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Freie Entfaltung der Persönlichkeit - Art. 2 I iVm Art. 1 I GG

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Autorin: Dana-Sophia Valentiner

Notwendiges Vorwissen: Prüfung eines Freiheitsgrundrechts, Grundrechtsfunktionen, allgemeine Handlungsfreiheit – Art. 2 I GG

Lernziel: Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als dynamisches Grundrecht in seinen verschiedenen Ausprägungen kennenlernen, Überblick über den möglichen Prüfungsaufbau in der Klausur gewinnen

Das Persönlichkeitsrecht zählt zu den „am schwersten fassbaren Grundrechten des Grundgesetzes“[1]. Das liegt in der Formulierung des Art. 2 I 1 Hs. 1 GG begründet, die sehr weitreichend ein Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit verspricht. Das BVerfG hat dieses Recht unter Rückgriff auf die Menschenwürde aus Art. 1 I GG zum sogenannten „allgemeinen Persönlichkeitsrecht“ verdichtet. Auch um das Persönlichkeitsrecht von der allgemeinen Handlungsfreiheit abzugrenzen, haben BVerfG und Literatur spezifische Fallgruppen des Persönlichkeitsschutzes (zum Beispiel Recht auf Privatsphäre, Recht am eigenen Bild, postmortaler Persönlichkeitsschutz) gebildet. Allerdings zeigen technischer und gesellschaftlicher Wandel immer wieder weitere typisierte Gefährdungen für die Persönlichkeitsentfaltung auf, die eine Ausdifferenzierung und Ergänzung der Kasuistik (zum Beispiel um den Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme oder das Recht auf Anerkenntnis der geschlechtlichen Identität) erforderlich machen.

Weiterführendes Wissen

Die Ausbildungsliteratur unterscheidet in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG klassisch zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der allgemeinen Handlungsfreiheit. Die allgemeine Handlungsfreiheit wird dabei unmittelbar aus Art. 2 I GG hergeleitet, während das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG gestützt wird. Die Dogmatik zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht und zur allgemeinen Handlungsfreiheit löst sich mit dieser Unterscheidung ein Stück weit vom Wortlaut des Art. 2 I 1 Hs. 1 GG („Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“). Um dies zu verstehen, muss man wissen, dass das BVerfG in seiner Elfes-Entscheidung zunächst mit der allgemeinen Handlungsfreiheit ein weites Auffangrundrecht schuf, das verhältnismäßig einfach eingeschränkt werden kann.[2] Für die herausgebildeten Fallgruppen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht stellte das Gericht sodann unter Rückgriff auf die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 I GG höhere Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs auf.

A. Schutzbereich

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Das BVerfG leitet das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 I GG her.

Weiterführendes Wissen

Zunächst entwickelte das Reichsgericht das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Zivilrecht. Der BGH stützte es später auf Art. 1 I GG in Verbindung mit Art. 2 I GG, wobei das Gericht die Menschenwürde zuerst nannte. In der Soraya-Entscheidung griff das BVerfG im Jahr 1973 das privatrechtliche Persönlichkeitsrecht auf und formulierte ausdrücklich das verfassungsrechtliche allgemeine Persönlichkeitsrecht.[3]

Die Verknüpfung mit Art. 1 I GG ermöglicht vor allem, einen absolut geschützten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit zu beschreiben, der vor staatlichem Zugriff geschützt sein soll. Schon in der Elfes-Entscheidung aus dem Jahr 1957 stellte das BVerfG heraus, dass „dem einzelnen Bürger eine Sphäre privater Lebensgestaltung verfassungskräftig vorbehalten ist, also ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit besteht, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist“.[4] In der Mikrozensus-Entscheidung aus dem Jahr 1969 konkretisierte das BVerfG unter Rezeption der Literatur, der:dem Einzelnen müsse „um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein ‚Innenraum‘ verbleiben [...], in dem er ‚sich selbst besitzt‘ und ‚in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt‘“.[5] Ein solcher unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung ließe sich mit den weiten Schrankenregelungen des Art. 2 I GG allerdings nicht vereinbaren. Das Persönlichkeitsrecht sichert daher erst „unter dem Einfluß des Art. 1 I GG“ diesen besonderen Schutz.[6]

Weiterführendes Wissen

Ob der beabsichtigte Persönlichkeitsschutz nur durch die Herleitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unter Rückgriff auf die Garantie der Menschenwürde aus Art. 1 I GG sichergestellt werden kann, wird teilweise bezweifelt.[7] Zum Teil wird die Rechtsprechung des BVerfG dahingehend verstanden, dass „Art. 1 eher als Interpretationsrichtlinie [...], denn als Rechtsquelle für das allgemeine Persönlichkeitsrecht“ herangezogen werde.[8] Die Garantie der Menschenwürde wäre demnach vorrangig auf der Ebene der Rechtfertigung eines Eingriffs zu berücksichtigen, nicht zwingend zur Herleitung des Persönlichkeitsrechts.

Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ergänzt die speziellen Freiheitsrechte und sichert die von diesen nicht erfassten Grundbedingungen der Persönlichkeitsentfaltung.[9] Das BVerfG leitet daher aus diesem Recht die staatliche Aufgabe ab, „Grundbedingungen dafür zu sichern, dass die einzelne Person ihre Individualität selbstbestimmt entwickeln und wahren kann“[10]. Die Sicherung der Grundbedingungen erfolgt durch unterschiedliche Maßnahmen, in abwehrrechtlicher Hinsicht etwa durch Unterlassen von Eingriffen in die Privatsphäre. Das BVerfG formuliert überdies eine „Schutzpflicht der staatlichen Organe, die sich auch auf die Gewährleistung der für die Persönlichkeitsentfaltung konstitutiven Bedingungen bezieht“[11].

