Vereinigungsfreiheit - Art. 9 GG

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Autor: Luca Knuth

Notwendiges Vorwissen: Allgemeine Grundrechtslehren, insbesondere die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen; Art. 2 I GG

Lernziel: Vereinigungsfreiheit als Teil der Kommunikationsgrundrechte verstehen

Art. 9 I GG schützt das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. Als allgemeines Grundrecht der Vereinigungsfreiheit ist es in doppelter Hinsicht bedeutsam: Für Individuen ist es Ausdruck einer freien Persönlichkeitsentfaltung, gesamtgesellschaftlich ist es als „Prinzip freier sozialer Gruppenbildung“ essenziell für ein demokratisch und rechtsstaatlich verfasstes Gemeinwesen.[1]

A. Schutzbereich[Bearbeiten]

I. Sachlicher Schutzbereich[Bearbeiten]

1. Vereinigung[Bearbeiten]

Was eine Vereinigung ist, definiert Art. 9 I GG nicht. Allgemein wird darunter jede Assoziation einer Mehrheit von natürlichen oder juristischen Personen ohne Rücksicht auf deren Rechtsform gefasst, die sich für eine gewisse zeitliche Dauerhaftigkeit auf freiwilliger Basis zur Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes zusammenschließt und einer organisierten Willensbildung unterwirft.[2]

Klausurtaktik

Die Definition des Vereinigungsbegriffs entspricht inhaltlich der einfachgesetzlichen Definition des Vereins in § 2 VereinsG.[3] Freilich kann das einfache Recht nicht den Inhalt verfassungsrechtlicher Normen bestimmen, weshalb § 2 I VereinsG in der Klausur nur als Erinnerungsstütze genutzt werden sollte.[4]

Zunächst muss eine Personenmehrheit vorliegen. Unerheblich ist, ob es natürliche oder juristische Personen sind; auch ein Zusammenschluss juristischer Personen ist eine Vereinigung.

Beispiel: Keine Vereinigung ist daher eine Stiftung: eine Stiftung ist vielmehr rechtlich verselbständigtes Vermögen und weist damit keine Personenmehrheit auf.[5]

Welchen gemeinsamen Zweck der Zusammenschluss verfolgt, ist durch Art. 9 I GG nicht vorgegeben. Schließlich ist entscheidend, ob der Zusammenschluss eine hinreichende organisatorische und zeitliche Stabilität aufweist. Dies setzt einerseits eine gewisse Dauerhaftigkeit und andererseits eine organisierte Willensbildung voraus. Die zeitliche Dauerhaftigkeit des Zusammenschlusses grenzt die Vereinigung von einer Versammlung i. S. d. Art. 8 GG ab.

Examenswissen: Die Regelung des Vereinsverbotes in Art. 9 II GG enthält entgegen der Formulierung „sind verboten“ keine Schutzbereichseinschränkung, wie es bei der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG der Fall ist. Art. 9 II GG ist vielmehr eine Regelung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung für den Eingriff in Form eines Vereinsverbotes. Dem Exekutivakt des Verbots kommt insofern konstitutive Bedeutung zu; es ist seinerseits an Art. 9 II GG zu messen. Damit fallen Vereinigungen unabhängig von ihrer konkreten Zwecksetzung auch dann grundsätzlich in den Schutzbereich des Art. 9 I GG, wenn sie die Tatbestände des Vereinigungsverbotes erfüllen.[6]

2. Individuelle Vereinigungsfreiheit[Bearbeiten]

Aus der Perspektive des Individuums meint dies in positiver Wendung die Freiheit eine Vereinigung zu gründen und bestehenden Vereinigungen beizutreten. Geschützt sind auch die vereinigungsspezifischen Handlungen des Individuums im Rahmen der Partizipation an den inneren und äußeren Vereinstätigkeiten.[7] In negativer Schutzrichtung gewährleistet Art. 9 I GG auch die Freiheit des Fernbleibens und die Möglichkeit des Austritts.[8] Keinen Schutz vermittelt die negative Vereinigungsfreiheit nach Auffassung des BVerfGs jedoch vor Pflichtmitgliedschaften in Körperschaften des öffentlichen Rechts.

