Einstweiliger Rechtsschutz

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Autorin: Louisa Linke

Notwendiges Vorwissen: Grundrechtsfunktionen; Grundrechtsberechtigung Allgemein; Grundrechtsberechtigung Juristischer Personen; Grundrechtsbindung; Die Charta-Rechte in der Rechtsprechung des BVerfG

Lernziel: Prüfungsvoraussetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem BVerfG verstehen

Die durchschnittliche Verfahrensdauer von Verfassungsbeschwerden beläuft sich in 80 Prozent der Verfahren auf ein Jahr, in zehn Prozent der Verfahren auf zwei Jahre und zehn Prozent der Verfahren sind drei Jahre und länger anhängig.[1]

Aufgrund der Länge der Verfahren drohen irreversible Zustände im Einzelfall, also der Einritt nicht rückgängig zu machender Folgen vor dem Ergehen einer Entscheidung in der Hauptsache (Verfassungsbeschwerde). Dies soll durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung verhindert werden. Der einstweilige Rechtsschutz vor dem BVerfG hat dabei zwei Funktionen: die Sicherungsfunktion und die Befriedungsfunktion. So soll die Schaffung vollendeter Tatsachen verhindert werden, wodurch die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit der später im Hauptsacheverfahren ergehenden Entscheidung gesichert werden soll.[2] Die Befriedungsfunktion ist in der bis zum Ergehen der Hauptsachentscheidung verbindlichen und abschließenden Regelung zu sehen.[3]

Klausurtaktik

Die meisten Klausursachverhalte werden allein die Prüfung einer Verfassungsbeschwerde zum Gegenstand haben. Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz als Ergänzung einbezogen wird, um die Schwierigkeit des Falles zu erhöhen. Angesichts der zahlreichen Anträge im einstweiligen Rechtsschutz im Zuge der Covid-19-Pandemie ist es umso wahrscheinlicher, dass die Studierenden mit der Thematik des einstweiligen Rechtsschutzes in der Klausur konfrontiert werden.

Siehe für die Fallbearbeitung beispielsweise Fall 9 aus dem OpenRewi Grundrechte Fallbuch.

A. Zulässigkeit[Bearbeiten]

Klausurtaktik

Die im Rahmen der Zulässigkeit zu prüfenden Punkte weichen je nach Ersteller:in der Lösungsskizze deutlich voneinander ab. Ein einheitliches Prüfungsschema hat sich noch nicht entwickelt. Geprüft wird beispielsweise manchmal auch die Prozessfähigkeit oder, dass es an einer evidenten Unzulässigkeit des Hauptsacheverfahrens (mitunter im Rechtsschutzbedürfnis oder als gesonderter Prüfungspunkt angesprochen) fehlt. Hingegen wird zum Teil auf die Antragsbefugnis verzichtet. Die folgenden Ausführungen sind daher nur als ein Vorschlag zu verstehen.

Formulierungsbeispiel Obersatz
„Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig, wenn alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen.“

I. Zuständigkeit[Bearbeiten]

Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das BVerfG gemäß § 32 I BVerfGG zuständig.

II. Statthaftigkeit[Bearbeiten]

§ 32 I BVerfGG setzt einen „Streitfall“ für den Erlass einer einstweiligen Anordnung voraus. Ein solcher Streitfall liegt vor, wenn ein Hauptsacheverfahren anhängig oder zumindest möglich ist.[4] Der einstweilige Rechtsschutz ist demnach akzessorisch zum Hauptsacheverfahren, welches den Streitfall bildet. Dabei ist der einstweilige Rechtsschutz grundsätzlich innerhalb aller Verfahrensarten vor dem BVerfG denkbar.

Weiterführendes Wissen

Eine Ausnahme bildet Art. 93 I Nr. 4c GG, siehe dazu § 96a III BVerfGG.

Ein isolierter Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist möglich. Dabei muss es der den Antrag stellenden Person aber noch möglich sein, einen zulässigen Antrag in der Hauptsache zu stellen.

