, dass du zwischen bestimmtem und unbestimmtem Integral sauber unterscheidest. Das bestimmte Integral ist eine Zahl und gibt die orientierte Fläche unter den Graphen von zurück. Das unbestimmte Integral ist eine Menge von Funktionen, nämlich die Menge aller Stammfunktionen von . Wie beide Begriffe zusammenhängen, wird im Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung deutlich. Die Variante „Integral der Ableitungsfunktion“ kann folgendermaßen formuliert werden:

Für alle Funktionen aus gilt .

Auch die Version „Ableitung der Integralfunktion“ kann mit Hilfe des unbestimmten Integrals ausgedrückt werden:

Die Funktion mit ist eine Funktion der Menge .

Beide Aussagen gelten, wenn eine stetige Funktion ist.

Liste von unbestimmten Integralen

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Hauptartikel: Beispiele für Integrale

Folgende Liste gibt eine Übersicht über die wichtigsten unbestimmten Integrale. Es gilt überall :

  • mit und

Aufgaben

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Aufgabe 1

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Aufgabe (Bestimmte Integrale)

Berechne die folgenden Integrale mit Hilfe des Hauptsatzes:

Lösung (Bestimmte Integrale)

Aufgabe 2

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Aufgabe (Unbestimmte Integrale)

Bestimme die folgenden Integrale auf den entsprechenden Definitionsbereichen:

  1. mit auf
  2. mit auf
  3. mit auf
  4. auf
  5. auf
  6. auf

Lösung (Unbestimmte Integrale)

Aufgabe 3

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Aufgabe (Anwendung des Hauptsatzes 1)

Die natürliche Logarithmusfunktion lässt sich auch über die folgende Integralform definieren:

für

Zeige folgende Aussagen:

  1. auf und auf
  2. ist stetig differenzierbar, und hat die Ableitung
  3. wächst streng monoton.
  4. für alle . Insbesondere ist .
  5. (Hinweis: Zum Beweis dieser Aussage wird die Substitutionsregel benötigt.)

Lösung (Anwendung des Hauptsatzes 1)

Lösung Teilaufgabe 1:

Durch Einsetzen erhalten wir

Lösung Teilaufgabe 2:

Ist , so ist auf . Aus der Monotonie des Riemannintegrals folgt

Ist hingegen , so ist und damit . Da wieder ist auf ist, folgt aus der Monotonie des Riemannintegrals

Lösung Teilaufgabe 3:

Nach dem ersten Teil des Hauptsatzes ist eine Stammfunktion von , . Daher ist differenzierbar mit . Da stetig auf ist, ist sogar stetig differenzierbar. Insbesondere ist natürlich stetig.

Lösung Teilaufgabe 4:

Mit Teilaufgabe 1 gilt: für alle . Daher ist mit dem Monotoniekriterium streng monoton wachsend.

Lösung Teilaufgabe 5:

Mit der Kettenregel ist differenzierbar, mit

Aus dem Identitätssatz der Differentialrechnung folgt mit . Nun gilt

Also ist und damit .

Lösung Teilaufgabe 6:

Zunächst ist

Mit der Substitutionsregel folgt für das zweite Integral

Damit folgt die Behauptung .

Aufgabe 4

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Aufgabe (Anwendung des Hauptsatzes 2)

Berechne für differenzierbare und eine auf stetige Funktion :

Als Anwendung: Berechne die Ableitung von für .

Lösung (Anwendung des Hauptsatzes 2)

Wir betrachten, die Hilfsfunktion (Integralfunktion) mit . Diese ist nach dem HDI differenzierbar mit . Weiter gilt

Nach der Kettenregel sind und differenzierbar, mit und . Damit ist

Im Anwendungsbeispiel ist , und . Daher ist mit der eben bewiesenen Formel