Rechtsverordnungen
Autor: Ammar Bustami
Notwendiges Vorwissen: Demokratieprinzip: demokratische Legitimation; Rechtsstaatsprinzip: Gewaltenteilungsgrundsatz, Bindung an das Recht, Bestimmtheitsgebot; Gesetzgebungskompetenzen; Gesetzgebungsverfahren
Lernziel: Die Stellung von Rechtsverordnungen im Normengefüge sowie im Zusammenspiel mit Rechtsstaats- und Demokratieprinzip verstehen, die Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung am Maßstab von Verfassung und Ermächtigungsgrundlage prüfen können, sowie die Rechtsschutzkonstellationen im Zusammenhang mit der Überprüfung von Rechtsverordnungen verstehen
A. Allgemeines
[Bearbeiten]Rechtsverordnungen sind von der Exekutive erlassene Rechtsnormen. Damit stellen sie zwar abstrakt-generelle Regelungen mit Außenwirkung dar, das heißt Gesetze nach dem materiellen Gesetzesbegriff. Jedoch handelt es sich gerade nicht um formelle Gesetze, die von einem Parlament verabschiedet werden, sodass von „Gesetzen im nur materiellen Sinne“ gesprochen wird. In der Normenhierarchie stehen sie zudem unterhalb der jeweiligen Ebene der Parlamentsgesetze, sodass sie sich im Einklang mit dieser höherrangigen Ebene befinden müssen.
Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Arten von Rechtsnormen liegt im Normgeber: Während Gesetze im formellen Sinne vom direkt demokratisch legitimierten Gesetzgeber erlassen werden, sind Rechtsverordnungen Akte der Exekutive, das heißt entweder einer Regierung, eines Ministeriums oder einer Verwaltungsbehörde. Deren demokratische Legitimation wird selbstverständlich mittels personeller Legitimationsketten hergestellt.[1]Rechtsverordnungen stellen damit eine entscheidende Konsequenz der verzahnten Gewaltenteilung des Grundgesetzes dar. Gerade zwischen Legislative und Exekutive gibt es besonders enge Verzahnungen, wozu letztlich auch die Möglichkeit der Exekutive gehört, Rechtsverordnungen zu erlassen. Diese Befugnis steht der Exekutive jedoch nicht originär zu, sondern nur auf Grundlage einer Delegierung durch den parlamentarischen Gesetzgeber.[2] Um sowohl dem Gewaltenteilungsgrundsatz als auch dem Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes Rechnung zu tragen, ist eine solche Delegation der Legislative an die Exekutive nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich. Zunächst bedarf es einer verfassungsmäßigen Ermächtigungsgrundlage. Sodann bemisst sich die Rechtmäßigkeit der Rechtsverordnung selbst ebenfalls an bestimmten Voraussetzungen, welche sich zum Teil aus der Ermächtigungsgrundlage ergeben.
Für den Fall, dass die Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung geprüft werden muss, ergibt sich aus dem Vorangegangenen ein zweistufiger Prüfungsaufbau, der z.B. wie folgt aussehen kann:
I. Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage
(nur Prüfung der problematischen Prüfungspunkte)
- Formelle Verfassungsmäßigkeit
- Materielle Verfassungsmäßigkeit
II. Rechtmäßigkeit der Rechtsverordnung
- Formelle Rechtmäßigkeit
- Materielle Rechtmäßigkeit
III. Rechtsfolgen von Rechtsverstößen
Die folgenden Abschnitte orientieren sich an diesem Prüfungsaufbau.[3] Die Prüfung von Rechtsverordnungen kann jedoch auch nach einem anderen Schema erfolgen, ohne dass dies falsch wäre.[4] Letztlich kommt es darauf an, dass die wichtigen im folgenden thematisierten Prüfungspunkte schlüssig eingebaut und angemessen thematisiert werden.
Die zentrale Vorschrift für den Erlass von Rechtsverordnungen ist Art. 80 GG, welcher für einen bestimmten Typ von Rechtsverordnungen die verfassungsrechtliche Grundlage bietet. Der Anwendungsbereich des Art. 80 GG umfasst genauer alle Rechtsverordnungen, die aufgrund eines formellen Bundesgesetzes erlassen werden können,[5] wobei Ermächtigungsadressaten nur die Bundesregierung, ein Bundesministerium oder die Landesregierungen sein können. Dieser Typus von Rechtsverordnungen kann im weiteren Sinne der Gesetzgebung zugeordnet werden.[6] Demgegenüber können auch Verwaltungsbehörden zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt werden, jedoch nicht auf der direkten Grundlage von Art. 80 GG.