III. Antragsberechtigung[Bearbeiten]

Die Antragsberechtigung richtet sich nach dem Hauptsacheverfahren. Entscheidend ist, ob die antragstellende Person des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens im Hauptsacheverfahren als Beteiligte:r (antragstellende Person, Antragsgegner:in oder sonstige beteiligte Person, siehe dazu zum Beispiel §§ 36 oder 90 I BVerfGG) anzusehen ist.[5] Ist im Hauptsacheverfahren eine Verfassungsbeschwerde anhängig oder diese möglich, ist für die Antragsberechtigung im einstweiligen Rechtsschutz zu prüfen, ob die antragstellende Person im Hauptsacheverfahren beschwerdefähig wäre.

Sofern bereits ein Hauptsacheverfahren vor dem BVerfG anhängig ist, ist das BVerfG auch dazu ermächtigt, eine einstweilige Anordnung von Amts wegen, also ohne das Vorliegen eines Antrages, zu erlassen.[6]

IV. Antragsbefugnis[Bearbeiten]

Das BVerfG kann gemäß § 32 I BVerfGG eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl erlassen, sofern dies dringend geboten ist. Klausurrelevant wird dabei am ehesten eine Abwehr schwerer Nachteile sein, wobei auch das gemeine Wohl (also das Allgemeinwohl) in Betracht kommt.[7] Demnach ist eine Antragsbefugnis gegeben, wenn es möglich erscheint, dass der antragstellenden Person oder der Allgemeinheit ein schwerer Nachteil droht.[8]

Klausurtaktik

Zum Teil wird hier bereits ein Anordnungsgrund geprüft. Dieser verlangt, dass die einstweilige Anordnung zur Abwehr eines schweren Nachteils dringend geboten ist, vergleiche § 32 I BVerfGG. Nach dem vorliegenden Aufbauvorschlag wird diese Thematik erst in der Begründetheit relevant.[9]

V. Keine Vorwegnahme der Hauptsache[Bearbeiten]

Unzulässig sind Anträge, die auf eine endgültige Sachentscheidung abzielen. Denn mit der einstweiligen Anordnung soll ein Zustand allein vorläufig geregelt werden, nicht aber die Hauptsache vorentschieden.[10] Ausnahmen von diesem Grundsatz sind aber im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes möglich, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache möglicherweise zu spät käme und der antragstellenden Person kein ausreichender Rechtsschutz auch auf andere Weise gewährt werden kann[11] oder ihr ein schwerer, nicht wiedergutzumachender Nachteil entstünde.[12]

Beispiel: Im Zuge der Covid-19-Pandemie wurden verschiedene Versammlungen angemeldet, die jedoch mit einem Verweis auf den Infektionsschutz verboten wurden. Ist angesichts des bald anstehenden Termins der geplanten Versammlung eine rechtzeitige Entscheidung des BVerfGnicht zu erwarten, kann ausnahmsweise eine einstweilige Anordnung erfolgen, die die Hauptsache vorwegnimmt.[13]

Klausurtaktik

Die Vorwegnahme der Hauptsache wird mitunter im Rahmen des Rechtsschutzbedürfnisses oder der Subsidiarität geprüft.

VI. Subsidiarität des einstweiligen Rechtsschutzes[Bearbeiten]

Der Grundsatz der Subsidiarität findet auch im einstweiligen Rechtsschutz Anwendung. Voraussetzung einer Anordnung ist demnach unter anderem, dass die antragstellende Person ihre gefährdete Rechtsposition nicht auf einem anderen Weg sichern kann.[14] Entscheidend kann dabei sein, ob sie bereits im fachgerichtlichen Verfahren erfolglos einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt hat.[15]

VII. Rechtsschutzbedürfnis[Bearbeiten]

Im Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG muss ein allgemeines Rechtsschutzbedürfnis bestehen. Liegen die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vor, so wird dies bereits indiziert.[16] Das Rechtsschutzbedürfnis kann aber fehlen, wenn etwa zu erwarten ist, dass das BVerfG rechtzeitig in dem Hauptsacheverfahren entscheidet,[17] die beantragte Maßnahme nicht vollzogen werden kann[18] oder der antragstellenden Person eigene Maßnahmen möglich sind, durch die sie ihr beantragtes Ziel erreichen kann[19] oder die beantragte Maßnahme nicht mehr geboten ist[20].

