Organstreit
Autor:innen: Johannes Siegel
Notwendiges Vorwissen: Verfassungsgerichtsbarkeit
Lernziel: Organstreitverfahren lernen und prüfen können.
Das Organstreitverfahren ist kontradiktorisch konzipiert und somit kein objektives Beanstandungsverfahren. Das bedeutet, dass es beim Organstreitverfahren im Unterschied zur abstrakten Normenkontrolle stets zwei sich gegenüberstehende Verfahrensparteien gibt, die über die Auslegung und Anwendung der Verfassung streiten.[1] Die Prüfung beschränkt sich dabei lediglich auf konkrete Rechtsverletzungen zwischen den Organen und ausdrücklich nicht auf eine allgemeine Verfassungsaufsicht.[2] Das BVerfG trifft im Organstreitverfahren lediglich Feststellungsentscheidungen, d.h. dass die Entscheidungen gerade keine rechtsgestaltende Wirkung entfalten. Im Ergebnis erfolgt eine Bindungswirkung der Feststellungsentscheidungen durch das Wiederholungsverbot der beanstandeten Handlungen.[3] Das Organstreitverfahren ist für den Minderheitenschutz im Bundestag von besonderer Bedeutung. Minderheit ist dabei numerisch zu verstehen, also zahlenmäßig kleinere Gruppen im Bundestag, was regelmäßig die Opposition darstellt. Im Wege der Prozessstandschaft kann es so dazu kommen, dass eine Minderheit die Rechte des Bundestages gegen die Mehrheit geltend macht. Auf diese Art trägt das Organstreitverfahren im Wege der Gewaltenteilung zur gegenseitigen Kontrolle der Verfassungsorgane bei. Die relevanten Normen sind Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 und §§ 64 ff. BVerfGG.
A. Die wichtigsten Streitstände
[Bearbeiten]Beim Organstreitverfahren gibt es mehrere klassische Streitstände, von denen die:der einzelne Abgeordnente als Standardfall gilt und zwingend beherrscht werden muss.
Wenn ein:e einzelne:r Abgeordnete:r ein Organstreitverfahren betreiben möchte, stellt sich beim Prüfungspunkt Antragssteller:in die Frage, wie ein:e einzelne:r Abgeordnete:r unter § 63 BVerfGG und Art. 93 I Nr. 1 GG subsumiert werden kann. Der Wortlaut der beiden Normen ist unterschiedlich, wobei § 63 BVerfGG enger ist, da hier neben den ausdrücklich genannten Antragssteller:innen lediglich auf mit eigenen Rechten ausgestattete Teile des Bundestages und Bundesrates verwiesen wird. Nach Art. 93 I Nr. 1 GG genügen für andere Beteiligte, dass sie durch das Grundgesetz oder durch die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorganes mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Auf diesen unterschiedlichen Wortlaut ist in der Klausur einzugehen. Die Konstellation ist dabei anders, als die bezüglich § 76 I BVerfGG und Art. 93 I Nr. 2 GG bei der abstrakten Normenkontrolle, denn vorliegend geht es nicht um eine höhere Intensität (von Zweifel zu für nichtig halten), sondern um eine gänzlich andere Ausgestaltung der Normen.
Einzelne Abgeordnete haben eigene Rechte, wie beispielweise ihre Statusrechte aus Art. 38 I 2 GG sowie Rederechte, die sich aus der Geschäftsordnung des Bundestages ergeben, daher können sie als andere Beteiligte unter Art. 93 I Nr. 1 GG gefasst werden. Teile eines Organs im Sinne von § 63 BVerfGG müssen ständige und dauerhafte Untergliederungen des Organs darstellen, Abgeordnete fallen somit nicht unter § 63 BVerfGG. In diesem Fall ist Art. 93 I Nr. 1 GG zu folgen, da die Verfassung höherrangig ist und es sich bei § 63 BVerfGG nicht um eine Konkretisierung der Anforderungen handelt.