Teilweise ist im letzteren Fall von „administrativen Rechtsverordnungen“ die Rede.[7] So erlaubt Art. 80 I 4 GG die sogenannte Subdelegation an die jeweils den Ministerien untergeordnete Verwaltungsbehörden, sodass auch im GG bereits die Möglichkeit von solchen administrativen Rechtsverordnungen angelegt ist. Für eine solche Subdelegation muss bereits die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage die Möglichkeit eröffnen. Die vom Gesetzgeber ermächtigte Behörde kann sodann eine Delegationsverordnung erlassen, welche genau bestimmt, von welcher Behörde die administrative Rechtsverordnung erlassen werden kann.[8]
Examenswissen: Neben diesen Rechtsverordnungen aufgrund von Bundesgesetzen beinhalten auch alle Landesverfassungen explizite Vorschriften, auf deren Grundlage landesrechtliche Rechtsverordnungen erlassen werden können.[9] Besonders (praxis)relevant sind die (in der Regel) auf landesrechtlicher Grundlage basierenden Polizeiverordnungen sowie sonstige Verordnungen auf kommunaler Ebene. Zwar gilt für diese Rechtsverordnungen Art. 80 GG nicht unmittelbar,[10] doch dürfen die landesverfassungsrechtlichen Anforderungen nicht hinter denen des Grundgesetzes zurückstehen,[11] sofern sich diese aus dem Rechtsstaats- oder Demokratieprinzip ergeben.[12] Damit können die meisten der folgenden Ausführungen auch entsprechend für die Prüfung landesverfassungsrechtlicher Rechtsverordnungen herangezogen werden.[13]
B. Die Ermächtigungsgrundlage und ihre Verfassungsmäßigkeit
[Bearbeiten]Damit dem Grundsatz der Gewaltenteilung sowie dem Vorbehalt des Gesetzes Rechnung getragen wird, bedarf es zwingend einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, mit welcher der parlamentarische Gesetzgeber bestimmte Befugnisse an die Exekutive überträgt. Nach Art. 80 GG muss es sich dabei um ein Gesetz des Bundesgesetzgebers handeln;[14] bei den landesverfassungsrechtlichen Vorschriften sind es Gesetze der Landesparlamente. Die Verordnungsermächtigung führt nicht zu einem Kompetenzverlust des Gesetzgebers, denn das Parlament kann jederzeit die Ermächtigung zurückziehen, eine erlassene Verordnung außer Kraft setzen oder Vorschriften der Verordnung ändern.[15]
Zwingende Voraussetzung einer rechtmäßigen Rechtsverordnung ist die Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage. Zunächst sind dies alle allgemeinen Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes: Es muss formell sowie materiell im Einklang mit dem Grundgesetz stehen.[16] Dazu gehören die Gesetzgebungskompetenz des Bundes, ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren sowie die Formvorschriften des Art. 82 GG. Aber auch materiell muss die Ermächtigungsgrundlage mit sämtlichem Verfassungsrecht vereinbar sein, das heißt insbesondere mit den Grundrechten und den Staatsstrukturprinzipien. Darüber hinaus sind einige besondere Voraussetzungen zu beachten, die im Folgenden dargelegt werden.
In einer Klausursituation ist auf die Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage nur dann ausführlich einzugehen, wenn Probleme bei einzelnen der Prüfungspunkte ersichtlich sind. Bestehen dagegen keine Probleme auf dieser Ebene, so genügt es, die Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage mangels anderweitiger Hinweise kurz festzustellen, um sodann im Schwerpunkt die formelle und die materielle Rechtmäßigkeit der Rechtsverordnung selbst zu prüfen.
I. Ermächtigungsadressaten
[Bearbeiten]Nach Art. 80 I 1 GG können vom Bundesgesetzgeber nur die Bundesregierung, einzelne Bundesministerien oder die Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt werden. Nachgeordnete Verwaltungsbehörden können nur im Wege der Subdelegation ermächtigt werden. Im Falle von Bundesregierung und Bundesministerien handelt es sich bei den daraufhin erlassenen Rechtsverordnungen um Bundesrecht; die Landesregierungen erlassen landesrechtliche Rechtsverordnungen.
