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Informationelle Selbstbestimmung

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Autorin: Hannah Ruschemeier

Notwendiges Vorwissen: Grundrechtsfunktionen, Schutzbereich und Eingriff, Prüfung eines Freiheitsgrundrechts, Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit

Lernziel: Grundrechtliche Ausprägung des Schutzes persönlicher Daten verstehen und anwenden, Abgrenzung zu anderen Grundrechten nachvollziehen

Das Bundesverfassungsgericht leitet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus dem Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Menschenwürde, Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG ab. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt grundsätzlich die Freiheit der Selbstdarstellung und damit das Recht selbst darüber zu entscheiden, wie die Darstellung der eigenen Person durch Andere erfolgt. Hier bestehen Überschneidungen mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Informationell bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Befugnis, selbst über die Preisgabe und Verwendung der persönlichen Daten bestimmen zu können.[1] Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist die Grundlage der einfach-gesetzlichen Regelungen des Datenschutzes, wie z.B. dem Bundesdatenschutzgesetz .

A. Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Entwicklung der Rechtsprechung

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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt. Deshalb spielt auch die Entwicklung der Rechtsprechung für das Verständnis dieses Grundrechts eine besondere Rolle. Die Entwicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist eine Reaktion auf neue technische Gefährdungslagen, weshalb sich im Text des Grundgesetzes auch keine expliziten Regelungen zum Schutz der Privatsphäre durch Informationsverarbeitung finden.

Weiterführendes Wissen

Vorschläge, ein Grundrecht auf Datenschutz oder ein Grundrecht der Kommunikations- und Informationsfreiheit explizit in das Grundgesetz aufzunehmen, wurden wiederholt diskutiert, haben sich aber bisher nicht durchsetzen können.[2]

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurzelt im Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1983.[3] Beschwerdegegenstand waren mehrere Normen des Volkszählungsgesetzes.[4] Im Rahmen der geplanten Volkszählung sollten neben Stammdaten wie Namen und Geschlecht, Geburtstag und Familienstand auch sensible Daten wie die Religionszugehörigkeit und sehr spezifische Daten wie das vorwiegend benutzte Verkehrsmittel, die Größe der Mietwohnung oder die Miethöhe erhoben werden.[5] Das Bundesverfassungsgericht erklärte nicht die Volkszählung an sich für verfassungswidrig, sondern die Kombination der Volkszählung für statistische Zwecke mit den umfassenden Befugnissen eines Melderegisterabgleichs im Gesetz von 1983.[6]

B. Schutzbereich

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I. Sachlich

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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist normativ in Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG verankert und gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwertung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.[7] Persönliche Daten sind Daten zu den persönlichen und sachlichen Verhältnissen einer bestimmten oder bestimmbaren Person.

Beispiel: Persönliche Daten in Akten wie Krankenakten, Steuerdaten, private Notizen und Tagebücher

Unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung gibt es nach dem Bundesverfassungsgericht kein „belangloses Datum“"mehr.[8] Der Schutzumfang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beschränkt sich auch deshalb nicht auf Daten, die bereits ihrer Art nach besonders sensibel sind, wie z.B. Gesundheitsdaten, sondern auch auf Daten mit einem für sich genommen geringen Informationsgehalt.[9]

Beispiel: Hinter der vielzitierten Aussage, dass es kein belangloses Datum mehr gibt, steht die dogmatische Wertung, dass die im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelte Sphärentheorie nicht ausreicht, um den Grundrechtsschutz adäquat abzubilden. Informationstechnik ermöglicht es, die einzelnen Sphären übergreifend zu durchdringen. So kann mit vermeintlich unwichtigen oder harmlosen Daten außerhalb des Intimbereichs ebenfalls ein Persönlichkeitsprofil erstellt werden.[10]

Hinter dieser höchstpersönlichen Entscheidungsbefugnis zur Datenfreigabe steht zudem ein grundrechtlicher Schutz von Privatheit und letztlich Verhaltensfreiheit, die durch den Schutz der Privatsphäre ermöglicht wird. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung enthält wertungstechnisch ein aktives Element der Selbstbestimmung als Ausdruck der persönlichen Freiheit und ein passives Abwehrelement gegen staatliche Eingriffe. Diese doppelte Schutzfunktion macht es zu einem Recht auf Selbstbewahrung und Recht auf Selbstdarstellung.