Bei der Antragsbefugnis stellt sich ein weiteres Problem für einzelne Abgeordnete. Denn diese können als andere Beteiligte lediglich eigene Rechte, wie Rederechte aus Art. 38 I 2 GG, geltend machen und nicht im Wege der Prozessstandschaft auch Rechte des Bundestages. Daher ist an dieser Stelle abzugrenzen auf was sich die:der Abgeordnete beruft.
So führt diese klassische Klausurkonstellation weniger zu Theoriesstreits, die ausführlich diskutiert werden müssen, sondern zu Prüfungspunkten, die leicht zu übersehen sind, bei denen besonders auf die einzelnen Abgeordneten einzugehen ist.
B. Prüfungsschema der Zulässigkeit
[Bearbeiten]Formulierungsbeispiel Obersatz
„Der Antrag müsste zulässig sein.“
Für die Zulässigkeitsprüfung muss neben dem GG auch das BVerfGG genutzt werden.
I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts
[Bearbeiten]Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für das Organstreitverfahren ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 1 GG und § 13 Nr. 5 BVerfGG. An dieser Stelle muss man sich bereits darüber klar sein, welches Verfahren einschlägig ist. Dabei sind alle Verfahren nach dem sog. Enumerativsystem geregelt (Enumeration = Aufzählung). Die Zuständigkeit des BVerfG ergibt sich nur, wenn die Streitigkeit in § 13 BVerfGG aufgelistet ist und nicht schon dann, wenn die Streitigkeit Verfassungsrecht betrifft.
Formulierungsbeispiel Obersatz
„Das Bundesverfassungsgericht ist nach Art. 93 I Nr. 1 GG und § 13 Nr. 5 BVerfGG für das Organstreitverfahren zuständig.“
Bei der Zuständigkeitsprüfung wird es regelmäßig keine Probleme geben. Bitte kurz fassen.
II. Antragssteller:in und Antragsgegner:in
[Bearbeiten]Da das Organstreitverfahren ein Verfahren zur Aufklärung von Streiten zwischen Verfassungsorganen ist, ist die klare Benennung von diesen wichtig für den Verlauf der Prüfung. Es kann bei der Frage der beteiligten Organe bereits zu ersten Problemen in der Prüfung kommen.
Eine weitere geläufige Bezeichnung lautet Parteifähigkeit. Diese knüpft an den Umstand an, dass man Partei eines Rechtsstreits wird und ist nicht mit politischen Parteien zu verwechseln.
Wer Antragsteller:in eines Organstreitverfahrens sein kann, ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 1 GG und § 63 BVerfGG. Demnach sind ausweislich § 63 BVerfGG folgende Verfassungsorgane unproblematisch antragsberechtigt: der Bundespräsident; der Bundestag; der Bundesrat; die Bundesregierung.
Sofern in der Klausur eines der in § 63 BVerfGG ausdrücklich genannten Verfassungsorgane einschlägig ist, kann man sich in der Bearbeitung kurz fassen und lediglich auf die Norm verweisen.
Formulierungsbeispiel Antragssteller
„Gemäß Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 BVerfGG kann Antragsteller:in eines Organstreitverfahrens insbesondere die Bundesregierung sein. Vorliegend handelt ebendiese. Die Bundesregierung ist somit taugliche Antragstellerin.“
Für die weiteren möglichen Antragsteller:innen fällt auf, dass sich der Wortlaut von Art. 93 I Nr. 1 GG und § 63 BVerfGG unterscheidet. Während Art. 93 I Nr. 1 GG allgemein von obersten Bundesorganen spricht und auch andere Beteiligte zulässt, die durch das Grundgesetz oder durch die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorganes mit eigenen Rechten ausgestattet sind, erwähnt § 63 BVerfGG neben den ausdrücklich benannten Antragsteller:innen mit eigenen Rechten ausgestattete Teile dieser Organe. Dabei beizieht es sich lediglich auf solche Teile des Bundestages oder Bundesrates, die durch deren Geschäftsordnungen mit eigenen Rechten ausgestattet wurden. Das führt dazu, dass die Regelung in § 63 BVerfGG enger ist, als jene aus Art. 93 I Nr. 1 GG.