Beispiel: Aktuelle Beispiele stellen die zahlreichen Verordnungsermächtigungen durch den Bundestag im Rahmen der Covid-19-Pandemie dar: beispielsweise in § 28c IfSG an die Bundesregierung, in § 5 II 1 Nr. 4 lit. f IfSG an das Bundesgesundheitsministerium (siehe auch zu dessen vorübergehender Verfassungswidrigkeit) und in § 32 IfSG an die Landesregierungen.
II. Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgebot
[Bearbeiten]Im Spannungsfeld zwischen Demokratieprinzip und Gewaltenteilungsgrundsatz steht Art. 80 GG in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Parlamentsvorbehalt und der Wesentlichkeitstheorie. Demnach müssen alle für die Gesellschaft „wesentlichen“ Entscheidungen durch den parlamentarischen Gesetzgeber entschieden werden.[17] Der Parlamentsvorbehalt stellt daher sogleich eine Einschränkung der Verordnungsermächtigung dar, um sicherzustellen, dass sich das Parlament nicht seiner demokratisch besonders legitimierten Pflicht entzieht. Von besonderer Relevanz sind gesetzgeberische Entscheidungen mit hoher Grundrechtswesentlichkeit.
Besondere Bedeutung kommt dabei der Voraussetzung in Art. 80 I 2 GG zu: „Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden.“ Hierbei handelt es sich um eine Ausprägung des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots, welches wiederum ebenfalls in engem Zusammenhang mit der Wesentlichkeitstheorie steht.[18] Art. 80 I 2 GG bezieht sich dabei explizit auf den Inhalt (Welcher Sachbereich soll geregelt werden?), auf den Zweck (Welches Ziel soll die Verordnung erreichen?) und auf das Ausmaß der Ermächtigung (Welche Grenzen bestehen?).[19] Dies bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber sämtliche Details abschließend vorgeben muss; es muss gerade nicht größtmögliche Bestimmtheit vorliegen, da der Exekutive durch die Verordnungsermächtigung gewisse Entscheidungen in die Hand gegeben werden sollen.[20] Somit sind auch Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe möglich, solange diese so bestimmt sind, dass sie sich durch die allgemeinen Auslegungsmethoden ermitteln lassen.[21] Jedoch sind Pauschal- oder Globalermächtigungen, mit denen das Parlament seine gesetzgebende Gewalt faktisch auf die Exekutive überträgt, verboten.[22] Letztlich lassen sich nur schwierig allgemeingültige Maßstäbe für die hinreichende Bestimmtheit festlegen, da sich diese Frage nur im Einzelfall und abhängig von der jeweiligen Materie beantworten lässt.[23]
Beispiel: Besonders umstritten in Bezug auf die Einhaltung des Parlamentsvorbehalts sowie des Art. 80 I 2 GG waren zahlreiche der (alten) Verordnungsermächtigungen durch den Bundestag im Rahmen der Covid-19-Pandemie.
Ein weiteres aktuelles Beispiel stellte die aus Sicht des BVerfG unzureichende Verordnungsermächtigung im Rahmen des § 4 VI des Bundes-Klimaschutzgesetzes a.F. dar. Darin hatte es der Bundesgesetzgeber der Bundesregierung überlassen, die jährlich absinkenden, noch zulässigen Jahresemissionsmengen nach dem Jahr 2030 durch Rechtsverordnung festzulegen, ohne nähere Vorgaben zu machen. Das BVerfG stellte dazu fest, dass der Gesetzgeber die Größe der festzulegenden Jahresemissionsmengen selbst hätte bestimmen oder jedenfalls nähere Maßgaben zu deren konkreten Bestimmung durch den Verordnungsgeber hätte treffen müssen.[24]
Das allgemeine Bestimmtheitsgebot ergibt sich als Ausprägung aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 II, III, 1 III, 28 I 1 GG), ist allerdings als solches explizit an keiner Stelle des Grundgesetzes normiert. Art. 80 I 2 GG stellt insofern nur eine spezielle, auf Rechtsverordnungen anwendbare, Version des Bestimmtheitsgebots dar. Es wäre daher nicht richtig, bei Prüfung des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes – losgelöst von Rechtsverordnungen – auf Art. 80 I 2 GG zu verweisen. Kurz: Art. 80 I 2 GG ist der Maßstab dafür, ob eine Rechtsverordnung hinreichend bestimmt ist. Das allgemeine Bestimmtheitsgebot wirft diese Frage ganz allgemein und losgelöst von der Natur der Norm auf.[25]
C. Anforderungen an die Rechtsverordnung selbst
[Bearbeiten]Existiert eine verfassungsmäßige Ermächtigungsgrundlage, so wird der darin bezeichnete Verordnungsgeber wirksam zum Verordnungserlass ermächtigt. Dabei ist der Verordnungsgeber an die Vorgaben in der Verordnungsermächtigung gebunden: Inhalt, Zielsetzung und Grenzen der Ermächtigung sind insofern für ihn verbindlich.[26] Der Gestaltungsspielraum des Verordnungsgebers in Bezug auf die inhaltliche Ausgestaltung ist durch die Grenzen der Ermächtigungsgrundlage deutlich enger als derjenige der Legislative.[27] Daraus ergeben sich sowohl formelle als auch materielle Rechtmäßigkeitskriterien.