Weiterführendes Wissen

Die klassische Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigungsprüfung ist beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht ganz einfach ausgestaltet. Es gibt wenige Stimmen in der Literatur, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vornehmlich als Ziel und nicht als grundrechtlich geschützte Freiheitsgewährleistung, die in einem Schutzbereich umrissen werden kann, ansehen.[11]

II. Persönlich

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Der persönliche Schutzbereich umfasst zuvörderst natürliche Personen. Aufgrund des Menschenwürdegehalts des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung seinem Wesen nach, Art. 19 III GG, nicht auf juristische Personen anwendbar.[12] Geschäftsgeheimnisse juristischer Personen sind durch Art. 12 oder Art. 14 GG geschützt. Parallel zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht endet der Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht mit dem Tod.

Beispiel: Die ärztliche Schweigepflicht besteht auch nach dem Tod fort [13]

C. Eingriff

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Das Bundesverfassungsgericht sieht jeden Schritt einer Datenerhebung als eigenständigen Grundrechtseingriff an. Bereits die Erfassung personenbezogener Daten greift danach in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein.

Examenswissen: Davon macht das Bundesverfassungsgericht eine Rückausnahme für vorläufige, sogleich rückgängig zu machende Speicherungen [14], soweit die Daten unmittelbar nach der Erfassung technisch spurlos ausgesondert werden, ohne Möglichkeit einen Personenbezug herzustellen. Dieser Abgleich wird als Nichttreffer-Fall bezeichnet. Ein Eingriff liegt hingegen dann vor, wenn ein Treffer-Fall vorliegt, im konkreten Fall ein Kennzeichen gespeichert und Grundlage weiterer Maßnahmen wird, da es ab diesem Zeitpunkt den staatlichen Stellen zur Verfügung steht.

Dies ist Ausdruck der grundsätzlichen Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlichen Handelns. Deshalb ist eine formalisierte Abschichtung der Erhebungs- und Verarbeitungsschritte in detaillierter Form erforderlich, um jeden Einzeleingriff zu erfassen, der jeweils eine eigene hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage, welche die Verarbeitung auf spezifische Schritte begrenzt und damit am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprüft werden kann.[15] Gesetzliche Regelungen, die staatliche Behörden zum Umgang mit personenbezogenen Daten ermächtigen, begründen in der Regel aufeinander aufbauende Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.[16]

Klausurtaktik

Für die Fallbearbeitung bedeutet dies, dass zwischen Erhebung, Speicherung und Verwendung, z.B. durch einen Abgleich der Daten, zu differenzieren ist und jeder Grundrechtseingriff für sich geprüft werden muss.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt bereits vor Gefährdungen der Befugnis, über die eigenen Daten zu bestimmen. Die Erhebung persönlicher Daten kann auf vielfältige Weise erfolgen, von den analogen Angaben der Volkszählung im Jahr 1983 über staatliches Hacking oder Data Mining.

Ein mittelbarer Grundrechtseingriff kann dann vorliegen, wenn die staatliche Datenerhebung zu Abschreckungseffekten auf die Grundrechtsausübung führt.[17] Diese Abschreckungseffekte können dazu führen, dass Grundrechtsträger:innen aus Angst vor Datenerhebungen z.B. nicht mehr an Versammlungen teilnehmen und dadurch auf die Wahrnehmung ihrer Grundrechte verzichten.[18]

Die Weitergabe erhobener Daten ist ein Grundrechtseingriff, der sich zeitlich an die Erhebung anschließen kann. Dazu gehören z.B. die Ergebnisse einer Überwachung, die im Rahmen des Art. 10 GG selbst verfassungskonform erfolgt ist.[19]

Offenbart der Einzelne hingegen freiwillig personenbezogene Daten im Internet, in sozialen Netzwerken und ähnlichen, unterliegen diese öffentlich zugänglichen Informationen nicht dem Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Es liegt kein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor, wenn staatliche Stellen im Internet verfügbare Kommunikationsinhalte erheben, die sich an jedermann oder zumindest an einen nicht weiter abgegrenzten Personenkreis richten.[20]

Beispiel: Beobachtung einer allgemein zugänglichen Webseite oder eines öffentlichen Chats, Abonnement einer offenen Mailingliste. Schwieriger sind Fragen von Datennutzungen in sozialen Netzwerken, die in der Regel eine Registrierung voraussetzen (Netzwerköffentlichkeit).