VIII. Form und Frist[Bearbeiten]

Der Antrag muss schriftlich beim BVerfG eingehen (vergleiche § 23 I 1 BVerfGG); er ist zu begründen (vergleiche § 23 I 2 BVerfGG). Eine Frist für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sieht das BVerfGG nicht vor.

B. Begründetheit[Bearbeiten]

Formulierungsbeispiel Obersatz
„Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz müsste auch begründet sein.“

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist nach § 32 I BVerfGG begründet, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Abweichend von der Formulierung „kann“ in § 32 BVerfGG muss das BVerfG unter diesen Voraussetzungen eine einstweilige Anordnung erlassen.[21]

Klausurtaktik

Vor der eigentlichen Prüfung der Begründetheit des Antrages kann ein Gliederungspunkt eingefügt werden, der sich mit dem Prüfungsmaßstab des BVerfG auseinandersetzt. Dieser kann entsprechend mit Prüfungsmaßstab oder Prüfungsumfang überschrieben werden. Außerdem können die Überschriften auch anders gewählt werden mit der Folge, dass ein anderer Aufbau der Begründetheitsprüfung vorzunehmen ist. So kann I. auch allgemeiner als Erfolgsaussichten in der Hauptsache tituliert werden, sodass die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in besonderen Ausnahmefällen bereits dort zu prüfen wäre. Um der korrigierenden Person in der Klausur aber aufzuzeigen, dass die besondere Prüfung der Begründetheit (Folgenabwägung) grundsätzlich bekannt ist, ist der hier vorgeschlagene Aufbau empfehlenswert. Auch wenn der Wortlaut des § 32 I BVerfGG besagt, dass das BVerfG einen Zustand durch die einstweilige Anordnung vorläufig regeln kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist, wird die Dringlichkeit zumeist nicht gesondert geprüft, denn sie wird durch die Nachteile bereits indiziert.

I. Offensichtliche Unzulässigkeit oder Unbegründetheit der Hauptsache[Bearbeiten]

Zunächst ist zu prüfen, ob die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache offensichtlich unzulässig[22] oder unbegründet ist. Ist dies der Fall, ist der Antrag im einstweiligen Rechtsschutz unbegründet. Denn ein solcher Antrag erfüllt keine Sicherungsfunktion. Der Begriff der Offensichtlichkeit verlangt in Bezug auf eine Unzulässigkeit bzw. Unbegründetheit, dass kein Gesichtspunkt denkbar ist, bei der die Verfassungsbeschwerde erfolgversprechend wäre.[23]

Ist dagegen die Verfassungsbeschwerde offensichtlich zulässig und begründet, dann ist der Antrag im einstweiligen Rechtsschutz begründet.[24] Fehlt es an dieser Offensichtlichkeit, nimmt das BVerfG in einem nächsten Schritt eine Folgenabwägung vor.

Beispiel: Im Zuge der Covid-19-Pandemie beschloss der Bundestag 2021 eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), die unter dem Begriff „Bundesnotbremse“ besondere mediale Aufmerksamkeit erfuhr. Darin fanden sich unter anderem Regelungen zu nächtlichen Ausgangsbeschränkungen. Eilanträge gegen diese Regelungen lehnte das BVerfG ab. Es hielt die Verfassungsbeschwerden im Hauptsacheverfahren weder für offensichtlich unzulässig noch für offensichtlich unbegründet. Insbesondere erachtete es das BVerfG als offen, ob das Gesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt und die Verhältnismäßigkeit gewahrt wurde. Daher prüfte es im zweiten Schritt die Folgenabwägung.[25]