Im dem Fall, dass eine Antrag:steller:in unter Art. 93 I Nr. 1 GG, aber nicht unter § 63 BVerfGG subsumierbar ist muss in der Klausur dieser Normenkonflikt kurz dargestellt und aufgelöst werden.
Im Sinne der Normenhierarchie, wonach das Grundgesetz als Verfassung über dem BVerfGG als einfaches Bundesgesetz steht, kann § 63 BVerfGG die Regelung aus Art. 93 I Nr. 1 GG nicht einschränken.[4] Das BVerfG hält es daher für unerheblich, wenn ein oberstes Bundesorgan in § 63 BVerfGG nicht aufgeführt wird.[5] Demnach ist Art. 93 I Nr. 1 GG methodisch im Wege einer verfassungskonformen Auslegung stets hinzuzuziehen, sofern eine Subsumtion unter § 63 BVerfGG problematisch erscheint.
Darüber hinaus gibt es bezüglich verschiedener Antragsteller:innen Streite darüber, ob diese als Teil eines Organs oder als anderer Beteiligter Antragsteller:in eines Organstreits sein können.[6] Die Einteilung spielt insbesondere im Zusammenhang mit der Prozessstandschaft nach § 64 I BVerfGG eine Rolle.
Es kann deshalb in Frage gestellt werden, ob es bei der Geltendmachung eigener Rechte im Ergebnis einen Unterschied macht, ob sich die Antragsbefugnis aus Art. 93 I Nr. 1 GG oder § 63 BVerfGG ergibt.
Das BVerfG grenzt nicht immer scharf ab, sondern erkennt beispielsweise für Bundesminister:innen, dass diese Teile des obersten Verfassungsorgans Bundesregierung seien (vgl. Art. 62 GG) und durch die Geschäftsordnung der Bundesregierung mit eigenen Rechten ausgestattet seien, weshalb sie daher als andere Beteiligte nach Art. 93 I Nr. 1 GG im Organstreit parteifähig seien.[7] Um Teil eines Organs zu sein muss dabei eine ständige und dauerhafte Untergliederungen des Organs bestehen.[8] Das BVerfG stellte dazu fest, dass dafür die Vorausstzung sei, dass eine ständige Gliederung in der Geschäftsordnung bestehe.[9] Als Teil des Organs Bundestag wird das für die Fraktion anerkannt, weshalb sie eine taugliche Antragsstellerin als Teil ist. In § 10 GOBT werden ihre Voraussetzungen und eigenen Rechte benannt.[10] Durch die Antragsberechtigung der Fraktion erhält die Opposition im Bundestag die Möglichkeit dem Minderheitenschutz Geltung zu verschaffen, weshalb das ein wichtiger Anwendungsfall in der Praxis ist.[11] Dagegen sind als anderer Beteiligter im Sinne von Art. 93 I Nr. 1 GG die Präsident:in des Bundestages[12] und einzelne Abgeordnete anerkannt.[13]
Beispiel: Der klassische Streit zwischen der Bundestagspräsident:in und einzelnen Abgeordneten handelt regelmäßig von Ordnungsrufen im Bundestag, dem Entzug des Rederechts oder der Auflösung des Bundestages.
Politische Parteien können ebenfalls als andere Beteiligte Antragssteller:innen eines Organstreits sein. Jedoch ist ein Organstreitverfahren lediglich statthaft, wenn die Partei Rechte aus ihrer verfassungsrechtlichen Stellung nach Art. 21 I GG geltend macht.
Bei der politischen Partei muss deshalb bereits an dieser Stelle im Gutachten kurz auf den Streitgegenstand eingegangen werden, um das statthafte Verfahren in Abgrenzung zur Verfassungsbeschwerde zu bestimmen. Das Organstreitverfahren ist nur einschlägig, wenn der Streit von der verfassungsrechtlichen Stellung der Partei nach Art. 21 I GG handelt. Das ist regelmäßig bei Streitigkeiten rund um Wahlrechtsnormen, staatliche Parteienfinanzierung und Öffentlichkeitsarbeit (sofern ein statthafter Antragsgegner vorliegt) der Fall.[14]
Als oberste Bundesorgane nach Art. 93 I Nr. 1 GG sind auch die Bundesversammlung (Art. 54 GG)[1] und der Gemeinsame Ausschuss (Art. 53a GG) allgemein anerkannt, wenngleich sie in der Klausurprüfung seltener einschlägig sind.