Setzen staatliche Stellen statistische Datenauswertungsprogramme (Data-Mining) ein, um große Mengen an Daten mit dem Ziel zu verarbeiten, Informationen über eine bestimmte Person zusammenzuführen, liegt ein Grundrechtseingriff vor.

Weiterführendes Wissen zur Eingriffsintensivierung durch Technik

Das Bundesverfassungsgericht begründet bereits 1983 die grundrechtliche Schutzlücke explizit mit den „modernen Bedingungen der Datenverarbeitung“, welche die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden, besonders gefährdet. Insbesondere bergen automatisierte Datenerhebungen für integrierte Informationssysteme zusammen mit anderen Datensammlungen die Gefahr, dass ein teilweises oder weitgehendes Persönlichkeitsbild erstellt wird, ohne dass Betroffene dessen Richtigkeit und Verwendung kontrollieren können. [21] Das heutige Ausmaß der Datenverarbeitung war Anfang der 80er Jahre noch nicht absehbar. Die Erhöhung der Eingriffsintensität durch technische Entwicklungen ist eine wiederkehrende Argumentationsstruktur des Bundesverfassungsgerichts, auch in neueren Entscheidungen.[22] Die Intensität des Grundrechtseingriffs kann sich auch durch die der Datenverarbeitung zugrunde liegende Technik erhöhen: Die Besonderheit des Eingriffspotentials von Maßnahmen der elektronischen Datenverarbeitung liegt z.B. in der Menge der verarbeiteten Daten (Big Data), die auf „konventionellem Wege“ [23], d.h. wohl durch menschliche Verarbeitung, gar nicht bewältigt werden könnten. Mit der Eingriffsintensität steigt auch die Kontrolldichte, was zukünftig beim Einsatz von intelligenten Technologien, z.B. selbstlernenden Algorithmen zu Problemen führen kann.

Weiterführendes Wissen zu additiven und iterativen Grundrechtseingriffen

Gesetzliche Vorschriften, die staatliche Behörden zum Umgang mit personenbezogenen Daten ermächtigen, begründet in der Regel verschiedene aufeinander aufbauende Eingriffe. Die Erhebung, Speicherung und Verwendung von Daten sind jeweils eigene Grundrechtseingriffe. Bezüglich des Datenaustausches zur staatlichen Aufgabenwahrnehmung ist zusätzlich zwischen der Datenübermittlung durch die Stelle, welche die Informationen vorliegen hat und der Stelle, die die Informationen abruft, zu unterscheiden. Abfrage und Übermittlung der Daten sind zwei miteinander korrespondiere Grundrechtseingriffe. Erforderlich ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Doppeltürmodell. Danach sind zwei verschiedene gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen erforderlich: Die erste (Tür) zur Übermittlung der Daten und die zweite (Tür) zur Datenabfrage. Ist für beide Normbereiche derselbe Gesetzgeber zuständig, können die Ermächtigungsgrundlagen auch in einer Norm zusammengefasst werden.[24] In den aufeinanderfolgenden Dateneingriffen kann man auch einen „iterativen Grundrechtseingriff“ sehen, wenn es sich um dieselben Daten handelt, die erhoben und übermittelt werden. Die Grundrechtseingriffe bauen dann in zeitlicher Reihenfolge zwingend aufeinander auf. Damit Daten übermittelt werden können, müssen sie zunächst erhoben werden. Anders liegt die Konstellation eines weiteren additiven Grundrechtseingriffs, der mehrere Grundrechtseingriffe in dasselbe Grundrecht einer grundrechtsberechtigten Person umfasst, die aber nicht zwingend aufeinander aufbauen müssen.

D. Rechtfertigung

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Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung können gerechtfertigt sein, wenn sie formell und materiell verfassungsgemäß sind. Jeder Eingriff in das Recht muss sich auf eine gesetzliche Grundlage stützen, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Das Bundesverfassungsgericht fordert zudem, dass jede Datenerhebung nur aus Gründen des überwiegenden Allgemeininteresses zulässig sein kann.[25]

I. Einschränkbarkeit des Grundrechts

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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewährleistet, für jede staatliche Datenerhebung, Speicherung oder Weitergabe ist aber eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage erforderlich. Es gilt der allgemeine Gesetzesvorbehalt des Art. 2 I GG. Erforderlich ist insbesondere, dass der Zweck der Datenverarbeitung klar ersichtlich sowie begrenzt ist und welche Verknüpfungs- und Verwendungsmöglichkeiten bestehen.