I. Sachlicher Schutzbereich

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Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt – neben der allgemeinen Handlungsfreiheit – in sachlicher Hinsicht die personale Autonomie der Einzelnen als „eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit“,[12] und zwar als Recht, „über sich nach eigenen Maßstäben [zu] verfügen“[13]. Erfasst sind davon – so das BVerfG – „nur solche Elemente der Persönlichkeitsentfaltung, die – ohne bereits Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes zu sein – diesen in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen“[14]. Art. 2 I (in Verbindung mit Art. 1 I) GG gebietet also „nicht Schutz gegen alles, was die selbstbestimmte Persönlichkeitsentwicklung auf irgendeine Weise beeinträchtigen könnte“[15]. Der sachliche Schutzbereich ist vielmehr dann eröffnet, „wenn die selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit spezifisch gefährdet ist“[16]. Spezifische Gefährdungen hat das BVerfG in den nachfolgenden Konstellationen angenommen, in denen es verschiedene Ausprägungen des Persönlichkeitsrechts als Rechte benannt und anerkannt hat. Es handelt sich dogmatisch um eigenständige Grundrechte.

Weiterführendes Wissen zur Systematisierung der Ausprägungen des Persönlichkeitsrechts

Ausprägungen des Persönlichkeitsrechts werden in der Literatur unterschiedlich systematisiert, zum Beispiel anhand der normativen Dimensionen der Selbstbestimmung, Selbstbewahrung und Selbstdarstellung[17] oder in Themenbereichen (Identität und Individualität, Privatleben, Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit, informationelle Selbstbestimmung, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme) zusammengefasst.[18] Die Darstellung hier erfolgt im Schutzbereich in Anlehnung an die Fallgruppen, die das BVerfG in seiner Rechtsprechung herausgebildet hat.

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1. Recht auf Privatsphäre

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Art. 2 I (in Verbindung mit Art. 1 I) GG garantiert als Recht auf Privatsphäre „jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann“[19]. Daraus folgt das Recht der Person, sich (insbesondere: räumlich) zurückzuziehen, abzuschirmen und allein zu sein.[20] Schutz und Achtung der Privatsphäre sind in ganz unterschiedlichen Konstellationen bedeutsam.

Beispiel: Geschützt sind die Vertraulichkeit des Tagebuchs, die Kommunikation unter Ehegatt:innen, ärztliche Aufzeichnungen über den Gesundheitszustand einer Person sowie das Ärztin-Patient-Verhältnis und bestimmte räumliche Rückzugsorte (wobei die Wohnung dem besonderen Schutz des Art. 13 I GG unterliegt)

a) Differenzierung verschiedener Sphären
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Um die Selbstbestimmung der Person über persönliche Lebenssachverhalte mit staatlichen Interessen und Interessen der Allgemeinheit in Einklang zu bringen, differenzierte das BVerfG in seiner früheren Rechtsprechung verschiedene Sphären der Persönlichkeitsentfaltung mit unterschiedlicher Schutzintensität.

Examenswissen: Die Differenzierung geht auf die zivilgerichtliche Rechtsprechung zurück, die wiederum durch das BVerfG aufgegriffen wurde.

Das BVerfG unterschied innerhalb eines abgestuften Schutzkonzepts die Sozialsphäre, die Privatsphäre und die Intimsphäre, oder auch: die Sphäre der Gemeinschaft, die Sphäre anderer und die eigene Sphäre.[21]

Die Intimsphäre beziehungsweise eigene Sphäre ist demnach durch einen besonders starken Bezug zur Menschenwürde ausgezeichnet und deshalb absolut geschützt, das heißt: eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Eingriffs ist nicht möglich. Staatliche Eingriffe in die Privatsphäre können unter strengen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt werden. Als legitimer Zweck kommen nur Allgemeinwohlerwägungen in Betracht. Eingriffe in die Sozialsphäre können unter weniger strengen Anforderungen gerechtfertigt werden,[22] das heißt: hier genügt ein einfacher legitimer Zweck für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Die sogenannte Sphärentheorie stellt also „umso strenge[re] Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe [...], je mehr im Bild konzentrischer Kreise der innere Bereich berührt wird“[23].

b) Grenzen der „Sphärentheorie“
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In der Rechtsprechung haben sich aber auch die Grenzen der typisierenden Differenzierung im Sinne der sogenannten Sphärentheorie gezeigt, besonders bei der Persönlichkeitsentfaltung in Interaktion mit anderen. Hier ist nicht immer deutlich, wann ein Sozialbezug vorliegt und unter welchen Voraussetzungen Interaktionen in die geschützte Intimsphäre fallen. Das stellt die „Sphärentheorie“ als solche in Frage.[24] Das BVerfG behalf sich zunächst, indem es auf die Intensität des Sozialbezugs und des Näheverhältnisses der beteiligten Personen in einer konkreten Situation abstellte, um die Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs zu bestimmen.

Beispiel: Ein intensiverer Schutz besteht bei vertraulichen Gesprächen innerhalb der Wohnung oder vertraulichen Briefen zwischen Geschwistern.

Weitere Grenzen der sogenannten „Sphärentheorie“ zeigen sich in Anbetracht neuer Gefährdungslagen für die freie Persönlichkeitsentfaltung, zum Beispiel durch gewandelte technische Möglichkeiten.[25] Diese lassen sich nicht schematisch mit Blick auf räumliche Verhältnisse und soziale Nähebeziehungen lösen.[26]

Klausurtaktik

Die Einordnung des Sachverhalts in eine der drei Sphären ist in einer Klausur zum Privatsphärenschutz regelmäßig trotz Kritik an der „Sphärentheorie“ empfehlenswert, weil Lösungsskizzen diese Differenzierung durchaus noch vorsehen. Im Rahmen der Rechtfertigung stellen sich je nach betroffener Sphäre besondere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. Es ist vertretbar, die „Sphärentheorie“ entweder im Schutzbereich anzusprechen oder erst bei der Prüfung der Rechtfertigung.