Beispiel: Pflichtmitgliedschaften in den Industrie- und Handelskammern (vgl. § 2 IHKG); Pflichtmitgliedschaften in der sogenannten selbstverfassten Studierendenschaft


Examenswissen: Das BVerfG begründet die Ablehnung der Eröffnung des Schutzbereichs der Vereinigungsfreiheit neben einer historischen Auslegung auch mit einem Umkehrschluss aus der Begrenzung des Schutzbereichs auf den Schutz privater Vereinigungen: Weil Art. 9 I GG in positiver Hinsicht bereits auf Gründungen privatrechtlicher Vereinigungen beschränkt sei, könne umgekehrt von der negative Dimension des Grundrechts auch nur vor der ungewollten Mitgliedschaft in privatrechtlichen, nicht aber öffentlich-rechtlichen Vereinigungen geschützt sein (sog. Spiegelbildtheorie). Derartige Pflichtmitgliedschaften seien daher am Maßstab des Art. 2 I GG zu messen.[9]

Diese Rechtsprechung stößt in der Literatur auf verbreitete Kritik: Insbesondere könne der vom Bundesverfassungsgericht angeführte Umkehrschluss nicht überzeugen. Betroffen sei viel mehr die klassische abwehrrechtliche Funktion des Art. 9 I GG, weshalb dessen Schutzbereich eröffnet sei.[10]

3. Kollektive Vereinigungsfreiheit[Bearbeiten]

Beruft sich eine Vereinigung selbst auf Art. 9 I GG, ist vorrangig ihr Bestand geschützt. Der Schutz von Tätigkeiten der Vereinigungen selbst leitet sich aus diesem Bestandsschutz ab, ist also durch den Schutzbereich des Art. 9 I GG umfasst, wenn die Tätigkeit zur Entstehung und Aufrechterhaltung ihres Bestands dient und damit vereinigungsspezifisch ist. Umfasst sind nach der Rechtsprechung etwa der Schutz des Namens[11], der werbewirksamen Selbstdarstellung[12] und der autonomen Entscheidung über Mitgliederaufnahme und -ausschluss.[13]

II. Personeller Schutzbereich[Bearbeiten]

In personeller Hinsicht ist die Vereinigungsfreiheit ein „Doppelgrundrecht“: Es schützt sowohl Individuen als auch die Vereinigungen selbst. Die kollektivrechtliche Dimension entnimmt das BVerfG unmittelbar aus Art. 9 I GG und leitet sie nicht – wie im Regelfall – aus Art. 19 III GG her.[14] Dem Wortlaut nach ist Art. 9 I GG ein Bürger:innenrecht („alle Deutschen“). Somit stellt sich bei (EU-)ausländischen Individuen und Kollektiven die Frage nach ihrer Grundrechtsberechtigung.

Weiterführendes Wissen zur Grundrechtsberechtigung

Während bei EU-Ausländer:innen ein vergleichbarer Grundrechtsschutz aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts folgt, bleibt für Nicht-EU-Ausländer:innen nur der Rückgriff auf Art. 2 I GG. Allgemein zur Problematik des Grundrechtsberechtigung von EU-Ausländer*innen siehe bereits das Kapitel zur Grundrechtsberechtigung. [15]

B. Eingriff[Bearbeiten]

Der schwerwiegendste Eingriff in die Vereinigungsfreiheit ist das Vereinsverbot (Art. 9 II GG). Aber auch unterhalb dieser Schwelle kommen eine Vielzahl von Beeinträchtigungen in Betracht.

Beispiel Eingriffe: So kann zum Beispiel präventiv die Gründung von Vereinigungen durch Genehmigungsvorbehalte[16] beeinträchtigt, der Beitritt oder Verbleib in einem Verein verhindert oder die Mitgliedswerbung oder Außendarstellung eines Vereins untersagt werden.[17]

Darüber hinaus sind auch Eingriffe möglich, die nur mittelbar oder faktisch die Vereinigungsfreiheit beeinträchtigen.