Der Gesetzgeber muss zudem organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen treffen, die einer Gefahr der Grundrechtsverletzung entgegenwirken.[26] Dazu gehören z.B. Auskunfts- und Löschrechte Betroffener.

II. Grenzen der Einschränkbarkeit

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Absolute Grenze ist der Wesensgehalt eines Grundrechts, Art. 19 II GG. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung muss in jedem Fall einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung gewährleisten, der einem staatlichen Zugriff entzogen ist.

Examenswissen: Aufgrund ihrer Eingriffsintensität unterliegen staatliche Überwachungsmaßnahmen spezifischen Anforderungen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung dazu drei Kriterien entwickelt: Die Überwachung muss durch besondere Schutzmaßnahmen flankiert werden, wenn sie den Kernbereich privater Lebensgestaltung berühren können. Die angestrebte Verwendung der Daten kann ihrerseits besondere grundrechtssichernde Verfahrensvorkehrungen erfordern und sie dürfen nicht zu einer lückenlosen Überwachung führen. Aus einer heimlichen Datenerhebung folgen nach dem Grundsatz der Normenklarheit besonders strenge Anforderungen [27].

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze der Einschränkbarkeit, fordert beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dass der Gesetzgeber den Verwendungszweck der Datenverarbeitung bereichsspezifisch und präzise bestimmt und dass die Daten für diesen Zweck geeignet und erforderlich sind. Die Verwendung der Daten ist auf diesen gesetzlichen Zweck begrenzt und kann nicht auf andere, wenn auch verfassungsrechtlich zulässige Zwecke gestützt werden. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist dadurch durch die genauere Definition des Zwecks im einschränkenden Gesetz vorstrukturierter als bei anderen Grundrechten.

Staatliche Ermittlungs- und Überwachungstätigkeit, die tief in die Privatsphäre der Betroffenen eingreift, sind nur verhältnismäßig, wenn sie dem Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter dienen, für deren Gefährdung oder Verletzung im Einzelfall belastbare Anhaltspunkte bestehen. Auch hier gilt die „je-desto Formel“: Je tiefer die Überwachungsmaßnahmen in die Privatsphäre eingreifen, desto strenger sind die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigungsprüfung.[28]

Für die konkrete Prüfung ist zwischen präventiven (zur Gefahrenabwehr) und repressiven (zur Strafverfolgung) Maßnahmen zu unterscheiden. Für Maßnahmen zur Gefahrenabwehr kommt es auf das Gewicht der zu schützenden Rechtsgüter an. Zum Schutz von Leib, Leben und Freiheit sind u.U. auch heimliche Überwachungsmaßnahmen zulässig, zum Schutz von Sachwerten hingegen nicht. [29]

Weiterführendes Wissen zur mittelbaren Drittwirkung

Zwischen Privaten wirkt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Wege der mittelbaren Drittwirkung. Die verfassungsrechtliche Wertung des Schutzes persönlicher Daten strahlt in das Zivilrecht ein, insbesondere über die Generalklauseln. Die aus der Abwehrdimension des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung entwickelten Grundsätze, lassen sich nicht auf das Verhältnis zwischen Privaten im Gleichordnungsverhältnis übertragen. Im Wege der mittelbaren Drittwirkung ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vielmehr der Ausdruck der sich gegenüberstehenden Grundrechte im Gegensatz zu einem Abwehranspruch gegenüber dem grundrechtsverpflichteten Staat. Die Wirkweise dieses Grundrechts im Zivilrecht als verfassungsrechtliche Wertentscheidung bedeutet nicht, dass seine Anforderungen deshalb in jedem Fall weniger weit reichen oder weniger anspruchsvoll sind, als die unmittelbar staatsgerichtete Schutzwirkung. [30] Je ungleicher das Verhältnis zwischen den privaten Parteien ist, desto näher kann die Bindung der Grundrechtsbindung des Staates kommen oder dieser sogar entsprechen [31]; z.B. wenn private Unternehmen eine staatsähnliche dominante Position innehaben. Praktische Relevanz hat dies unter anderem im Arbeitsrecht, wo anlasslose Überwachung von Arbeitnehmer:innen unzulässig ist.[32]