Weitere Antragssteller:innen: ständige Ausschüsse des Bundestages; Gruppen gem. § 10 IV GOBT; qualifizierte Minderheiten gem. Art. 44 I GG im Zusammenhang mit Untersuchungsausschüssen.
Kein tauglicher Antragsteller ist das BVerfG selbst. Zwar ist es ein oberstes Verfassungsorgan, jedoch würde es der rechtsstaatlichen Systematik widersprechen, wenn es über sich selbst entscheiden müsste.[15] Ebenso stellen Bundesländer als Teil des Bundesrats keine tauglichen Antragssteller. Für Streitigkeiten stellt hier der Bund-Länder-Streit als lex specialis gem. Art. 93 I Nr. 4 GG das Verfahren bereit.
Die Prüfung der Verfahrensparteien erfolgt getrennt. Die Anforderungen für die Antragsteller:in gelten ebenso über die Antragsgegner:in.
III. Antragsgegenstand, Art. 93 I Nr. 1 GG, § 64 I BVerfGG
[Bearbeiten]Gegenstand eines Organstreitverfahrens muss gem. § 64 I BVerfGG eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners sein. Für die Maßnahme oder das Unterlassen bestehen gewisse Anforderungen, sodass nicht jede Maßnahme oder jedes Unterlassen taugliches Antragsgegenstand ist. Zum einen muss die Maßnahme oder das Unterlassen die verfassungsrechtlichen Rechte der Antragssteller:in verletzen oder unmittelbar gefährden und zum anderen muss sie rechtserheblich sein.[16]
Beispiel zum Unterlassen als Antragsgegenstand: Das BVerfG hielt das Unterlassen der Regierung den Bundestag vor einer Tagung über ihre Verhandlungslinie bei der Tagung zu informieren als tauglichen Antragsgegenstand[17].
Ein Unterlassen kann lediglich dann rechtserheblich sein, wenn zuvor eine Pflicht zum Handeln bestand.
Urteile | Konstellation/Antragsparteien |
---|---|
Wanka - Entscheidung (2018) und Seehofer - Entscheidung (2020) sowie Spinner - Entscheidung (2014) | Äußerungen von Bundesminister:innen über andere Parteien (Partei gegen Bundesminister:in)[18] Äußerungen der Bundespräsident:in über politische Parteien (Partei gegen Bundespräsident:in)[19] |
Luftraumüberwachung Türkei (2008) und Evakuierung aus Libyen (2015) | Unterlassung der Beteiligung des Bundestages bei Bundeswehreinsätzen (Fraktion in Prozessstandschaft für Bundestag gegen Bundesregierung)[20] |
Bundestagsauflösung III (2005) | Auflösung des Bundestages (einzelne Abgeordnete gegen Bundespräsident:in)[21] |
Oppositionsrechte (2016) | Unterlassung von Maßnahmen zur Sicherung der parlamentarischen Minderheitenrechte im Bundestag (Fraktion gegen Bundestag)[22] |
Beliebte Klausurkonstellation ohne zugrundliegendem Urteil zur Prüfung der Prüfungsrechte der Bundespräsident:in. | Unterlassung der Ausfertigung eines Gesetzes (Beispielsweise Bundestag gegen Bundespräsident:in) |
Kein tauglicher Antragsgegenstand sind abstrakte Handlungen anderer Organe losgelöst von den eigenen Rechten der Antragsteller:in. Als kontradiktorisches Verfahren muss es stets um einen Streit zwischen zwei Verfahrensparteien gehen.