I. Formelle Rechtmäßigkeit
[Bearbeiten]Zunächst ergibt sich die Zuständigkeit des Verordnungsgebers aus Art. 80 I 1 GG i.V.m. der entsprechenden Ermächtigungsgrundlage – je nachdem welchen Ermächtigungsadressaten das Gesetz adressiert. Das Verordnungsgebungsverfahren ist im Detail nicht in Art. 80 GG (und meist auch nicht im einfachen Recht) geregelt.[28] Es richtet sich vielmehr je nach zuständigem Verordnungsgeber nach dessen spezifischem Geschäftsordnungsrecht.
Beispiel: Ist die Bundesregierung ermächtigt, so muss die entsprechende Rechtsverordnung von der Regierung als Kollegialorgan erlassen werden, vgl. §§ 15 I lit. b, 24 GOBReg.[29]
Besonderheiten im Verfahren ergeben sich jedoch aus Art. 80 II GG mit Blick auf die Zustimmungsbedürftigkeit durch den Bundesrat bei bestimmten Rechtsverordnungen.[30] Diese Vorgaben sind Ausdruck des Bundesstaatsprinzips, welches erfordert, dass die Bundesländer in solchen Bereichen eingebunden werden, die ihre Interessen besonders betreffen. Dies gilt nicht nur im Gesetzgebungsverfahren; Art. 80 II GG erfordert eine ähnliche Mitwirkung des Bundesrats auch für bestimmte Rechtsverordnungen der Bundesregierung und der Bundesministerien.
Zustimmungsbedürftig sind zum einen die sogenannten „Verkehrsverordnungen“ bezüglich der Einrichtungen des Postwesens und der Telekommunikation sowie der Einrichtungen und des Baus und Betriebs der Bundeseisenbahnen.[31] Zum anderen unterliegen solche Rechtsverordnungen der Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrats, welche selbst auf Grundlage von zustimmungsbedürftigen Bundesgesetzen erlassen werden oder auf Grund von Bundesgesetzen, die von den Ländern in Bundesauftragsverwaltung oder Landeseigenverwaltung ausgeführt werden (sogenannte „Föderativverordnungen“).[32] Darüber hinaus können aufgrund des Vorbehalts in Art. 80 II GG auch Bundesgesetze selbst die Zustimmungsbedürftigkeit begründen;[33] so beispielsweise in § 6 I StVG geschehen.
Bundesgesetztlich kann die Zustimmungsbedürftigkeit nicht nur ausgedehnt sondern auch eingeschränkt werden; letzteres allerdings wiederum nur mit Zustimmung des Bundesrats.[34] Außerdem kann der Gesetzgeber verschieden gestaltete Beteiligungsrechte des Parlaments selbst (sowie eingeschränkt auch Dritter[35]) in der Verordnungsermächtigung festlegen, welche dann im Verordnungsverfahren einzuhalten sind.[36] Für die Fälle des Art. 80 II GG kann der Bundesrat der Bundesregierung nach Art. 80 III GG zudem Vorlagen zukommen lassen.
In Bezug auf die Form regelt Art. 82 I 2, II 2 GG, dass Rechtsverordnungen vom entsprechenden Verordnungsgeber ausgefertigt und in der Regel im Bundesgesetzblatt verkündet werden. Vorbehaltlich expliziter Bestimmung treten sie, wie formelle Bundesgesetze, mit dem vierzehnten Tage nach Ablauf des Tages in Kraft, an dem das Bundesgesetzblatt ausgegeben worden ist.