Die „Sphärentheorie“ ist allerdings nur heranzuziehen, soweit das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als Recht auf Privatsphäre betroffen ist. In den anderen Fallgruppen ist eine Differenzierung anhand der „Sphärentheorie“ wenig zielführend.

2. Recht auf Selbstdarstellung

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Das Recht auf Privatsphäre wird ergänzt durch das Recht auf Selbstdarstellung, welches das Individuum hinsichtlich seiner öffentlichen Wahrnehmung als Person schützt. Das Recht auf Selbstdarstellung wird unter anderem durch den Schutz der persönlichen Ehre gewährleistet.[27] Über den Ehrschutz hinaus erstreckt es sich aber auch auf weitere Aspekte des sozialen Geltungsanspruchs des Menschen.[28] Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit garantiert so ein breit verstandenes Recht auf Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit. Der Einzelnen obliegt danach die Befugnis, selbst darüber zu entscheiden, ob und wie sie als Person dargestellt wird.[29] Dazu gehört „die Möglichkeit, sich in der Kommunikation nach eigener Einschätzung situationsangemessen zu verhalten und sich auf die jeweiligen Kommunikationspartner einzustellen“.[30] Dem grundrechtsgebundenen Staat ist es außerdem untersagt, sich in herabsetzender Weise über seine Bürger:innen zu äußern und etwa von ihnen kundgetane Meinungen abschätzig zu kommentieren.[31]

Zu dem Grundrecht auf Selbstdarstellung gehört auch die Selbstbestimmung darüber, ob ein Kommunikationsinhalt einzig der Gesprächspartnerin, einem bestimmten Personenkreis oder der Öffentlichkeit zugänglich sein soll.

Weiterführendes Wissen

Im Zusammenwirken der unterschiedlichen Ausprägungen des Rechts auf Selbstdarstellung und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung garantiert das Persönlichkeitsrecht einen weitreichenden Offenbarungsschutz.[32] Das Individuum kann selbst darüber befinden, welche (höchst-)persönlicher Lebenssachverhalte es mit wem und unter welchen Umständen teilt. Ihm obliegt die Kontrollbefugnis über den Zugang zum Selbst.

Der Schutz der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit bezieht sich insbesondere auf die Offenbarung (höchst-)persönlicher Lebenssachverhalte, unter anderem durch die Medien Film, Audio und Literatur. Geschützt ist das Recht am eigenen Bild[33] und am gesprochenen Wort, außerdem das Recht auf Richtigstellung beziehungsweise Gegendarstellung.[34]

Beispiel: Schutz vor heimlichen Film- und Tonaufnahmen

Geschützt ist auch das Recht am eigenen Namen, der Ausdruck der Individualität und Identität der Person ist.[35]

Beispiel: Schutz des Nachnamens auch bei Eheschließung durch Wahlfreiheit zwischen der Fortführung des Geburtsnamens und der Bestimmung eines gemeinsamen Familiennamens

Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt auch vor herabwürdigenden Äußerungen und Beleidigungen.[36] Es kann insoweit die Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 I 1 GG beschränken. Dies gilt besonders, wenn die Herabwürdigung auf diskriminierenden Äußerungen beruht, die an die in Art. 3 III 1 GG genannten verpönten Merkmale anknüpfen.[37]

Eine besondere Ausformung des Rechts auf Selbstdarstellung im digitalen Kontext stellt das vom BVerfG jüngst thematisierte Recht auf Vergessen dar.

3. Recht auf Anerkenntnis der geschlechtlichen Identität

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In seiner Funktion zur Wahrung der Individualität und Identität gewährleistet das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit das Recht, die eigene Geschlechtsidentität zu finden und zu erkennen, sowie das Recht auf Anerkennung der geschlechtlichen Identität.[38]

Beispiel: Anerkennung der nicht-binären Geschlechtsidentität durch eine Eintragungsmöglichkeit im Personenstand

Dieses Recht konkretisierte das BVerfG in verschiedenen Entscheidungen zum sogenannten Transsexuellengesetz (TSG), das im Jahr 1980 in Kraft trat und bis heute eine Möglichkeit der Änderung des Geschlechtseintrags im Personenstand regelt. Das BVerfG erklärte zentrale Vorschriften dieses Gesetzes für verfassungswidrig.[39] Das TSG stellte mit Grundrechten nicht vereinbare Voraussetzungen für die personenstandsrechtliche Anerkennung des Geschlechts von trans Personen auf: Die antragstellenden Personen mussten sich unter anderem einem die äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen haben, dauernd fortpflanzungsunfähig und unverheiratet sein.

In der Entscheidung zur sogenannten „Dritten Option“ aus dem Jahr 2017 betreffend die personenstandsrechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität stellte sich das BVerfG gegen die bislang Gesetz und Rechtsprechung prägende bipolare Geschlechternorm, also die Annahme einer „natürlichen“ Zweigeschlechtlichkeit.[40] Wenn der Gesetzgeber beispielsweise im Personenstandsrecht an das Geschlecht von Personen anknüpft und eine Eintragung des Geschlechts in das Personenstandsregister vorsieht, muss eine Möglichkeit für nicht-binäre Menschen bestehen, in ihrer Geschlechtsidentität positiv anerkannt zu werden.[41]

Weiterführendes Wissen

Das Recht auf Anerkennung der geschlechtlichen Identität und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung (siehe hierzu unter 5.) sind verschiedene Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. In der Literatur werden sie teilweise verwechselt oder miteinander vermengt. Dies geht auch auf den Umstand zurück, dass die Rechtsprechung des BVerfG zum TSG (wie der Titel des Gesetzes selbst andeutet) von „Transsexualität“ spricht. Heute werden Fragen der personenstandsrechtlichen Anerkenntnis der Geschlechtsidentität hingegen deutlicher als solche benannt (zum Beispiel durch Begriffe wie „Transgeschlechtlichkeit“ und „Intergeschlechtlichkeit“). Es ging auch in den TSG-Entscheidungen des BVerfG nie um Sexualitäten, sondern immer um die Geschlechtsidentität.