Beispiel zu untauglichen Antragsgegenständen: Die abstrakte Prüfung der Migrationspolitik der Bundesregierung.[23]
Formulierungsbeispiel Obersatz
„Antragsegenstand kann gem. Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 64 BVerfGG nur eine rechterhebliche Maßnahme oder ein Unterlassen sein. Eine rechtserhebliche Maßnahme ist...“
IV. Antragsbefugnis, § 64 I BVerfGG
[Bearbeiten]Gemäß § 64 I BVerfGG muss eine Verletzung von Rechten geltend gemacht werden. Dabei muss lediglich die Möglichkeit einer Verletzung der unmittelbare Gefährdung vorliegen, sodass diese nicht evident ausgeschlossen werden kann.[24] Rechte sind im Sinne des Organstreits vor allem als Kompetenzen, Antragsrechte und Statusrechte zu verstehen.[25] Dabei ist zu unterscheiden, ob eigene Rechte oder in Prozessstandschaft fremde Rechte geltend gemacht werden.
Zur Möglichkeit der Rechtsverletzung muss in der Klausur auch sauber subsumiert, sodass kurz (!) dargelegt werden muss, dass aus dem Sachverhalt eine Rechtsverletzung nicht ausgeschlossen werden kann.
1. Eigene Rechte
[Bearbeiten]Der Fall, in dem die Antragsteller:in ihre eigenen Rechte geltend macht, ist dabei unproblematisch und kann in der Klausur kurz mit Verweis auf das Recht geprüft werden.
Beispiel zur Geltendmachung eigener Rechte: Abgeordnete des Bundestages können Verletzungen ihrer Rederechte aus Art. 38 I 2 GG geltend machen, wenn sie beispielsweise der Auffassung sind, dass ihnen zu Unrecht das Wort entzogen wurde.[26]
Die geltend gemachten Rechte müssen konkret benannt werden. Weiter müssen sie sich aus der Verfassung ergeben. Das heißt, wenn ein Recht, das nicht in der Verfassung steht, von der Antragsteller:in geltend gemacht wird, dann muss dieses zwingend aus der Verfassung abgeleitet werden. Beispielweise Rechte, die in Geschäftsordnungen stehen, jedoch Ausfluss von Verfassungsrecht sind.
2. Fremde Rechte
[Bearbeiten]Darüber hinaus können jedoch auch im Wege der Prozessstandschaft gem. § 64 I BVerfGG fremde Rechte geltend gemacht werden, d.h. dass ein Teil eines Organs die Rechte des Organs als Ganzes geltend machen kann. Das ist als Kontrollmechanismus im Sinne der Gewaltenteilung wichtig, da so die Rechte eines Verfassungsorgans auch gegen die Mehrheit geschützt werden können. Eine solche Prozessstandschaft erfolgt über die Fraktionen für den Bundestag. Einzelne Abgeordnete können dagegen nicht die Rechte des Bundestages in Prozessstandschaft geltend machen. Sie gelten nicht als Teil des Bundestags im Sinne von § 63 BVerfGG. Die Norm ist eng auszulegen und erfasst lediglich ständig vorhandene Gliederungen des Bundestages.[27]
Die Ablehnung der Prozessstandschaft zu Gunsten der einzelnen Abgeordneten durch das BVerfG ist nicht unumstritten,[28] da das BVerfG ausdrücklich erklärt, dass Abgeordnete Teil des Bundestages seien und der Wortlaut von § 63 BVerfGG auch nur von einem Teil spreche[29]. Neben der Fraktion im Bundestag ist eine Prozessstandschaft auch im Zusammenhang mit Untersuchungsausschüssen für eine Minderheit im Sinne von Art. 44 I 1 GG möglich.[30]
Beispiel zur Geltendmachung fremder Rechte: Fraktionen machen in Prozessstandschaft für den Bundestag dessen Beteiligungsrechte zu Einsätzen der Bundeswehr gegen die Bundesregierung geltend.[31]
Formulierungsbeispiel Obersatz
„Indem die Bundespräsident:in XY machte, kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass das Recht der Bundestagesregierung aus XY verletzt wurde, womit gem. Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 64 BVerfGG eine ausreichende Beschwerdebefugnis vorliegt. oder Eine Verletzung der Rechte des Bundestages müsste gem. Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 64 BVerfGG zumindest möglich erscheinen. Vorliegend entschied die Bundesregierung ohne Konsultation des Bundestages... Dabei kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass Rechte des Bundestages verletzt wurden.“
V. Form und Frist, §§ 23 I, 64 III BVerfGG
[Bearbeiten]Für das Organstreitverfahren besteht eine Frist von sechs Monaten, ab Bekanntwerden des beanstandeten Verhaltens, § 64 III BVerfGG. Darüber hinaus gilt die Form nach § 23 I BVerfGG, wonach Anträge schriftlich und begründet eingehen müssen.