Schließlich enthält Art. 80 I 3 GG noch ein besonderes Formerfordernis in Form eines Zitiergebots. Demnach muss die Rechtsverordnung die Ermächtigungsgrundlage ausdrücklich benennen. Dieses Zitiergebot dient sowohl der Selbstkontrolle durch die Exekutive als auch der Rechtsklarheit und der Kontrollierbarkeit von Rechtsverordnungen.[37]
II. Materielle Rechtmäßigkeit
[Bearbeiten]Materiell ist die Rechtsverordnung zunächst in erster Linie an der Ermächtigungsgrundlage zu messen. Sie muss sich im Rahmen des dort vorgegeben Sachbereichs sowie insbesondere der dortigen Ermächtigungsgrenzen bewegen. Dabei handelt es sich letztlich um Fragen des einfachen Rechts, die anhand des – hinreichend bestimmten – Inhalts der Ermächtigungsgrundlage zu prüfen sind (Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage).
Jedoch muss die Rechtsverordnung auch darüber hinaus mit sämtlichem höherrangigem Recht vereinbar sein. Da Rechtsverordnungen unterhalb von Parlamentsgesetzen stehen, dürfen sie somit auch nicht gegen sonstiges einfaches Recht verstoßen.[38] Sie müssen aber auch im Einklang mit den Grundrechten und den Staatsstrukturprinzipien stehen. Daher muss der Verordnungsgeber bei Nutzung seines Gestaltungsspielraums selbstverständlich auch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren.
D. Rechtsfolgen von Rechtsverstößen und Rechtsschutz
[Bearbeiten]I. Verfassungswidrigkeit der Ermächtigungsgrundlage
[Bearbeiten]Die Rechtsfolgen bei Rechtsverstößen hängen von der Ebene des Verstoßes ab. Erfüllt die Ermächtigungsgrundlage nicht alle der verfassungsmäßigen Anforderungen, so ist sie verfassungswidrig und nichtig (sogenanntes Nichtigkeitsdogma), was wiederum die Nichtigkeit der darauf gegebenenfalls schon ergangenen Rechtsverordnung zur Folge hat.[39] Jedoch obliegt es in diesem Fall weder den anwendenden Behörden noch den Fachgerichten, selbst zu entscheiden, die Verordnungsermächtigung (und damit die Rechtsverordnung) nicht anzuwenden. Da es sich um ein formelles Gesetz handelt, liegt das Verwerfungsmonopol beim BVerfG: Nur dieses hat die Kompetenz, eine solche verfassungswidrige Ermächtigungsgrundlage – im Wege der abstrakten Normenkontrolle, der konkreten Normenkontrolle oder der Verfassungsbeschwerde – für verfassungswidrig und damit nichtig zu erklären. Kommen einem Fachgericht in einem Verfahren Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Ermächtigungsgrundlage, so kann es das Verfahren aussetzen und das Parlamentsgesetz dem BVerfG im Rahmen der konkreten Normenkontrolle zur Entscheidung vorlegen.
II. Rechtswidrigkeit der Rechtsverordnung
[Bearbeiten]Ein etwas anderer Fall liegt vor, wenn die Rechtsverordnung die an sie gestellten Anforderungen nicht erfüllt. Auch in diesem Fall ist die Rechtsverordnung in der Regel nichtig. Dies gilt sowohl bei Verstößen gegen die materiellen Vorgaben der Ermächtigungsgrundlage oder gegen sonstiges höherrangiges Recht als auch bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot.[40] Handelt es sich lediglich um Verstöße gegen Geschäftsordnungsvorschriften im Rahmen des Verordnungsgebungsverfahrens, so liegt keine Nichtigkeit vor; die Rechtsverordnung bleibt wirksam.[41]
Im Gegensatz zur Verfassungswidrigkeit der Ermächtigungsgrundlage, besteht in Bezug auf eine ungültige Rechtsverordnung kein Verwerfungsmonopol des BVerfG. Es besteht auch eine Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Fachgerichte: Diese können die Verfassungs- und Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung prüfen und müssen diese bei Rechtsverstößen unangewendet lassen.[42]
Examenswissen: Dabei ist zu unterscheiden: Die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung kann sich inzident in einem Verfahren stellen (Inzidentprüfung); in diesem Fall lässt das Gericht die Verordnung zwar unangewendet, sie bleibt aber formal wirksam. Eine solche Inzidentprüfung kommt in Betracht, wenn die Rechtsverordnung selbst wiederum eine Ermächtigungsgrundlage für Verwaltungsakte beinhaltet, so beispielsweise bei polizeilichen Gefahrenabwehrverordnungen. Ein weiterer Anwendungsfall sind verwaltungsrechtliche Feststellungsklagen (§ 43 VwGO), wenn das darin feststellungsbedürftige Rechtsverhältnis inzident die Prüfung der Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden Verordnung erfordert.