Beispiel: nachrichtendienstliche Überwachung von Vereinsaktivitäten.[18]

Die Vereinigungsfreiheit bedarf der Ausgestaltung durch die Gesetzgebung.[19] Insofern ist das Grundrecht vergleichbar mit Art. 14 I GG und Art. 19 IV 1 GG.

Examenswissen: Für die Ausgestaltung gelten die folgenden Maßstäbe: Bloße Ausgestaltungen der privatrechtlichen Rechtsformen von Vereinigungen sind keine Eingriffe. So greift beispielsweise die Eintragungspflicht in das Vereins- oder Handelsregister nicht in die Vereinigungsfreiheit ein, sondern ermöglicht überhaupt erst die Nutzung der spezifischen Rechtsform zur Realisierung der Vereinigungsfreiheit.[20] Gleichwohl sind auch einfachgesetzliche Ausgestaltungen der Vereinigungsfreiheit nicht unbegrenzt möglich. Ausgestaltungen müssen sich an den speziellen Schutzgehalten von Art. 9 I GG orientieren und im Hinblick hierauf verhältnismäßig sein.[21]

Klausurtaktik

In der Klausurlösung sollten bloße Ausgestaltungen aus klausurtaktischen Gründen nur zurückhaltend angenommen werden, um nicht vorzeitig aus der Prüfung auszuscheiden. In jedem Falle ist aber eine Rechtfertigungsprüfung anhand der dargestellten Maßstäbe vorzunehmen.

C. Rechtfertigung[Bearbeiten]

Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit bedürfen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.

I. Einschränkbarkeit[Bearbeiten]

Für das Vereinigungsverbot sieht Art. 9 II GG eine spezifische Schrankenregelung vor. Das in Art. 9 II GG geregelte Verbot von Vereinigungen wird als „Ausdruck einer pluralistischen aber wehrhaften verfassungsstaatlichen Demokratie“ gelesen und als Instrument „präventiven Verfassungsschutzes“ charakterisiert.[22] Entgegen seinem Wortlaut („sind verboten“) führt Art. 9 II GG nicht verfassungsunmittelbar zum Eintritt der Verbotswirkung, sondern bedarf eines konstituierenden Verbotsaktes.[23]

Examenswissen: Das Verbot und sein Verfahren sind einfachgesetzlich in den §§ 3 ff. VereinsG ausgestaltet. Die Kompetenz für den Erlass von Verbotsverfügungen kommt bei bundesweit tätigen Vereinen der*m Bundesinnenminister*in und bei sonstigen Vereinen der*m jeweiligen Landesinnenminister*in zu, vgl. § 3 II VereinsG.[24]

Darüber hinaus enthält Art. 9 I GG zwar keinen ausdrücklichen Schrankenvorbehalt.Neben die verfassungsunmittelbare Schranke des Art. 9 II GG treten aber verfassungsimmanente Schranken. {{OpenRewi/Kritik|Bezugspunkt=Verfassungsimmanente Schranken|Inhalt=Dies folgt – im Einklang mit der allgemein Schrankendogmatik – aus der Systematik von Art. 9 I und II GG sowie dem Übermaßverbot: Wenn sogar der schwerwiegendste Eingriff in die Vereinigungsfreiheit – ein Vereinigungsverbot – ausdrücklich vorgesehen ist, müssen auch weniger intensiv in die Vereinigungsfreiheit eingreifende Maßnahmen möglich sein, wenn sie den Zweck gleich gut fördern. Wären Einschränkungen nicht möglich, hätten Vereingungen nach Art. 9 I GG außerdem mehr Freiheiten als natürliche Personen, was nicht intendiert sein kann.[25]

Beispiel: Nimmt man an, dass die Pflichtmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Körperschaften einen Eingriff in die negative Vereinigungsfreiheit darstellt, misst sich die verfassungsrechtliche Rechtfertigung daran, ob eine solche Pflichtmitgliedschaft Grundrechten Dritter oder sonstigen Rechtsgütern von Verfassungsrang dient und im Hinblick auf diesen Zweck verhältnismäßig ist. Ob in diesen Konstellationen ein kollidierendes Verfassungsgut in Betracht kommt, wird jedoch oftmals fraglich sein. Zu denken wäre insofern etwa an das Sozialstaatsprinzip.[26] Geht man hingegen mit der Rechtsprechung davon aus, dass Art. 9 I GG nicht berührt und damit die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) einschlägig ist, greift zugleich deren weite Schrankentrias. Hiernach muss die zur Mitgliedschaft verpflichtende Norm lediglich einem legitimen Zweck dienen und im Hinblick auf diesen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügen. Im Ergebnis fällt damit die Annahme einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Pflichtmitgliedschaft in aller Regel leichter.