Formulierungsbeispiel Obersatz
„Der Antrag muss innerhalb der Sechsmonatsfrist gem. § 64 III BVerfG und unter Einhaltung der Schriftform gem. § 23 I BVerfGG erfolgen.“
Wenn ein Antrag per Fax eingereicht wird, gilt die Form als gewahrt. Wenn der Sachverhalt keinerlei Angaben zur Frist macht, kann davon ausgegangen werden, dass diese eingehalten wurde. (Kritik am Sachverhalt, wie dass er zu dünn sei oder lückenhaft sind im Gutachten nicht zielführend)
Ein Antrag ist nicht formwidrig, wenn es im Sachverhalt heißt, dass das "Bundesverfassungsgericht angerufen wurde". Damit ist nicht gemeint, dass die Bundesregierung/die Landesregierung/die MdB das BVerfG mit dem Telefon angerufen hat, sondern dass sich mit der Fallfrage an das BVerfG gewandt wurde.
Bei der Frist aus § 64 III BVerfGG handelt es sich um eine Ausschlussfrist, weshalb eine Wiedereinsetzung ausgeschlossen ist.[32].
VI. Rechtsschutzbedürfnis
[Bearbeiten]Das Rechtsschutzbedürfnis stellt in der Klausur regelmäßig kein Problem dar, da es durch die Möglichkeit der Rechtsverletzung bereits indiziert wird.[33]
Examenswissen: Sofern sich das beanstandete Verhalten zeitlich überholt hat, der Sachverhalt sich also erledigt hat oder das unterlassene Verhalten nachgeholt wurde, kann es zu Problemen beim Rechtsschutzbedürfnis kommen. Das BVerfG stellte dazu fest, dass der Umstand, dass die beanstandende Rechtsverletzung in der Vergangenheit liege und bereits abgeschlossen sei grundsätzlich nicht zu einem entfallen des Rechtsschutzbedürfenisses führe.[34] Dennoch kann in diesen Fällen ein fortwirkendes Bedürfnis an einer Entscheidung notwendig sein, was bei Wiederholungsgefahr angenommen wird.[35]
VII. Ergebnis
[Bearbeiten]Formulierungsbeispiel Obersatz
„Das Organstreitverfahren ist mithin zulässig.“
C. Begründetheit im Organstreitverfahren
[Bearbeiten]Es gibt keinen allgemeingültigen Aufbau beim Organstreitverfahren. Zum allgemeinen Umgang mit der Klausurlösung und Begründetheitsprüfung siehe Kapitel zur Methodik. Regelmäßig wird jedoch um Kompetenzen, Handlungen anderer Organe und Statusrechte gestritten. [36]
Daher ist es besonders wichtig, dass die Obersätze sauber herausgearbeitet sind. Im Obersatz muss die Fragestellung der Begründheitetsprüfung prägnant festgehalten werden, sodass die Lösung diese Frage beantwortet. Es bietet sich daher aus didaktischen Gründen an, sich einen Überblick über klassische Klausurkonstellationen in Organstreitverfahren anzusehen.
Im Unterschied zu den Grundrechten ist hervorzuheben, dass in diesen klassischen Konstellationen von Eingriffen in Kompetenzbereiche eines Organs eine Verhältnismäßigkeitsprüfung regelmäßig ausscheidet. Eine Kompetenz liegt regelmäßig vor oder sie liegt nicht vor. Im Zusammenhang mit Statusrechten, insbesondere Minderheitenrechten, und der Opposition können dagegen Rechtfertigungsfragen bei möglichen Ungleichbehandlungen aufkommen.[37]
Beispiel: Die Fragen, ob der Bundestag aufgelöst werden darf, ein Untersuchungsausschuss einberufen werden kann, ob der Bundestag an Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr beteiligt sein muss oder wie sich die Bundespräsident:in über Parteien äußern darf, sind für Rechtfertigungserwägungen regelmäßig nicht offen.