Daneben eröffnet § 47 VwGO für bestimmte (nur landesrechtliche) Rechtsverordnungen die Möglichkeit einer verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle vor den Oberverwaltungsgerichten. Dabei handelt es sich um eine prinzipale Normenkontrolle, die bei Ungültigkeit einer Rechtsverordnung die allgemein verbindliche Erklärung von deren Unwirksamkeit zur Folge hat, § 47 V 2 VwGO.[43] Eine solche verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle ist beispielsweise gegen bestimmte baurechtliche Rechtsverordnungen nach § 246 II BauGB statthaft. Daneben eröffnet § 47 I Nr. 2 VwGO auch für andere landesrechtliche Rechtsverordnungen die Möglichkeit einer Normenkontrolle; dies ist erneut besonders relevant in Bezug auf polizeiliche Gefahrenabwehrverordnungen.
Trotz des nicht vorhandenen Verwerfungsmonopols des BVerfG in Bezug auf Rechtsverordnungen, steht weiterhin auch die Möglichkeit offen, eine Rechtsverordnung im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle überprüfen zu lassen.
Weiterführende Studienliteratur
[Bearbeiten]- Voßkuhle/Wischmeyer, Grundwissen – Öffentliches Recht: Die Rechtsverordnung, JuS 2015, 311.
- Meßerschmidt, Rechtsverordnungen: Rechtmäßigkeit und Rechtsschutz, Jura 2016, 747.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
[Bearbeiten]- Rechtsverordnungen sind Gesetze nach dem materiellen Gesetzesbegriff, die in der Normenhierarchie unterhalb von (formellen) Parlamentsgesetzen stehen.
- Damit Rechtsverordnungen den Anforderungen des rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsgrundsatzes sowie dem demokratischen Parlamentsvorbehalt Rechnung tragen, bedarf es zu ihrer Wirksamkeit einer Ermächtigungsgrundlage, die sich an den Voraussetzungen des Art. 80 GG messen lassen muss. Für die Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung muss daher sowohl die Ermächtigungsgrundlage verfassungsgemäß sein als auch die Rechtsverordnung selbst im Einklang mit der Ermächtigungsgrundlage sowie sonstigem höherrangigen Recht stehen.
- Rechtsschutz: In Bezug auf eine verfassungswidrige gesetzliche Ermächtigungsgrundlage liegt das Verwerfungsmonopol beim BVerfG; verfassungs- und rechtswidrige Rechtsverordnungen selbst können dagegen auch von Fachgerichten, im Rahmen einer verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle oder einer Inzidentprüfung, als nichtig verworfen werden.
Fußnoten
[Bearbeiten]- ↑ Meßerschmidt, JURA 2017, 747 (750).
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1188–1190.
- ↑ Für ähnliche Prüfungsaufbauten, siehe Degenhart, Staatsrecht, 36. Aufl. 2020, Rn. 356; von Coelln in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, Studienkommentar GG, 4. Aufl. 2020, Art. 80 Rn. 34.
- ↑ Beispielsweise kann die Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage auch inzident im Rahmen der Rechtmäßigkeit der Rechtsverordnung geprüft werden, vgl. Reimer, Grundkurs Verfassungsrecht II / Übung Öff. Recht für Anfänger, 2. Klausur (Wintersemester 2005/06), S. 9.
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1193.
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1183.
- ↑ Siehe Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1184.
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1197.
- ↑ Beispiele sind: Art. 53 HmbVerf, Art. 110 RhPfVerf, Art. 101 II BremVerf, Art. 79 Verf ST.
- ↑ Voßkuhle/Wischmeyer, JuS 2015, 311 (312).
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 19.11.2002, Az.: 2 BvR 329/97, Rn. 51 = BVerfGE 107, 1 (15) – Verwaltungsgemeinschaften.
- ↑ von Coelln, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, Studienkommentar GG, 4. Aufl. 2020, Art. 80 Rn. 3. Dies gilt insbesondere für den Vorbehalt des Gesetzes und das Bestimmtheitsgebot.