II. Grenzen der Einschränkbarkeit[Bearbeiten]

Sowohl Vereinigungsverbote nach Art. 9 II GG als auch alle weiteren Einschränkungen der allgemeinen Vereinigungsfreiheit unterliegen ihrerseits Grenzen.

1. Vereinigungsverbot (Art. 9 II GG)[Bearbeiten]

Das Verbot einer Vereinigung ist durch Art. 9 II GG an das Vorliegen abschließender[27], also durch den einfachen Gesetzgeber nicht erweiterbare, Verbotsgründe geknüpft. Namentlich müssen Zwecke oder Tätigkeiten der Vereinigung den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten. Nur wenn zumindest einer dieser Verbotsgründe vorliegt, ist das Verbot einer Vereinigung verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Erfüllt eine Vereinigung zumindest einen dieser Verbotsgründe, ist der Erlass des Verbots nicht in das Ermessen der Exekutive gestellt. Auch das Vereinigungsverbot unterliegt dabei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, was sich insbesondere in einer restriktiven Auslegung der Verbotsgründe realisiert.[28]

Examenswissen: Ein Strafgesetz i. S. d. Art. 9 II GG kann nicht jede Norm des Strafrechts sein, sondern nur eine solche, die dergestalt allgemein ist, dass sie sich nicht spezifisch gegen Vereinigungen richtet. Diese Einschränkung ist erforderlich, weil die Gesetzgebung den Verbotstatbestand ansonsten ohne Weiteres einfachgesetzlich ausweiten und damit im Ergebnis die Vereinigungsfreiheit aushöhlen könnte.[29] Die Vereinigungen selbst können freilich keine Strafgesetze verletzen, weshalb es darauf ankommt, ob der Vereinigung Verstöße ihrer Organe, Mitglieder oder sonstiger Dritter zurechenbar sind. Kriterien für die Zurechnung sind zum einen die Nähe der handelnden Personen zu der Vereinigung. Entscheidend ist zum anderen, ob die handelnden Personen nach außen erkennbar für die Vereinigung auftreten und diese das Auftreten billigt oder sogar fördert. Eine zurechenbare Verletzung genügt aber noch nicht, wenn sie nur vereinzelt auftritt. Die zuzurechnende Verletzung muss vielmehr "prägend" für die Vereinigung sein, wie es das BVerfG aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und aus dem präventiven Charakter des Vereinigungsverbotes einschränkend herleitet.[30]

Die verfassungsmäßige Ordnung als zweites Schutzgut des Art. 9 II GG erfasst nur elementare Verfassungsgrundsätze. Dies sind die Menschenwürde (Art. 1 I GG), das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip.[31] Damit ist der Begriff, der gleichlautend auch in Art. 2 I 1 GG verwendet wird, anders als dort nicht als „Gesamtheit der Normen, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind“[32] zu verstehen, sondern so wie der Begriff der "freiheitlich demokratischen Grundordnung" in Art. 18 S. 1 GG und Art. 21 II 1 GG. Das Schutzgut des Gedankens der Völkerverständigung ist hingegen dann betroffen, wenn eine Vereinigung oder Dritte in einer der Vereinigung zurechenbaren Weise „in den internationalen Beziehungen Gewalt oder vergleichbar schwerwiegende völkerrechtswidrige Handlungen aktiv propagier(en) oder förder(n).“[33]

Der zweite und dritte Verbotsgrund liegen nur dann vor, wenn sich die Vereinigung gegen die genannten Schutzgüter richtet. Das „Sich-Richten“ erfordert eine nach außen tretende „kämpferisch-aggressive Haltung“ der Vereinigung. Einerseits ist damit die bloß ablehnende Haltung gegenüber den Schutzgütern nicht hinreichend, andererseits bedarf es im Gegensatz zum Parteiverbot (Art. 21 II GG) auch keiner tatsächlichen Gefährdungslage für die Schutzgüter.[34]