Formulierungsbeispiel Obersatz
„Der Antrag ist begründet, soweit die Handlung oder Unterlassung des Antragsgegners den Antragsteller in seinen verfassungsrechtlichen Rechten verletzt, vgl. § 67 BVerfGG.“
Übersicht klassischer Organstreits
- Prüfungsrecht der:des Bundespräsident:in.
- Rechte der Abgeordneten (Bundestagsauflösung, Rederechte, Statusrechte)
- Beteiligung des Bundestages bei Auslandseinsätzen, dabei beispielsweise auch der Parlamentsvorbehalt.
- Äußerungen der:des Bundespräsidenten:in gegenüber einer Partei.
Anhand dieser Klausurkonstellationen zeigt sich anschaulich, wie Begründetheiten bei Organstreitverfahren aufgebaut sein können, aber auch wie unterschiedlich die Fragestellungen sein können. Es bietet sich daher an, sich mit diesen Klassikern vertraut zu machen, um anhand der gelernten Strukturen besser mit neueren oder unbekannten Prüfungskonstellationen zurechtzukommen.
Bitte "soweit" bzw. "insoweit" nutzen (und nicht "wenn") - denn die Handlung oder das Unterlassung kann auch nur teilweise die Antragsteller:in in ihren verfassungsrechtlichen Rechten verletzten.
Formulierungsbeispiel Obersatz
„Die Antragsteller:in ist (teilweise) in ihren Rechten aus Art. ... GG verletzt. Insoweit ist das Organstreitverfahren begründet.“
Weiterführende Studienliteratur
[Bearbeiten]- Hellesen/Pützer, Zur Stellung von Bundestagsabgeordneten im Organstreitverfahren, JuS 2018, 429.
- Ingold, Die Prozessstandschaft in der verfassungsprozessrechtlichen Fallbearbeitung, JuS 2020, 118.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
[Bearbeiten]- Das Organstreitverfahren ist ein kontradiktorisches Verfahren, in dem sich zwei Verfahrensparteien gegenüberstehen.
- Im Rahmen der Begründetheit werden die Rechtsverhältnisse der beiden Verfahrensparteien anhand der Verfassung geprüft.
- Es können auch fremde Rechte, die des Bundestages, im Wege der Prozessstandschaft im eigenen Namen geltend machen.
Fußnoten
[Bearbeiten]- ↑ Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn. 42; Geis/Meier, JuS 2011, 699 (700).
- ↑ BVerfG, Urt. v. 25.3.1999, Az: BvE 5/99 Rn. 13 = BVerfGE 100, 266, 268 - Kosovo.
- ↑ Detterbeck, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 93 Rn. 43 f.
- ↑ Geis/Meier, JuS 2011, 699 (701).
- ↑ BVerfG, Urt. v. 10.6.2014, Az: 2 BvE /09, Rn. 59= BVerfGE 136, 277.
- ↑ Geis/Meier, Jus 2011, 699 (701-702).
- ↑ BVerfG, Urt. v. 27.2.2018, Az.: 2 BvE 1/16, Rn. 28= BVerfGE 148, 11-40 - Wanka.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 12.3.2007, Az.: 2 BvE 1/07 = BVerfGE 117, 359 (367 f.) ¬ Tornadoeinsatz Afghanistan; Gröpl, Staatsrecht I, 30. Aufl. 2020, Rn. 1505.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 7.3.1953, Az.: 2 BvE 4/52= BVerfGE 2, 143 (160).
- ↑ Siehe dazu im Detail das Kapitel zur Fraktion.
- ↑ Geis/Meier, JuS 2011, 699 (701).