- ↑ Zum Landesverfassungsrecht als Prüfungsmaßstab siehe König, § 22 Landesverfassungsgerichtsbarkeit in diesem Lehrbuch.
- ↑ Uhle, in: BeckOK GG, 47. Ed. 15.5.2021, Art. 80 Rn. 3.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 15.11.1967, Az.: 2 BvL 7/64 u.a. = BVerfGE 22, 330 (346) – Milchauszahlungspreise. Siehe auch Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1199–1200.
- ↑ Uhle, in: BeckOK GG, 47. Ed. 15.5.2021, Art. 80 Rn. 7.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 19.9.2018, Az.: 2 BvF 1, 2/15, Rn. 194 = BVerfGE 150, 1 (97) – Zensus 2011; siehe auch: Voßkuhle/Wischmeyer, JuS 2015, 311 (313).
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1185.
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1185.
- ↑ Meßerschmidt, JURA 2017, 747 (750).
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1193.
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1185.
- ↑ Meßerschmidt, JURA 2017, 747 (750); Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1185.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, Az.: 1 BvR 2656/18 u.a., Rn. 259–265 = NJW 2021, 1723 – Klimaschutz. Siehe auch Rösch/Christiansen, JuWissBlog, 3.5.2021 sowie allgemein zum Klimabeschluss Fall 4 im Grundrechte-Fallbuch.
- ↑ Siehe zur Abgrenzung ausführlicher auch Kohal, § 4 Bestimmtheitsgebot in diesem Lehrbuch.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 1.4.2014, Az.: 2 BvF 1/12, Rn. 45 = BVerfGE 136, 69 (92) – Gigaliner. Dies ergibt sich bereits aus dem Vorbehalt des Gesetzes.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 13.12.1961, Az.: 1 BvR 1137/59 u.a. = BVerfGE 13, 248 (255); Uhle, in: BeckOK GG, 47. Ed. 15.5.2021, Art. 80 Rn. 29a.
- ↑ Eine Ausnahme gilt insbesondere für Verordnungen der Polizei und Ordnungsbehörden.
- ↑ Siehe auch Voßkuhle/Wischmeyer, JuS 2015, 311 (313).
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1185.
- ↑ Uhle, in: BeckOK GG, 47. Ed. 15.5.2021, Art. 80 Rn. 40a.
- ↑ Uhle, in: BeckOK GG, 47. Ed. 15.5.2021, Art. 80 Rn. 40b-40d.
- ↑ Uhle, in: BeckOK GG, 47. Ed. 15.5.2021, Art. 80 Rn. 42-42a.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 1.4.2014, Az.: 2 BvF 1/12, Rn. 72, 74 = BVerfGE 136, 69 (102 f.) – Gigaliner.
- ↑ Für niedrigschwellige Beteiligungsrechte einzelner Bundesministerien, siehe § 5 III IfSG. Allgemein: Uhle, in: BeckOK GG, 47. Ed. 15.5.2021, Art. 80 Rn. 33.
- ↑ Ein Beispiel für einen Zustimmungsvorbehalt des Bundestags im Rahmen der Covid-19-Pandemie stellte die Bundesnotbremse in § 28b VI 2 IfSG a.F. dar (siehe Gesetz vom 22.4.2021, BGBl. I 2021 S. 802). Allgemein: Uhle, in: BeckOK GG, 47. Ed. 15.5.2021, Art. 80 Rn. 54 ff.
- ↑ Uhle, in: BeckOK GG, 47. Ed. 15.5.2021, Art. 80 Rn. 32; Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1212.
- ↑ Voßkuhle/Wischmeyer, JuS 2015, 311 (313).
- ↑ Uhle, in: BeckOK GG, 47. Ed. 15.5.2021, Art. 80 Rn. 29, 36.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 6.7.1999, Az.: 2 BvF 3/90, Rn. 111, 140 f., 158 = BVerfGE 13, 248 (30, 37, 43) – Hennenhaltungsverordnung; siehe hierzu auch: Voßkuhle/Wischmeyer, JuS 2015, 311 (313).
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1218–1219. Vgl. auch zu Geschäftsordnungsverstößen im Gesetzgebungsverfahren.
- ↑ Gröpl, Staatsrecht I, 12. Aufl. 2020, § 16 Rn. 1185.
- ↑ Degenhart, Staatsrecht, 36. Aufl. 2020, Rn. 355.