Weiterführendes Wissen zur Schutzpflicht

Staatliche Strukturen müssen so ausgestaltet sein, dass Verfahren dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung gerecht werden. Besondere praktische Relevanz hat die Datenerhebung durch Private, insbesondere global operierende Digitalkonzerne und Plattformbetreiber. Aufgrund erheblicher Datenmengen ist der tatsächliche Schutz personenbezogener Daten durch intransparente Datenverwendung im digitalen Bereich erheblich gefährdet. Diskutiert wird in globaler Hinsicht auch, inwieweit eine Schutzpflicht des Staates für die informationelle Selbstbestimmung der Büger:innen gegenüber der Datenerhebung durch ausländische Geheimdienste besteht.[33] Die freiwillige Preisgabe persönlicher Daten ist kein Grundrechtsverzicht, sondern gerade Ausdruck der Befugnis des Einzelnen, selbst über die Preisgabe seiner Daten zu bestimmen.

Weiterführendes Wissen zu Auswirkungen auf andere Rechtsgebiete

Auf der Rechtsfolgenseite können sich aus einem Eingriff in das Recht der informationellen Selbstbestimmung, der nicht auf einer hinreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage beruht, unmittelbar aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG Abwehransprüche auf Unterlassung von öffentlichen Äußerungen oder Löschung der Daten erhoben werden. In Betracht kommt der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch [34] oder der Folgenbeseitigungsanspruch.

Im zweiten Staatsexamen spielen die Ermittlungsbefugnisse der Strafprozessordnung zu Datenerhebungen eine besondere Rolle. Wichtig ist auch das Verständnis von Beweisverwertungsverboten. Unselbstständige Beweisverwertungsverbote können sich unmittelbar aus den Grundrechten ergeben. Im Strafprozess kann sich aus einem Verstoß gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein Beweisverwertungsverbot ergeben.

E. Konkurrenzen

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Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Menschenwürde, Art. 2 I, Art. 1 I GG. Es enthält keinen umfassenden Schutzanspruch hinsichtlich jedes Umgangs mit Informationen, der die übrigen Schutzdimensionen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts allgemein zusammenführen würde, sondern lässt deren Schutzbereiche unberührt.[35] Auch für die Fallbearbeitung bietet es sich deshalb an, die unterschiedlichen Gewährleistungsgehalte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als eigenständige Grundrechte zu begreifen, auch wenn diese dogmatisch gesehen alle Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist spezieller als der Schutz der Menschenwürde und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, da es sich auf einen ausgewählten Bereich der Persönlichkeit bezieht und auf die besonderen Gefährdungslagen durch Datenverarbeitung reagiert.

Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme[36] ist von seiner Schutzausrichtung her besonders eng mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verknüpft. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt im Gegensatz zum Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme nicht vor den Gefahren, die sich daraus ergeben, dass Grundrechtsträger:innen auf die Nutzung informationstechnischer Systeme angewiesen sind und dadurch zwangsläufig persönliche Daten preisgeben, die einen Zugriff auf einen großen und aussagekräftigen Datenbestand ermöglichen. [37] Schutzgut des Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ist nicht die Entscheidungsfreiheit über personenbezogene Daten, sondern die Sicherheit informationstechnischer Systeme vor Eindringen und Auslesen der in ihnen gespeicherten Daten, weil mit der Eingabe von Daten in ein solches System die Erwartung der Vertraulichkeit verbunden ist.

Der Schutz personenbezogener Daten vor Ermittlung, Speicherung und Weitergabe ist nicht Teil der negativen Meinungsfreiheit, da Tatsachen nur dann vom Schutzbereich des Art. 5 I GG umfasst sind, wenn sie zur Meinungsbildung beitragen.[38] Dadurch würden Angaben durch Betroffene selbst, die reine Tatsachenmitteilungen sind, von vorneherein nicht geschützt. Zudem würden Eingriffe durch heimliche Beobachtungen oder Datenerhebungen bei Dritten ebenfalls aus dem Schutzbereich herausfallen.