II. Folgenabwägung (Doppelhypothese)[Bearbeiten]

Ist der Ausgang des Verfahrens offen, so führt das BVerfG eine Folgenabwägung im Wege der Doppelhypothese durch. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind dabei nicht zu berücksichtigen, entscheidend sind die drohenden Nachteile. Verschiedene Nachteile sind miteinander abzuwägen: Auf der einen Seite stehen die Nachteile, die eintreten würden, würde die einstweilige Anordnung nicht erlassen, aber der Antrag in der Hauptsache Erfolg hätte. Auf der anderen Seite stehen die Nachteile, die entstehen würden, würde das BVerfG die begehrte Anordnung erlassen, aber das Hauptsacheverfahren würde letztlich erfolglos bleiben.[26] Relevant werden dabei die Nachteile nicht nur der Verfahrensbeteiligten, sondern aller Betroffenen.[27] Sind die Nachteile als gleich schwer zu qualifizieren, kann eine einstweilige Anordnung nicht ergehen.[28] Wie der Wortlaut des § 23 BVerfGG nahe legt, müssen die Nachteile, die drohen, als „schwerer Nachteil“, „drohende Gewalt“ oder „ein anderer wichtiger Grund“ qualifiziert werden können.[29]

Beispiel: In den einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen § 28b I 1 Nr. 2 des Infektionsschutzgesetzes ergab die Folgenabwägung, dass die Nachteile, die entstehen würden, wenn die einstweilige Anordnung versagt wird – weiterhin bestehende Beschränkungen der privaten Lebensgestaltung, die auch nicht im Nachinein kompensiert werden können – , die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, die Nachteile nicht überwiegen, die entstehen würden, wenn die Anordnung erlassen wird, die Verfassungsbeschwerde aber kein Erfolg hätte – Einschränkung der dem Gesetzgeber zur Verfügung stehenden Mittel zur Infektionsbekämpfung.[30]

Allgemein wendet das BVerfG einen strengen Maßstab an.[31] Wird die einstweilige Außer-Kraft-Setzung eines Gesetzes begehrt, ist der Maßstab noch strenger. So müssen die Nachteile deutlich überwiegen,[32] zudem müssen die Gründe ein besonderes Gewicht aufweisen.[33] Denn der Erlass einer einstweiligen Anordnung greift bedeutend in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ein.

Beispiel: Erfolglos blieb beispielsweise ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften vom 16.2.2001. Das BVerfG entschied, dass die Nachteile bei Erlass der einstweiligen Anordnung deutlich überwiegen würden. Denn es käme zu einem unwiderruflichen Rechtsverlust im Rahmen der privaten Lebensgestaltung bei den durch das Gesetz begünstigten Personen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit dem Gesetz Diskriminierungen abbauen und die Begünstigten bei einer Entfaltung ihrer Persönlichkeit unterstützen wollte, weshalb die Nachteile besonders schwer wiegen würden.[34]

III. Ausnahme von der Folgenabwägung: Summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache[Bearbeiten]

Von dieser Folgenabwägung sieht das BVerfG in Ausnahmefällen ab und prüft summarisch die Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Dies kann der Fall sein, wenn mit dem Erlass der einstweiligen Anordnung eine Vorwegnahme der Hauptsache vorliegen würde oder nur in diesem Falle ein effektiver Rechtsschutz gewährt werden kann.[35] Ist die Hauptsache, also im Klausursachverhalt zumeist die Verfassungsbeschwerde, im Rahmen der summarischen Prüfung als zulässig und begründet anzusehen, so ergibt dies einen schweren Nachteil beziehungsweise kann dies ein wichtiger Grund zum gemeinen Wohl darstellen, der den Erlass einer einstweiligen Anordnung begründet.

Beispiel: Die antragstellende Person meldete eine Versammlung (Protestcamp) beginnend am 1.9.2020 an. Gegen die daraufhin erlassenen Auflagen wendete sie sich zum Teil erfolglos im einstweiligen Rechtsschutz. Das BVerfG führte bei seiner Begründung im September 2020 aus, dass es bei seiner Entscheidung die erkennbaren Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren zu beachten hat, sobald ein Abwarten den Grundrechtsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte. Vorliegend würde ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens bzw. des verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens einen effektiven (also insbesondere rechtzeitigen) fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen die Auflagen mit hoher Wahrscheinlichkeit infolge Zeitablaufs vereiteln.[36]

C. Entscheidung des BVerfG[Bearbeiten]

Die Entscheidung des BVerfG kann bei erfolgreichen Anträgen angesichts der denkbaren Regelungsgegenstände und der notwendigen Vorgaben durch das BVerfG vielfältig ausgestaltet sein.