Weiterführendes Wissen Parteiverbote

Eine besondere Form von Vereinigungen sind die Parteien. Wegen ihrer herausragenden Bedeutung ist ein Parteiverbot an strengere Voraussetzungen geknüpft als das Vereinigungsverbot. Nach Art. 21 II GG kann ein Parteiverbot nur bei Vorliegen der dortigen, enger gefassten Verbotsgründe ergehen, also wenn die Partei nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger:innen darauf ausgerichtet ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Auch kompetenziell unterscheiden sich die Verbote: Vereine können durch die Exekutive (Bundes- bzw. Landesminister) verboten werden, wohingegen es bei Parteien einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedarf. Aus diesen Unterschieden folgt zugleich, dass Art. 21 II GG lex specialis gegenüber Art. 9 II GG ist. [35]


2. Sonstige Einschränkungen[Bearbeiten]

Sonstige Einschränkungen der Vereinigungsfreiheit unterliegen den allgemeinen Grenzen: Maßgebliche Bedeutung kommt dabei regelmäßig dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu.

D. Konkurrenzen[Bearbeiten]

Schwierigkeiten bereiten insbesondere bei der kollektiven Dimension von Art. 9 I GG die Konkurrenzverhältnisse zu anderen Grundrechten. Als „lex generalis“ der kollektiven Grundrechtsausübung"[36] tritt Art. 9 I GG regelmäßig hinter speziellen Normen kollektiven Grundrechtsschutzes zurück. Dies gilt hinsichtlich des Art. 9 III GG, der ein spezifisches Grundrecht der Koalitionen enthält, sowie hinsichtlich Art. 21 GG (Parteien) und Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 V WRV (Religionsgemeinschaften).

Dort, wo kollektive Handlungen jenseits der vereinigungsspezifischen Tätigkeiten betroffen sind, intendiert Art. 9 I GG jedoch keine Erweiterung des Grundrechtsschutzes gegenüber den natürlichen Personen.[37] Wird etwa im Rahmen von Ermittlungen die Post einer Vereinigung abgefangen, so bleibt es grundsätzlich bei der Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 10 GG.[38] Eine Besonderheit ergibt sich jedoch dort, wo Grundrechte kollektive Elemente beinhalten und in den vereinigungsspezifischen Gewährleistungsgehalt, beispielsweise durch ein Vereinsverbot, eingegriffen wird. Etwa bei Art. 5 I 1 GG und Art. 3 GG ist grundsätzlich Art. 9 I GG einschlägig, jedoch sind die speziellen Wertungen der Grundrechte in die Prüfung zu integrieren.[39]

E. Europäische und internationale Bezüge[Bearbeiten]

Parallelvorschriften zu Art. 9 I GG finden sich in Art. 11 EMRK und Art. 12 GRCh. In den beiden Normen ist neben einer allgemeinen Vereinigungsfreiheit auch die Koalitions- und die Versammlungsfreiheit gewährleistet.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte[Bearbeiten]

  • Die Vereinigungsfreiheit schützt als Doppelgrundrecht sowohl die Individuen als auch die Vereinigungen selbst.
  • Der Vereinigungsbegriff erfasst jede Assoziation einer Mehrheit von natürlichen oder juristischen Personen ohne Rücksicht auf deren Rechtsform, die sich für eine gewisse zeitliche Dauerhaftigkeit auf freiwilliger Basis zur Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes zusammenschließt und einer organisierten Willensbildung unterwirft.
  • Die Vereinigungsfreiheit ist ausgestaltungsbedürftig.
  • Art. 9 II GG enthält mit dem Vereinigungsverbot eine verfassungsunmittelbare Schranke; Daneben können Eingriffe durch Grundrechte Dritter und sonstige Verfassungsgüter gerechtfertigt sein
  • Die Vereinigungsfreiheit ist „lex generalis“ kollektiver Grundrechtsausübung.