- ↑ Geis/Meier, JuS, 2011, 699 (701f.); dagegen als Organteil einordnend, Walter, in: BeckOK BVerfGG, § 63 Rn. 15.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 8.6.1982, Az.: 2 BvE 2/82 = BVerfGE 60, 374 (378 f.) - Redefreiheit und Ordnungsrecht; BVerfG, Urt. V. 30.7.2003, Az.: 2 BvR 508/01 u.a., Rn. 39 = BVerfGE 108, 251 (267) mit Verweis auf Art. 93 I Nr. 1 GG; BVerfG, Urt. v. 12.3.2007, Az.: 2 BvE 1/07 = BVerfGE 117, 359 (367 f.) ¬ Tornadoeinsatz Afghanistan; so auch Gröpl, Staatsrecht I, 30. Aufl. 2020, Rn. 1505, Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 1044, a.A dagegen Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn. 44, welcher Abgeordnete als Teile des Organs Bundestag ansieht; zum einzelnen Abgeordneten siehe auch Nellesen/Pützer, JuS 2018, 429 (429 f.).
- ↑ Geis/Meier, JuS 2011, 699 (702).
- ↑ Im Ergebnis ebenso Geis/Meier, JuS 2011, 699 (701).
- ↑ Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn. 46.
- ↑ BVerfG, Beschl v. 27.4.2021, Az: 2 BvE 4/15, Rn. 55.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 9.6.2020, Az.: 2 BvE 1/19 = BVerfGE 154, 320-353 - Seehofer; BVerfG, Urt. v. 27.2.2018, Az.: 2 BvE 1/16 = BVerfGE 148, 11-40 - Wanka.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 10.6.2014, Az: 2 BvE 4/13=BVerfGE 136, 323-338 - Spinner.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 23.9.2017, Az.: 2 BvE 6/11 = BVerfGE 140, 160-211; BVerfG, Urt. v. 7.5.2008, Az.: 2 BvE 1/03 = BVerfGE 121, 135-175.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 25.8.2005, Az.: 2 BvE 4/05 = BVerfGE 114, 121-195.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 3.5.2016, Az.: 2 BvE 4/14 = BVerfGE 142, 25-74.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 11.12.2018, Az.: 2 BvE 1/18, Rn. 18 = BVerfGE 150, 194-204.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 21.5.1996, Az.: 2 BvE 1/95 =BVerfGE 94, 351 (362 f.) - Abgeordnetenprüfung; BVerfG, Beschl. v. 28.4.2005, Az.: 2 BvE 1/05, Rn. 8= BVerfGE 112, 363-368.
- ↑ Detterbeck, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 93 Rn. 48.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 8.6.1982, Az.: 2 BvE 2/82 = BVerfGE 60, 374 (379 f.) - Redefreiheit und Ordnungsrecht.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 12.7.1994, Az.: 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 = BVerfGE 90, 286 (341 ff., ausdrücklich 343) - Out-of-area-Einsätze; BVerfG, Urt. v. 12.3.2007, Az.: 2 BvE 1/07 = BVerfGE 117, 359 (367 f.) - Tornadoeinsatz Afghanistan.
- ↑ Ablehnend Detterbeck, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 93 Rn. 49 m.w.N.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 12.3.2007, Az.: 2 BvE 1/07 = BVerfGE 117, 359 (367 f.) - Tornadoeinsatz Afghanistan.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 8.4.2002, Az.: 2 BvE 2/01 = BVerfGE 105, 197 (220 f.) - Minderheitsrechte im Untersuchungsausschuss.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 12.7.1994, Az.: BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 = BVerfGE 90, 86 - Out-of-area-Einsätze.
- ↑ Detterbeck, in: Sachs, GG, 9 Aufl. 2021, Art. 93 Rn. 51.
- ↑ Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn. 50.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 27.4.2021, Az: 2 BvE 4/15, Rn. 59.
- ↑ Vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 27.4.2021, Az: 2 BvE 4/15, Rn. 60.; Detterbeck, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 93 Rn. 50a.
- ↑ Detterbeck, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 93 Rn. 48.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 3.5.2016, Az.: 2 BvE 4/14, Rn. 95 ff. = BVerfGE 142, 25-74 (60-64).