Beispiel: So kann der Tenor bestimmen, dass ein Gesetz bis zur Entscheidung des BVerfG, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen außer Kraft gesetzt wird.[37] Ebenso kann der Tenor Auflagen zur Durchführung einer Versammlung enthalten.[38].

Gemäß §32  VI 1 BVerfGG tritt die einstweilige Anordnung nach sechs Monaten außer Kraft. Oftmals werden die einstweiligen Anordnungen auch befristet bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Hauptsache. Gemäß § 32 VI 2 BVerfGG kann eine einstweilige Anordnung auch wiederholt werden.

D. Aufbauschema[Bearbeiten]

Einstweiliger Rechtsschutz

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit BVerfG, § 32 I BVerfGG

II. Statthaftigkeit

  • „Streitfall“ → Hauptsacheverfahren, welches anhängig oder zumindest möglich ist

III. Antragsberechtigung

  • richtet sich nach dem Hauptsacheverfahren: antragstellende Person im Hauptsacheverfahren beschwerdefähig?

IV. Antragsbefugnis, § 32 I BVerfGG

  • wenn es möglich erscheint, dass der antragstellenden Person oder der Allgemeinheit ein schwerer Nachteil droht

V. Keine Vorwegnahme der Hauptsache

  • unzulässig sind Anträge, die auf eine endgültige Sachentscheidung abzielen
  • Ausnahmen: Entscheidung in der Hauptsache käme möglicherweise zu spät und der antragstellenden Person kann kein ausreichender Rechtsschutz auf andere Weise gewährt werden oder ihr entstünde ein schwerer, nicht wiedergutzumachender Nachteil

VI. Subsidiarität des einstweiligen Rechtsschutzes

  • gefährdete Rechtsposition kann nicht auf einem anderen Weg gesichert werden

VII. Rechtschutzbedürfnis

  • indiziert, wenn die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen
  • fehlt insbesondere, wenn rechtzeitige Entscheidung des BVerfG im Hauptsacheverfahren zu erwarten ist, die beantragte Maßnahme nicht vollzogen werden kann oder der antragstellenden Person eigene Maßnahmen möglich sind, durch die sie ihr beantragtes Ziel erreichen kann beziehungsweise die beantragte Maßnahme nicht mehr geboten ist

VIII. Form und Frist

1. Form

  • Formerfordernis, § 23 I 1 BVerfGG: schriftlich
  • Begründungserfordernis, § 23 I 2 BVerfGG

2. Frist

  • keine Frist gesetzlich vorgesehen

B. Begründetheit

I. Offensichtliche Unzulässigkeit oder Unbegründetheit der Hauptsache (beziehungsweise offensichtliche Zulässigkeit und Begründetheit der Hauptsache)

  • Offensichtlichkeit: verlangt in Bezug auf eine Unzulässigkeit beziehungsweise Unbegründetheit, dass kein Gesichtspunkt ersichtlich ist, der die Verfassungsbeschwerde als Erfolg versprechend erscheinen lässt

II. Folgenabwägung (Doppelhypothese)

  • Abwägen:
    • 1. Nachteile, die eintreten würden, würde die einstweilige Anordnung nicht erlassen, aber der Antrag in der Hauptsache Erfolg hätte
    • 2. Nachteile, die entstehen würden, würde die begehrte Anordnung erlassen, aber das Hauptsacheverfahren letztlich erfolglos wäre
  • relevant sind Nachteile aller Betroffenen (nicht nur der Verfahrensbeteiligten)

III. Ausnahme von der Folgenabwägung: Summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache

  • Fallgruppen: Vorwegnahme der Hauptsache, effektiver Rechtsschutz kann nicht auf anderem Wege gewährleistet werden
  • summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache nach üblichem Schema

Weiterführende Studienliteratur[Bearbeiten]

  • Carsten Bäcker, Die einstweilige Anordnung im Verfassungsprozessrecht, JuS 2013, 119–124