Weiterführende Studienliteratur[Bearbeiten]

  • Baudewin, Das Vereinsverbot, NVwZ 2013, S. 1049-1054
  • Kluth, Die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 GG, Jura 2019, S. 719-726

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Inhaltsverzeichnis des Buches[Bearbeiten]

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Abschnitt 1 - Allgemeine Grundrechtslehren

Abschnitt 2 - Aufbau der Prüfung eines Freiheitsgrundrechts

Abschnitt 3 - Grundrechtsschutz und Dritte

Abschnitt 4 - Verfahren, Konkurrenzen, Prüfungsschemata

Abschnitt 5 - Grundrechte im Mehrebenensystem

Abschnitt 6 - Einzelgrundrechte des Grundgesetzes

Fußnoten[Bearbeiten]

  1. BVerfG Urt. v. 1.3.1979, Az.: 1 BvR 532/77 u.a., Rn. 176 = BVerfGE 50, 290 (320) – Mitbestimmung
  2. Scholz, in: Dürig/Herzog, GG, 95. EL Juli 2021, Art. 9 Rn. 57 m.w.N.
  3. Kingreen/Poscher, Grundrechte, 34. Aufl. 2018, Rn. 841.
  4. Vgl. von Coelln, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln (Hg.), Studienkommentar GG, 4. Aufl. 2020, Art. 9 Rn. 7 f.
  5. BVerwGE 106, 177 (181) – Franz-Schönhuber-Stiftung.
  6. So nunmehr ausdrücklich BVerfG Beschl. v. 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474/12, Rn. 100 = BVerfGE 149, 160 (193); Das BVerfG hat damit die in der Literatur bereits herrschende Auffassung bestätigt, vgl. statt vieler Höfling, in Sachs (Hrsg), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 9 Rn. 40 f. mwN; abl. Epping, Grundrecht, 8. Aufl. 2019, Rn. 873.
  7. BVerfG Beschl. v. 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474/12, Rn. 97 = BVerfGE 149, 160 (192).
  8. BVerfG Urt. v. 1.3.1979, Az.: 1 BvR 532/77 u.a., Rn. 177 = BVerfGE 50, 290 (354) – Mitbestimmung; BVerfG Urt. v. 10.6.2009, Az.: 1 BvR 706/08, Rn. 158 = BVerfGE 123, 186 (237).
  9. BVerfG Beschl. v. 12.7.2017, Az.: 1 BvR 2222/12, Rn. 79 = BVerfGE 146, 164 (193 ff.) – Pflichtmitgliedschaft IHK.
  10. statt vieler und mwN zum Meinungsstand Bauer, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz-Kommentar 3. Auflage 2013, Art. 9 Rn. 48; ausf. zu der Problematik auch Hatje/Terhechte, NJW 2002, 1849 (1850).
  11. BVerfG Beschl. v. 24.2.1971, Az.: 1 BvR 438, 456 u.a., Rn. 50 = BVerfGE 30, 227 (241 f.) – Vereinsname.
  12. BVerfG 9.10.1991, Az.: 1 BvR 397/87, Rn. 16 = BVerfGE 84, 372 (377 f.) – Lohnsteuerhilfeverein.
  13. BVerfG Beschl. v. 10.06.2009, Az.: 1 BvR 825/08, Rn. 42 = BVerfGE 124, 25 (34).
  14. st. Rspr. vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.2.1971, Az.: 1 BvR 438/68 u.a., Rn. 49 = BVerfGE 30, 227 (241) – Vereinsname; BVerfG Urt. v. 1.3.1979, Az.: 1 BvR 532/77 u.a., Rn. 177 = BVerfGE 50, 290 (353 f.) – Mitbestimmungsgesetz; BVerfG Beschl. v. 9.10.1991, Az.: 1 BvR 397/87, Rn. 16 = BVerfGE 84, 372 (378) – Lohnsteuerhilfeverein; BVerfG Urt. v. 10.6.2009, Az.: 1 BvR 706/08 u.a., Rn. 158 = 123, 186 (237); BVerfG Beschl. v. 10.6.2009, Az.: 1 BvR 825/08 u.a., Rn. 37 = BVerfGE 124, 25 (34); demgegenüber für eine Herleitung der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen über Art. 19 Abs. 3 GG Höfling, in Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 9. Aufl. 2021, Art. 9 Rn. 26 f.
  15. Ausf. hierzu auch Bauer, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 15 ff.
  16. BVerfG (K) NVwZ 2003, 556
  17. BVerfG 9.10.1991, Az.: 1 BvR 397/87, Rn. 16 = BVerfGE 84, 372 (377 f.) – Lohnsteuerhilfeverein.
  18. hierzu Höfling, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 9 Rn. 36 m. w. N.
  19. BVerfG Urt. v. 1.3.1979, Az.: 1 BvR 532/77 u.a., Rn. 160 f. = BVerfGE 50, 290 (354 f.) – Mitbestimmung.
  20. Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 9. Aufl. 2021, Art. 9 Rn. 38 m. w. N.
  21. vgl. BVerfG 9.10.1991, Az.: 1 BvR 397/87, Rn. 17 = BVerfGE 84, 372 (378 f.) - Lohnsteuerhilfeverein; Zur Prüfung einer als Ausgestaltung qualifizierten Regelung anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit: BVerfG (K) NJW 2001, 2617 (2617 ff.).
  22. BVerfG Beschl. v. 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474 u.a., Rn. 101 = BVerfGE 149, 160 (194).
  23. BVerfG Beschl. v. 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474 u.a., Rn. 100 = BVerfGE 149, 160 (194)
  24. Ausführlich hierzu und mit Darstellung bisherig ergangener Verbotsverfügungen: Baudewin, NVwZ 2013, 1049.
  25. statt vieler Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 59.
  26. So hat das BVerfG etwa in einer Kammerentscheidung die Pflichtmitgliedschaft in einem genossenschaftlichen Prüfungsverband bei hypothetischer Annahme einer Betroffenheit in Art. 9 III GG als durch das Sozialstaatsgebot gerechtfertigt angesehen, BVerfG (K) NJW 2001, 2617 (2618).
  27. BVerfG Beschl. v. 15.6.1989, Az.: 2 BvL 4/87, Rn. 36 = BVerfGE 80, 244 (254) – Vereinsverbot.
  28. BVerfG Beschl. vom 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474/12 u. a., Rn. 102 f. = BVerfGE 149, 160 (194 f.).
  29. BVerfG Beschl. v. 13.07.2018, Az.: 1 BvR 1474 u.a., Rn. 105 = BVerfGE 149, 160 (196).
  30. BVerfG Beschl. v. 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474 u.a., Rn. 106 = BVerfGE 149, 160 (196); BVerfG Beschl. v. 02.08.2019, Az.: 1 BvR 1099/16, Rn. 23.
  31. BVerfG Beschl. v. 13.07.2018, Az.: 1 BvR 1474 u.a., Rn. 107 = BVerfGE 149, 160 (197).
  32. BVerfGE 16.1.1957, Az.: 1 BvR 253/56, Rn. 26 ff. = BVerfGE 6, 32 (37 ff.).
  33. BVerfG Beschl. v. 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474 u.a., Rn. 112 = BVerfGE 149, 160 (200).
  34. BVerfG Beschl. v. 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474 u.a., Rn. 109 f. = BVerfGE 149, 160 (198 f.).
  35. Hierzu knapp Baudewin, NVwZ 2013, 1049 (1051); Umfassend zum Parteiverbot und m.w.N. Shirvani, JZ 2014, S. 1074.
  36. Schiffbauer, JZ 2019, 130 (131).
  37. BVerfGE 54, 237 (251); BVerfG Beschl. v. 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474/12 u.a.,Rn. 98 = BVerfGE 149, 160 (192).
  38. BVerfG Beschl. v. 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474/12 u.a.,Rn. 88 = BVerfGE 149, 160 (189)
  39. BVerfG Beschl. v. 13.7.2018, Az.: 1 BvR 1474/12 u.a.,Rn. 94 = BVerfGE 149, 160 (191); ausführlich zu den Konkurrenzen auch Schiffbauer, JZ 2019, 130 (132).