F. Europäische und internationale Bezüge

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Weder in der Europäischen Grundrechtecharta oder der EMRK, noch in der Europaratskonvention oder den OECD Richtlinien findet sich ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Art. 8 der Europäischen Grundrechtecharta schützt allerdings ausdrücklich personenbezogene Daten. Art. 8 EMRK schützt ebenfalls das Recht auf Privatleben, welches durch die Erhebung, Speicherung oder Verwendung personenbezogener Daten erheblich beeinträchtigt werden kann. Der Schutzgehalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wird daher ebenfalls in Art. 8 EMRK hineingelesen. [39] Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte schützt in Art. 12 das Privatleben und damit auch den Schutz persönlicher Daten.

Weiterführendes Wissen zum Datenschutz der Europäischen Union

Ausdrücklich ist ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung bzw. ein Recht auf Datenschutz als spezielles Grundrecht in Art. 8 der Grundrechtecharta der Europäischen Union sowie in verschiedenen Landesverfassungen Deutschlands normiert. [40]Das Volkszählungsurteil wird als Meilenstein für die verfassungsrechtliche Verankerung des Datenschutzes gesehen und entfaltete auch auf europäischer Ebene Einfluss. Der EuGH hat am Maßstab der europäischen Grundrechtecharta strenge Datenschutzstandards entwickelt, zuletzt in der Entscheidung zu einem Recht auf Vergessen.

Als unmittelbar geltende Verordnung regelt die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)[41] umfassende Anforderungen an die Verarbeitung personenbezogener Daten. Die Vorgaben der DSGVO haben hohe Praxisrelevanz, da sie als horizontaler Regulierungsansatz private und staatliche Datenverarbeiter adressieren und damit einen weiteren Anwendungsbereich als die Grundrechte haben, die nur die grundrechtsgebundene Staatsgewalt adressieren. Trotz der Rechtsform der Verordnung ergibt sich aus der DSGVO aufgrund zahlreicher Öffnungsklauseln, die den Mitgliedsstaaten ermöglichen, eigene Regelungen zu treffen, keine Vollharmonisierung eines europäischen Datenschutzstandards.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

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  • Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist das „Grundrecht auf Datenschutz“.
  • Jeder Schritt der Datenverarbeitung ist ein eigener Grundrechtseingriff.
  • Der Zweck der Datenerhebung muss präzise gesetzlich festgelegt werden.
  • Dem Gesetzgeber kommt die besondere Pflicht zu, Grundrechtsschutz durch Verfahren zu gewährleisten.

Weiterführende Studienliteratur

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  • Claudio Franzius, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, in: ZJS 2015, S. 259-270
  • Ferdinand Hufen, Staatsrecht II - Grundrechte, 8. Auflage 2020, § 12, Rn. 22 ff. zu aktuellen Fällen und Problemen.
  • Christina-Maria Leeb, Johannes Liebhaber, Grundlagen des Datenschutzrechts, JuS 2018, 534.

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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Abschnitt 1 - Allgemeine Grundrechtslehren