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte[Bearbeiten]

  • Die Prüfungspunkte im Rahmen der Zulässigkeit der einstweiligen Anordnung sind Zuständigkeit, Statthaftigkeit, Antragsberechtigung, Antragsbefugnis, Keine Vorwegnahme der Hauptsache, Subsidiarität des einstweiligen Rechtsschutzes, Rechtsschutzbedürfnis und Form sowie Frist.
  • Im Rahmen der Begründetheit ist zunächst prüfen, ob die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist. Ist dies nicht der Fall findet eine Folgenabwägung (Doppelhypothese) statt. Dabei sind die Nachteile, die eintreten würden, würde die einstweilige Anordnung nicht erlassen, aber der Antrag in der Hauptsache Erfolg hätte, mit den Nachteilen abzuwägen, die entstehen würden, würde das BVerfG die begehrte Anordnung erlassen, aber das Hauptsacheverfahren letztlich erfolglos bleiben. Abweichend davon findet eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache statt, wenn mit dem Erlass der einstweiligen Anordnung eine Vorwegnahme der Hauptsache vorliegen würde oder nur in diesem Falle ein effektiver Rechtsschutz gewährt werden kann.

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Inhaltsverzeichnis des Buches[Bearbeiten]

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Abschnitt 1 - Allgemeine Grundrechtslehren

Abschnitt 2 - Aufbau der Prüfung eines Freiheitsgrundrechts

Abschnitt 3 - Grundrechtsschutz und Dritte

Abschnitt 4 - Verfahren, Konkurrenzen, Prüfungsschemata

Abschnitt 5 - Grundrechte im Mehrebenensystem

Abschnitt 6 - Einzelgrundrechte des Grundgesetzes

Fußnoten[Bearbeiten]

  1. Siehe BVerfG, Durchschnittliche Verfahrensdauer der Verfassungsbeschwerden der Jahre 2011–2020, Jahresstatistik 2020. Dabei kann das BVerfG bei der Reihenfolge der Bearbeitung der Verfassungsbeschwerden aufgrund seiner besonderen Rolle als Hüter der Verfassung verstärkt andere Kriterien als die chronologische Reihenfolge des Eingangs der Verfahren beachten. So kann es auch Verfassungsbeschwerden vorziehen, die für die Allgemeinheit eine besondere Bedeutung aufweisen, dazu BVerfG, Beschl. v. 20.8.2015, Az.: 1 BvR 2781/13, Rn. 31 m.w.N. = NJW 2015, 3361 (3363).
  2. BVerfG, Beschl. v. 24.7.2020, Az.: 2 BvR 1285/20, Rn. 3 m.w.N. = BeckRS 2020, 17534.
  3. Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 10. Ed 1.2021, § 32nbsp;BVerfGG Rn. 3 m.w.N.
  4. Bäcker, JuS 2013, 119 (120 m.w.N.).
  5. BVerfG, Urt. v. 4.5.1971, Az.: 1 BvR 96/71 = juris Rn. 9.
  6. BVerfG, Beschl. v. 22.3.2005, Az.: 1 BvR 2357/04, Rn. 43 m.w.N. = NJW 2005, 1179 (1180). Dies wird in der Literatur strittig gesehen, siehe dazu näher Graßhof, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 61. EL 7.2021, § 32 BVerfGG Rn. 28 ff.
  7. Siehe dazu m.w.N. Bäcker, JuS 2013, 119 (121).
  8. Bäcker, JuS 2013, 119 (121).
  9. Siehe auch Bäcker, JuS 2013, 119 (121).
  10. BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017, Az.: 2 BvR 859/15, Rn. 11 m.w.N. = NJW 2017, 3584 (3585).
  11. BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017, Az.: 2 BvR 859/15, Rn. 11 m.w.N. = NJW 2017, 3584 (3585).
  12. BVerfG, Beschl. v. 21.4.2020, Az.: 2 BvQ 21/20, Rn. 2 m.w.N. = BeckRS 2020, 6722.
  13. BVerfG, Beschl. v. 15.4.2020, Az.: 1 BvR 828/20, Rn. 8 f. m.w.N. = NJW 2020, 1426 (1426).
  14. Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 10. Ed 1.2021, § 32 BVerfGG Rn. 39 m.w.N.
  15. BVerfG, Beschl. v. 30.8.2020, Az.: 1 BvQ 94/2, Rn. 7 = NVwZ 2020, 1508 (1509).
  16. Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 10. Ed 1.2021, § 32 BVerfGG Rn. 40 m.w.N.
  17. BVerfG, Beschl. v. 22.4.2013, Az.: 1 BvR 640/13, Rn. 2 m.w.N. = BeckRS 2013, 50773; siehe zu diesem und den folgenden Beispielen auch Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 10. Ed 1.2021, § 32 BVerfGG Rn. 40 m.w.N.
  18. BVerfG, Beschl. v. 19.12.1967, Az.: 2 BvQ 2/67, Rn. 8 f. m.w.N. = BeckRS 1967, 104171.
  19. BVerfG, Urt. v. 10.12.1953, Az.: 2 BvQ 1/53, Rn. 20 = BeckRS 1953, 00240.
  20. BVerfG, Beschl. v. 30.10.2019, Az.: 2 BvR 980/16, Rn. 11 = EuZW 2019, 946 (947).
  21. Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 10. Ed 1.2021, § 32 BVerfGG Rn. 82.
  22. Die Literatur ist sich nicht einig, ob sich die Offensichtlichkeit auch auf die Zulässigkeit bezieht, zustimmend Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 10. Ed 1.2021, § 32 BVerfGG Rn. 46; ablehnend Bäcker, JuS 2013, 119 (122).
  23. Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 10. Ed 1.2021, § 32 BVerfGG Rn. 46.
  24. Siehe beispielsweise Graßhof, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 61. EL 7.2021, § 32 BVerfGG Rn. 99.
  25. BVerfG, Beschl. v. 5.5.2021, Az.: 1 BvR 781/21, Rn. 19, 22, 42 = NVwZ 2021, 789 (790).
  26. BVerfG, Urt. v. 13.10.2016, Az.: 2 BvR 1444/16, Rn. 35 m.w.N. = BeckRS 2016, 52943.
  27. BVerfG, Beschl. v. 7.4.2020, Az.: 1 BvR 755/20, Rn. 8 m.w.N. = BeckRS 2020, 5317.
  28. Aubel, in: Pieroth/Silberkuhl, Die Verfassungsbeschwerde, 2008, § 32 BVerfGG Rn. 41.
  29. Graßhof, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 61. EL 7.2021, § 32 BVerfGG Rn. 57 ff.
  30. BVerfG, Beschl. v. 5.5.2021, Az.: 1 BvR 781/21, Rn. 43 ff., 52 ff. = NVwZ 2021, 789 (791 ff.).
  31. BVerfG, Beschl. v. 4.5.2012, Az.: 1 BvR 367/12, Rn. 27 = NJW 2012, 1941 (1942).
  32. BVerfG, Beschl. v. 18.5.2016, Az.: 1 BvR 895/16, Rn. 47 = BeckRS 2016, 46065.
  33. BVerfG, Beschl. v. 22.5.2001, Az.: 2 BvQ 48/00, Rn. 16 = NJW 2001, 3253 (3253); siehe zuletzt BVerfG, Beschl. v. 24.1.2022, Az.: 1 BvR 2380/21.
  34. BVerfG, Urt. v. 18.7.2001, Az.: 1 BvQ 23/01, Rn. 29 ff. = NJW 2001, 2457 (2459).
  35. Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 10. Ed 1.2021, § 32 BVerfGG Rn. 58 ff. m.w.N.
  36. BVerfG, Beschl. v. 21.09.2020, Az.: 1 BvR 2146/20, Rn. 2, 4 = BeckRS 2020, 23470.
  37. BVerfG, Beschl. v. 22.5.2001, Az.: 2 BvQ 48/00 = BeckRS 2001, 30182154.
  38. BVerfG, Beschl. v. 18.8.2000, Az.: 1 BvQ 23/00 = BeckRS 2000, 22348