4. Recht auf Kenntnis der Abstammung

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Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit umfasst auch das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Laut BVerfG sind Verständnis und Entfaltung der Individualität nämlich eng mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Faktoren verbunden.[42] Zu diesen Faktoren zählt auch die Abstammung. Die Kenntnis darüber, von wem eine Person genetisch abstammt, kann ein Anknüpfungspunkt für das Verständnis und die Entfaltung der eigenen Individualität sein. Das BVerfG führt dazu aus, dass die „Möglichkeit, sich als Individuum nicht nur sozial, sondern auch genealogisch in eine Beziehung zu anderen zu setzen, [...] im Bewusstsein der einzelnen Person eine Schlüsselstellung für ihre Individualitätsfindung wie für ihr Selbstverständnis und ihre langfristigen familiären Beziehungen zu anderen einnehmen“ könne.[43] Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt daher auch vor der Vorenthaltung verfügbarer Informationen über die eigene Abstammung.[44] Es beinhaltet zwar keinen Anspruch auf Verschaffung, wohl aber den Auftrag an den Staat, vor der Vorenthaltung verfügbarer Abstammungsinformationen zu schützen. Ein verfassungsrechtlich garantierter Anspruch gegenüber dem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater darauf, dass dieser in eine genetische Abstammungsuntersuchung einwilligt und die Entnahme einer für die Untersuchung geeigneten genetischen Probe duldet, folgt aus dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung jedoch nicht.

Daneben gewährleistet das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit auch das Recht eines Vaters auf Kenntnis der Abstammung des ihm rechtlich zugeordneten Kindes. Zur Verwirklichung dieses Rechts ist es verfassungsrechtlich sogar geboten, gesetzliche Regelungen zur Feststellung der Abstammung eines Kindes von dem rechtlichen Vater zu treffen.[45]

5. Recht auf sexuelle Selbstbestimmung

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Eine weitere Ausprägung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit stellt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung dar. Das BVerfG benannte dieses Recht erstmals ausdrücklich in der Entscheidung zur Strafbarkeit des Geschwisterbeischlafs (§ 173 II 2 StGB),[46] machte aber bereits in früheren Entscheidungen deutlich, dass die Sexualität als Lebensbereich dem besonderen Schutz des Persönlichkeitsrechts unterliegt. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis, das Verhältnis zur eigenen Sexualität und sexuelle Beziehungen zu anderen zu gestalten.[47] Es gebietet zudem – in seiner Schutzpflichtendimension – effektiven staatlichen Schutz vor sexualisierter Gewalt und sexuellen Übergriffen.

Beispiel: Konsensuell ausgeübte sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen

6. Recht auf selbstbestimmtes Sterben

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Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit umfasst „als Ausdruck persönlicher Autonomie auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, welches das Recht auf Selbsttötung einschließt“[48]. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist gewährleistet, soweit ein Mensch selbstbestimmt und eigenverantwortlich entscheidet, sich das Leben zu nehmen. Das BVerfG hat im Jahr 2020 entschieden, dass der Grundrechtsschutz sich auch auf die Freiheit erstreckt, für das selbstbestimmte Sterben bei Dritten Hilfe zu suchen und sie auch in Anspruch zu nehmen.[49] Das strafrechtliche Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 I StGB) ist deshalb verfassungswidrig, weil es der zum Suizid entschlossenen Person faktisch unmöglich macht, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen.

Eine spezielle Ausprägung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Es setzt sich aus Elementen des Schutzes der Privatsphäre und des Rechts auf Selbstdarstellung zusammen, mit einem besonderen Fokus auf den Schutz persönlicher Daten.

Siehe dazu im Detail den verlinkten Beitrag.

Eine technische Weiterentwicklung des Rechts auf Privatsphäre ist das Recht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.

Siehe dazu im Detail den verlinkten Beitrag.

II. Persönlicher Schutzbereich

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Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist ein sogenanntes „Jedermann-Grundrecht“, das heißt: jede natürliche Person kann sich auf den Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit berufen.

Ob der Schutz des Persönlichkeitsrechts sich auf den Schutz des ungeborenen Lebens erstreckt, wird unterschiedlich bewertet. Zum Teil wird ein pränataler Persönlichkeitsschutz mit dem Argument angenommen, ungeborenes Leben verfüge jedenfalls potenziell über die Möglichkeit zur Entfaltung der Persönlichkeit.[50] Nach anderer Ansicht wird der Schutz des ungeborenen Lebens nicht durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sondern über die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 II in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie sichergestellt.

Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG gewährleistet kein postmortales Persönlichkeitsrecht. Der Schutz des Persönlichkeitsrechts ist auf die Entfaltung der Persönlichkeit gerichtet. Das setzt die Existenz einer wenigstens potenziell oder zukünftig handlungsfähigen Person unabdingbar voraus.[51] Eine Fortwirkung des Persönlichkeitsrechts über den Tod hinaus ist abzulehnen, weil Trägerin dieses Grundrechts nur die lebende Person sein kann.[52] Allerdings wäre es mit der Menschenwürdegarantie nicht mehr vereinbar, wenn Personen nach ihrem Tod herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürften. Der essentielle postmortale Würdeschutz wird unmittelbar durch die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 I GG, nicht durch das Persönlichkeitsrecht vermittelt.

Umstritten ist die Frage, ob juristische Personen über Art. 19 III GG den Schutz des Persönlichkeitsrechts genießen können, weil der Menschenwürdekern des Persönlichkeitsrechts durch die Verbindung von Art. 2 I GG mit der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 I GG besonders betont wird. Juristische Personen besitzen jedoch keine Menschenwürde. Gegen eine wesensmäßige Anwendbarkeit auf juristische Personen spricht weiter, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Kern auf die Gewährleistung personaler Autonomie gerichtet ist, die juristische Personen nicht entfalten können. Das BVerfG hat eine wesensmäßige Anwendbarkeit auf juristische Personen des Privatrechts aber in Bezug auf das Recht am gesprochenen Wort angenommen.[53] Dieses Recht sichere vor allem, dass sich die Beteiligten in der Kommunikation eigenbestimmt und situationsangemessen verhalten können. Auch eine juristische Person, die durch natürliche Personen kommuniziert, könne insoweit einer grundrechtstypischen Gefährdungslage ausgesetzt sein.[54]

Beispiel: Schutz vor dem unbefugten Aufzeichnen oder Mithören von Gesprächen zwischen natürlichen Personen, die für eine juristische Person auftreten

B. Eingriff

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Bei der Prüfung des Eingriffs ergeben sich keine Besonderheiten. Denkbar sind vielfältige Eingriffe im „klassischen“ und „modernen“ Sinn.

Willigt die grundrechtsberechtigte Person in die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts, etwa in die Erhebung personenbezogener Daten oder die Verwendung von Foto- oder Videoaufnahmen ihrer Person ein, liegt in der Regel kein Grundrechtseingriff vor.[55]

Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in seinen unterschiedlichen Ausprägungen gerät häufig mit der Grundrechtsausübung Dritter in Konflikt.

Beispiel: Die Äußerung einer Person (A) im Rahmen ihrer Meinungsäußerungsfreiheit betrifft höchstpersönliche Aspekte des Lebens einer anderen Person (B) und/oder ist geeignet, diese herabzuwürdigen.

In solchen Konstellationen ist die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte zu beachten. Der Staat hat insbesondere durch die Justiz die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte bei der Rechtsanwendung und -auslegung hinreichend zu berücksichtigen und grundrechtlichen Wertungen zur Geltung zu verhelfen.

Beispiel: Wird im vorgenannten Beispiel Person A wegen ihrer Äußerung strafrechtlich verfolgt (zum Beispiel wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB), muss das Strafgericht bei der Rechtsanwendung und -auslegung sowohl die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 I 1 GG) als Abwehrrecht der A als auch den Schutz der persönlichen Ehre beziehungsweise das Recht auf Selbstdarstellung (Art. 2 I in Verbindung mit 1 I GG) der B berücksichtigen. Letzteres wird in diesem Fallbeispiel in seiner Schutzpflichtendimension relevant.

C. Rechtfertigung

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I. Einschränkbarkeit

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Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist einschränkbar durch die „Rechte anderer“, die „verfassungsmäßige Ordnung“ und das „Sittengesetz“ (Art. 2 I Hs. 2 GG). Diese sogenannte Schrankentrias erschöpft sich letztlich in der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne eines einfachen Gesetzesvorbehalts. Das Persönlichkeitsrecht ist also grundsätzlich einschränkbar durch formell und materiell verfassungsmäßige Gesetze.

Weiterführendes Wissen

Teilweise wird in der Literatur die Anwendbarkeit der Schrankentrias auf das Persönlichkeitsrecht in seinen verschiedenen Ausprägungen wegen dessen Menschenwürdebezug abgelehnt und stattdessen ein vorbehaltloser Grundrechtsschutz postuliert.[56] Dies lässt sich nur vor dem Hintergrund der dogmatischen Herleitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus der Verbindung von Art. 2 I GG und Art. 1 I GG verstehen. Der Wortlaut aus Art. 2 I GG steht dieser Ansicht jedoch entgegen. Das Ziel, die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 I GG durch eine vorbehaltlose Grundrechtsgewährleistung besonders zu schützen, kann vielmehr auch auf Ebene der Schranken-Schranken verfolgt werden. Art. 1 I GG tritt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung schutzverstärkend hinzu, wenn elementare Aspekte der Persönlichkeitsentfaltung betroffen sind.

II. Grenzen der Einschränkbarkeit

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Bei der Prüfung, ob im konkreten Fall die Grenzen der Einschränkbarkeit eingehalten wurden, ist die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 I GG – gewissermaßen als „Auslegungsrichtlinie“[57] – zu berücksichtigen. An dieser Stelle wird also bedeutsam, dass der grundrechtliche Persönlichkeitsschutz nach der Rechtsprechung des BVerfG aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG hergeleitet wird. Die Verknüpfung von Art. 2 I GG mit der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 I GG hat im Wesentlichen zwei Auswirkungen:

1) Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit beinhaltet einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung, der jeglichem staatlichen Eingriff entzogen ist.[58] Dieser absolute Schutz beruht darauf, dass die Menschenwürde „unantastbar“ ist und Beeinträchtigungen der Menschenwürde somit verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind.

2) Auch in Konstellationen, in denen der unantastbare Kernbereich des Persönlichkeitsrechts nicht betroffen ist, ist der Menschenwürdebezug zu beachten. Je intensiver der Menschenwürdebezug ausfällt, desto höhere Anforderungen ergeben sich an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung.

Diese Auswirkungen hegte das BVerfG für das Recht auf Privatsphäre als Ausprägung von Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG mit seiner ausdifferenzierten Sphärendogmatik – auch: Sphärentheorie (s.o.) – ein. Je nachdem, welche Sphäre betroffen ist, sollen unterschiedliche Anforderungen an den legitimen Zweck und die Angemessenheit einer Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts gestellt (s.o.). Weil keine klaren Abgrenzungskriterien für die Sphäreneinteilung vorliegen und sich die Sphärendogmatik außerdem nicht ohne Weiteres auf andere Ausprägungen des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (zum Beispiel das Recht auf Anerkenntnis der geschlechtlichen Identität) übertragen lässt, ist es aber überzeugender, die Grenzen der Einschränkbarkeit ausschließlich danach zu bestimmen, wie stark der Menschenwürdebezug ausgeprägt ist. Ist der Menschenwürdebezug derart intensiv, dass sich jeder Eingriff in das Grundrecht verbietet, ist eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht möglich. Handelt es sich nicht um einen solchen Fall absoluten Schutzes, ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Intensität des Menschenwürdebezugs zu berücksichtigen. Der Menschenwürdebezug fällt insoweit autonomieverstärkend ins Gewicht.

Klausurtaktik

Für die Klausurbearbeitung empfiehlt es sich dennoch, bei der Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Recht auf Privatsphäre die sogenannte „Sphärentheorie“ kurz anzusprechen und den konkreten Sachverhalt einer der Sphären (Intim-, Privat-, Sozialsphäre) zuzuordnen. Viele Prüfer:innen wollen hierzu einfach etwas lesen. Die Prüfung darf sich aber nicht in der Zuordnung erschöpfen. Zusätzlich sind ein vorliegendes besonderes Näheverhältnis und der konkrete Sozialbezug zu berücksichtigen. Sofern nicht unzweifelhaft die Intimsphäre betroffen und somit ein absoluter Schutz geboten ist, ist eine sorgfältige Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen. Zu berücksichtigen sind hier wiederum das abstrakte Gewicht der in Rede stehenden Schutzgüter und ihr Menschenwürdebezug, die Intensität ihrer konkreten Betroffenheit und sämtliche Argumente für und wider die Angemessenheit.

D. Grundrechtskonkurrenzen

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Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in den hier dargestellten Ausprägungen steht grundsätzlich gleichberechtigt neben anderen Freiheitsrechten.[59] Nach den Grundsätzen der Spezialität tritt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aber hinter anderen besonderen Freiheitsrechten zurück, soweit diese das in Rede stehende verfassungsrechtliche Schutzgut explizit erfassen. Sofern andere Grundrecht dem Schutz der Privatsphäre dienen (zum Beispiel Art. 13 I GG), gehen diese dem Recht auf Privatsphäre aus Art. 2 I GG vor.[60] Gegenüber der allgemeinen Handlungsfreiheit, die ebenfalls aus Art. 2 I GG hergeleitet wird, stellt das allgemeine Persönlichkeitsrecht das speziellere Grundrecht dar.[61]

Bei den Grundrechtskonkurrenzen ist weiter der dynamische Charakter des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zu beachten, der Fortentwicklungen des Grundrechtsschutzes erforderlich macht, um mit Blick auf neuartige Gefährdungen für die Persönlichkeitsentfaltung (zum Beispiel wegen technischer Innovationen oder gesellschaftlichen Wandels) grundrechtliche Schutzlücken zu schließen.

Die unterschiedlichen Ausprägungen des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit werden durch das BVerfG nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzt, auch wenn es sich bei den unterschiedlichen Ausprägungen um eigenständige Rechte handelt. Teilweise kommt es hier auch zu Überschneidungen der grundrechtlichen Schutzbereiche.

Beispiel: In der Entscheidung zum sogenannten Scheinvaterregress geht es um die Auskunft der Mutter eines Kindes gegenüber dem rechtlichen Vater über ihre Sexualpartner im Zeitpunkt der Empfängnis zur Durchsetzung unterhaltsrechtlicher Regressansprüche.[62] Ein richterrechtlich anerkannter Auskunftsanspruch tangiert die informationelle Selbstbestimmung (so das BVerfG), aber auch die sexuelle Selbstbestimmung der Betroffenen, jeweils als Selbstbestimmung über die Offenbarung von sexualitätsbezogenen Daten.

E. Europäische und internationale Bezüge

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Im europäischen und internationalen Grund- und Menschenrechtsschutzsystem wird die freie Entfaltung der Persönlichkeit vor allem durch Privatheitsrechte garantiert. Der Schutz bzw. die Achtung des Privatlebens ist in einer ganzen Reihe von Rechtstexten des europäischen und internationalen Menschenrechtsschutzes verankert.

Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh regeln, dass jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz hat (vgl. auch Art. 17 ICCPR). Der EGMR versteht das Privatheitsrecht aus Art. 8 EMRK umfassend als Garantie personaler Autonomie[63] und weist damit im Ergebnis ein mit dem Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG vergleichbares Schutzniveau auf.

In UN-Menschenrechtsabkommen werden die Privatheitsrechte ebenfalls benannt und konkretisiert. Art. 22 I CRPD stellt klar, dass Privatheitsrechte für Menschen mit Behinderungen unabhängig von Aufenthaltsort oder Wohnform gelten, in der sie leben. Art. 22 II CRPD statuiert zudem die Pflicht der Vertragsstaaten, auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen die Vertraulichkeit von Informationen über die Person, die Gesundheit und die Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen zu schützen. Nach der UN-Kinderrechtskonvention gelten Privatheitsrechte auch für Kinder, vgl. Art. 16 CRC.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

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  • Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist ein dynamisches Grundrecht, das aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG hergeleitet wird. Vor dem Hintergrund neuer Gefährdungen für die Persönlichkeitsentfaltung, die sich aus dem technischen oder sozialen Wandel ergeben können, wird es durch das BVerfG regelmäßig um weitere Ausprägungen konkretisiert.
  • Im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung ist die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 I GG besonders zu berücksichtigen. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 I in Verbindung mit. Art. 1 I GG garantiert einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung. Liegt ein derart intensiver Menschenwürdebezug vor, kann ein Eingriff von vornherein nicht gerechtfertigt werden. Im Übrigen ist die Intensität des Menschenwürdebezugs ausschlaggebend für die Anforderungen an die Rechtfertigung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Weiterführende Studienliteratur

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  • Gabriele Britz, Freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I 1 GG) – Verfassungsversprechen zwischen Naivität und Hybris?, NVwZ 2019, S. 672-677
  • Fall 7 aus dem OpenRewi Fallbuch zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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Abschnitt 1 - Allgemeine Grundrechtslehren

Abschnitt 2 - Aufbau der Prüfung eines Freiheitsgrundrechts

Abschnitt 3 - Grundrechtsschutz und Dritte

Abschnitt 4 - Verfahren, Konkurrenzen, Prüfungsschemata

Abschnitt 5 - Grundrechte im Mehrebenensystem

Abschnitt 6 - Einzelgrundrechte des Grundgesetzes

Fußnoten

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  1. Lang, in: BeckOK, 46. Ed. 15.2.2021, Art. 2 GG Rn. 31.
  2. BVerfG, Urt. v. 16.1.1957, Az.: 1 BvR 253/56, Rn. 14 ff. = BVerfGE 6, 32 (36 f.) – Elfes.
  3. BVerfG, Beschl. v. 14.2.1973, Az.: 1 BvR 112/65, Rn. 27 f. = BVerfGE 34, 269 (281) – Soraya.
  4. BVerfG, Urt. v. 16.1.1957, Az.: 1 BvR 253/56, Rn. 32 = BVerfGE 6, 32 (41) – Elfes.
  5. BVerfG, Beschl. v. 16.7.1969, Az.: 1 BvL 19/63, Rn. 34 = BVerfGE 27, 1 (6) – Mikrozensus.
  6. Jarass, NJW 1989, 857.
  7. Überzeugend Britz, Freie Entfaltung durch Selbstdarstellung – Eine Rekonstruktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I GG, 2007, 25 f.; kritisch Horn, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 149 Rn. 29.
  8. Lang, in: BeckOK, 46. Ed. 15.2.2021, Art. 2 GG Rn. 33 mit Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 15.1.1970, Az.: 1 BvR 13/68, Rn. 17 f. = BVerfGE 27, 344 (350 f.) – Ehescheidungsakten.
  9. Siehe nur BVerfG, Beschl. v. 26.2.1997, Az.: 1 BvR 2172/96, Rn. 81 = BVerfGE 95, 220 (241) – Aufzeichnungspflicht; Beschl. v. 10.11.1998, Az.: 1 BvR 1531/96, Rn. 42 = 99, 185 (193 f.) – Scientology; Urt. v. 15.12.1999, Az.: 1 BvR 653/96, Rn. 68 f. = 101, 361 (380) – Caroline von Monaco II; Beschl. v. 13.6.2007, Az.: 1 BvR 1783/05, Rn. 70 ff. = 119, 1 (23 f.) – Esra.
  10. BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017, Az.: 1 BvR 2019/16, Rn. 38 = BVerfGE 147, 1 (19) – Geschlechtsidentität m.w.N.
  11. BVerfG, Beschl. v. 6.5.1997, Az.: 1 BvR 409/90, Rn. 28 = BVerfGE 96, 56 (64) – Vaterschaftsauskunft m.w.N.
  12. Im Kontext des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung BVerfG, Urt. v. 15.12.1983, Az.: 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83, Rn. 156 = BVerfGE 65, 1 (44) – Volkszählung.
  13. BVerfG, Urt. v. 26.2.2020, Az.: 2 BvR 2347/15, Rn. 207.
  14. Ständige Rechtsprechung, siehe nur BVerfG, Urt. v. 19.4.2016, Az.: 1 BvR 3309/13, Rn. 32 = BVerfGE 141, 186 (201 f.) – Isolierte Vaterschaftsfeststellung m.w.N.
  15. BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017, Az.: 1 BvR 2019/16, Rn. 38 = BVerfGE 147, 1 (19) – Geschlechtsidentität.
  16. BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017, Az.: 1 BvR 2019/16, Rn. 38 = BVerfGE 147, 1 (19) – Geschlechtsidentität. Hervorhebung im Original.
  17. Kingreen/Poscher, Grundrechte, 36. Aufl. 2020, Rn. 442 ff.
  18. Papier/Krönke, Grundkurs Öffentliches Recht 2: Grundrechte, 4. Aufl. 2020, Rn. 178.
  19. BVerfG, Urt. v. 5.6.1973, Az.: 1 BvR 536/72, Rn. 44 = BVerfGE 35, 202 (220) – Lebach; Urt. v. 31.1.1989, Az.: 1 BvL 17/87, Rn. 53 = 79, 256 (268) – Kenntnis der eigenen Abstammung.
  20. Vgl. Kingreen/Poscher, Grundrechte, 36. Aufl. 2020, Rn. 444.
  21. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.9.1989, Az.: 2 BvR 1062/87, Rn. 29 f. = BVerfGE 80, 367 (374) – Tagebuch.
  22. Siehe nur BVerfG, Beschl. v. 15.1.1970, Az.: 1 BvR 13/68, Rn. 17 f. = BVerfGE 27, 344 (351) – Ehescheidungsakten m.w.N.
  23. Lang, in: BeckOK, 46. Edition, Stand: 15.2.2021, Art. 2 GG Rn. 35.
  24. Eine „Verdunkelung“ der Rechtslage durch die „Sphärentheorie“ bemängeln Kunig/Kämmerer, in: v. Münch/Kunig, 7. Aufl. 2021, Art. 2 GG Rn. 88.
  25. Horn, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 149 Rn. 35.
  26. Nebel, ZD 2015, 517 (518).
  27. BVerfG, Beschl. v. 3.6.1980, Az.: 1 BvR 185/77, Rn. 14 = BVerfGE 54, 148 (154) – Eppler; Beschl. v. 3.6.1980, Az.: 1 BvR 797/78, Rn. 22 = 54, 208 (217) – Böll; Beschl. v. 10.10.1995, Az.: 1 BvR 1476, 1980/91, 102, 221/92, Rn. 109 = 93, 266 (290) – „Soldaten sind Mörder“; Beschl. v. 25.10.2005, Az.: 1 BvR 1696/98, Rn. 25 = 114, 339 (346) – Mehrdeutige Meinungsäußerungen.
  28. BVerfG, Beschl. v. 17.08.2010, Az.: 1 BvR 2585/06, Rn. 21 = NJW 2011, 511.
  29. Grundlegend Britz, Freie Entfaltung durch Selbstdarstellung – Eine Rekonstruktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I GG, 2007, passim.
  30. BVerfG, Beschl. v. 9.10.2002, Az.: 1 BvR 1611/96, 1 BvR 805/98, Rn. 29 = BVerfGE 106, 28 (39) – Mithörvorrichtung.
  31. BVerfG, Beschl. v. 17.8.2010, Az.: 1 BvR 2585/06, Rn. 21 = NJW 2011, 511.
  32. Siehe dazu Valentiner, Das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung: Zugleich eine gewährleistungsdogmatische Re-konstruktion des Rechts auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, 2021, 119 f.
  33. Tinnefeld/Viethen, NZA 2003, 468 (469 f.).
  34. Siehe nur BVerfG, Beschl. v. 14.1.1998, Az.: 1 BvR 1861/93, 1864/96, 2073/97, Rn. 82 = BVerfGE 97, 125 (147) – Caroline von Monaco I.
  35. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.3.1988, Az.: 1 BvL 9/85, 43/86, Rn. 47 = BVerfGE 78, 38 (49) – Gemeinsamer Familienname; Urt. v. 30.1.2002, Az.: 1 BvL 23/96, Rn. 51 f. = 104, 373 (385) – Ausschluss vom Doppelnamen; Urt. v. 5.5.2009, Az.: 1 BvR 1155/03, Rn. 24 = 123, 90 (102) – Mehrfachnamen.
  36. Siehe zur Meinungsfreiheit in einer solchen Konstellation Fall 5, im OpenRewi Grundrechte Fallbuch
  37. BVerfG, Beschl. v. 2.11.2020, Az.: 1 BvR 2727/19, Rn. 18.
  38. Siehe nur BVerfG, Beschl. v. 6.12.2005, Az.: 1 BvL 3/03, Rn. 47 f. = BVerfGE 115, 1 (14); Beschl. v. 18.7.2006, Az.: 1 BvL 1, 12/04, Rn. 64 = 116, 243 (262 f.); Beschl. v. 27.5.2008, Az.: 1 BvL 10/05, Rn. 37 = 121, 175 (190); Beschl. v. 11.1.2011, Az.: 1 BvR 3295/07, Rn. 51 = 128, 109 (214).
  39. Einen Überblick über die Rechtsprechung bis 2011 bietet Wielpütz, NVwZ 2011, 474 ff.
  40. BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017, Az.: 1 BvR 2019/16, Rn. 38 = BVerfGE 147, 1 – Geschlechtsidentität.
  41. Zur Entscheidung und weiteren Reformbedarfen siehe Berndt-Benecke, NVwZ 2019, 286 (288 ff.).
  42. BVerfG, Urt. v. 31.1.1989, Az.: 1 BvL 17/87, Rn. 53 = BVerfGE 79, 256 (268) – Kenntnis der eigenen Abstammung.
  43. BVerfG, Urt. v. 19.4.2016, Az.: 1 BvR 3309/13, Rn. 35 = BVerfGE 141, 186 (202) – Isolierte Vaterschaftsfeststellung.
  44. BVerfG, Urt. v. 19.4.2016, Az.: 1 BvR 3309/13, Rn. 31 = BVerfGE 141, 186 (201) – Isolierte Vaterschaftsfeststellung.
  45. BVerfG, Urt. v. 13.2.2007, Az.: 1 BvR 421/05, Rn. 59 ff. = BVerfGE 117, 202 (225 ff.) – Vaterschaftsfeststellung.
  46. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2008, Az.: 2 BvR 392/07, Rn. 33 = BVerfGE 120, 224 (239) – Geschwisterbeischlaf.
  47. Grundlegend Valentiner, Das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung: Zugleich eine gewährleistungsdogmatische Rekonstruktion des Rechts auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, 2021.
  48. BVerfG, Urt. v. 26.2.2020, Az.: 2 BvR 2347/15, Rn. 208.
  49. BVerfG, Urt. v. 26.2.2020, Az.: 2 BvR 2347/15, Rn. 212.
  50. Lang, in: BeckOK GG, 46. Ed. 15.2.2021, Art. 2 GG Rn. 49.
  51. BVerfG, Beschl. v. 24.2.1971, Az.: 1 BvR 435/68, Rn. 60 = BVerfGE 30, 173 (194) – Mephisto.
  52. BVerfG, Beschl. v. 24.2.1971, Az.: 1 BvR 435/68, Rn. 60 = BVerfGE 30, 173 (194) – Mephisto.
  53. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.10.2002, Az.: 1 BvR 1611/96, 1 BvR 805/98, Rn. 38 = BVerfGE 106, 28 (43) – Mithörvorrichtung.
  54. BVerfG, Beschl. v. 9.10.2002, Az.: 1 BvR 1611/96, 1 BvR 805/98, Rn. 38 = BVerfGE 106, 28 (43) – Mithörvorrichtung.
  55. Martini, JA 2009, 839 (842).
  56. Tiedemann, DÖV 2003, 74 (76).
  57. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, 7. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 89.
  58. BVerfG, Urt. v. 16.1.1957, Az.: 1 BvR 253/56, Rn. 32 = BVerfGE 6, 32 (41) – Elfes.
  59. Lang, in: BeckOK GG, 46. Ed. 15.2.2021, Art. 2 GG Rn. 54.
  60. Kunig/Kämmerer, in: v. Münch/Kunig, 7. Aufl. 2021, Art. 2 GG Rn. 59.
  61. Rixen, in: Sachs, 9. Aufl. 2021, Art. 2 GG Rn. 64.
  62. BVerfG, Beschl. v. 24.2.2015, Az.: 1 BvR 472/14 = BVerfGE 138, 377 – Mutmaßlicher Vater.
  63. Vgl. EGMR, Urt. v. 29.4.2002, Az.: 2346/02, Rn. 61 = NJW 2002, 2851 (2853 f.) – Pretty v. The United Kingdom; Urt. v. 12.6.2003, Az.: 35968/97, Rn. 69 – van Kück v. Germany.