Abschnitt 2 - Aufbau der Prüfung eines Freiheitsgrundrechts

Abschnitt 3 - Grundrechtsschutz und Dritte

Abschnitt 4 - Verfahren, Konkurrenzen, Prüfungsschemata

Abschnitt 5 - Grundrechte im Mehrebenensystem

Abschnitt 6 - Einzelgrundrechte des Grundgesetzes

Fußnoten

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  1. BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83 = BVerfGE 65, 1.
  2. Siehe die Dokumentation des Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zur Diskussion über Vorschläge zur Aufnahme eines neuen Grundrechts der Kommunikations- bzw. Informationsfreiheit in das Grundgesetz, 5.2.2008, WD 3-034/08.
  3. BVErfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83 = BVerfGE 65, 1.
  4. Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung (Volkszählungsgesetz 1983) vom 25. März 1982 (BGBl. I S. 369) – VZG 1983 -.
  5. Eine kurze historische Einordnung findet sich bei der Anmerkung von Kühling, NJW 2017, 3069.
  6. BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83 Rn. 196 ff. = BVerfGE 65, 1.
  7. BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83 Rnd. 145 ff. = BVerfGE 65, 1.
  8. BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83 Rnd. 150 = BVerfGE 65, 1.
  9. BVerfG, Urt. v. 27.2.2008, Az.: 1 BvR 370/07 Rn. 198 = BVerfGE 120, 274.
  10. Hufen, Staatsrecht II- Grundrechte, § 12, Rn. 1.
  11. Bull, AöR 145 (2020), S. 291 (294)..
  12. a.A. OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.5.2005, Az.: 10 ME 385/08.
  13. Hufen, Staatsrecht II-Grundrechte, § 12, Rn. 6.
  14. BVerfG, Urt. v. 11.3.2008, Az. 1BvR 2074/05 =BVerfGE 120, 378 (399)- Automatisierte Kennzeichenerfassung.
  15. BVerfG, Urt. v. 6.11.2019, Az.: 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I.
  16. BVerfG, Beschl. v. 1.12.2020, Az.:2 BvR 916/11, Rn. 199.
  17. Staben, Der Abschreckungseffekt auf die Grundrechtsausübung, S.146
  18. Das hat das BVerfG bereits im Volkszählungsurteil anerkannt. [www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/1983/12/rs19831215_1bvr020983.html#abs146 BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83, Rn. 146] = BVerfGE 65, 1.
  19. BVerfG, Urt. v. 14.7.1999, Az.: 1 BvR 2226/94 = BVerfGE 100, 313 (358)
  20. BVerfG, Urt. v. 27.2.2008, Az.: 1 BvR 370/07 Rn. 308 = BVerfGE 120, 274- Telekommunikationsüberwachung I.
  21. BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83, Rn. 145 = BVerfGE 65, 1.
  22. siehe z.B. die Entscheidung zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung BVerfG, Beschl. v. 1.12.2020, Az.:2 BvR 916/11, Rn. 198 – st. Rspr. Weiterführend: Ruschemeier, VerfBlg, 16.12.2020.
  23. BVerfG, Beschl. v. 1.12.2020, Az.: 2 BvR 916/ 11, Rn. 198.
  24. Grundlegend: [BVerfG, Beschl. v. 24.1.2012, Az.: 1 BvR 1299/05] = BVerfGE 130, 151; vertiefend: [1] BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. Mai 2020, Az.: 1 BvR 1873/13 -, Rn. 1-275 – Bestandsdatenauskunft II.
  25. BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83, Rn. 148 = BVerfGE 65, 1.
  26. BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83, Rn. 149 = BVerfGE 65, 1.
  27. BVerfG, Urt.v. 20.4.2016, Az. 1 BvR 966 ua.-= BVerfGE 141, 220 (265)
  28. BVerfG, Urt.v. 20.4.2016, Az. 1 BvR 966 ua.- = BVerfGE 141, 220 (269).
  29. BVerfG, Urt.v. 20.4.2016, Az. 1 BvR 966 ua.- = BVerfGE 141, 220 (270).
  30. BVerfG, Urt. v. 6.11.2019, Az.: 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I.
  31. vgl. BVerfG, Urt. v. 22.2.2011- 1 BvR 699/06 = BVerfGE 128, 226 (249 f.).
  32. BAG NJW 2017, 3258.
  33. Neubert, AöR 140 (215), S. 267 ff.
  34. VG Berlin, Urteil vom 3.6.1993, Az.: VG 1 A 449/92 – Fall Stolpe zu öffentlichen Äußerungen des Bundesdatenschutzbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.
  35. BVerfG, Urt. v. 6.11.2019, Az.: 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I
  36. Entwickelt in BVerfG, Urt. v. 27.2.2008, Az.: 1 BvR 370/07 = BVerfGE 120, 274.
  37. BVerfG, Urt. v. 27.2.2008, Az.: 1 BvR 370/07 Rn. 200 = BVerfGE 120, 274.
  38. BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83 = BVerfGE 65, 1.
  39. EGMR Urt. v. 26.3.1987 – EGMR Aktenzeichen 924881 9248/81 – Leander ./. Schweden; Urt. v. 16.2.2000 – Aktenzeichen 2779895 27798/95 – Amann ./. Schweiz.
  40. Art. 33 der Verfassung von Berlin, Art. 11 der Verfassung des Landes Brandenburg, Art. 12 Abs. 4 der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, Art. 6 I des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Art. 4 II der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, Art. 4a der Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz, Art. 2 Sätze 2 und 3 der Verfassung des Saarlandes, Art. 33 der Verfassung des Freistaates Sachsen, Art. 6 I der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt und Art. 6 II der Verfassung des Freistaates Thüringen.
  41. Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG.