Rechtsstaatsprinzip – Einleitung
Als erstes Staatsstrukturprinzip soll im Folgenden – für ein Lehrbuch der Rechtswissenschaft ziemlich naheliegend – das Rechtsstaatsprinzip behandelt werden. Es ist historisch gesehen auch das älteste der staatsprägenden Prinzipien. Als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Demokratie, Republik und Sozialstaatlichkeit im modernen Sinn in Deutschland noch nicht zu denken war, haben sich bereits entscheidende Grundsätze herausgebildet, die unser Rechtsstaatsverständnis bis heute prägen. In seinen Wurzeln reicht das Rechtsstaatsprinzip sogar noch weiter zurück.[1]
Der Gehalt des Rechtsstaatsprinzips kann – anders etwa als der des Demokratieprinzips – nicht mit einer knappen Formel zusammengefasst werden. Vielmehr verfügt das Rechtsstaatsprinzip über viele verschiedene Facetten. Sicherlich ist es ein Anliegen des Rechtsstaatsprinzips, das staatliche Handeln durch rechtliche Bindung berechenbar zu machen und so das Vertrauen der Bürger:innen in das staatliche Handeln zu stärken (hierzu unter Wirkung des Rechts und Rechtssicherheit und Vertrauensschutz). Zu den klassischen rechtsstaatlichen Verbürgungen zählen aber auch prozessuale Garantien, die eine gerichtsförmige Durchsetzung der rechtlichen Vorgaben ermöglichen. Über dieses klassische Begriffsverständnis werden dem Rechtsstaatsprinzip heute aber auch inhaltliche Vorgaben entnommen. Zu nennen sind insoweit insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der auf eine Mäßigung staatlicher Handlungen abzielt[2] oder der Grundsatz der Gewaltenteilung, der in erster Linie auf eine Begrenzung der staatlichen Macht gerichtet ist. Auch die Grundrechte sind eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips. Wegen ihrer eigenständigen Bedeutung werden sie aber in einem eigenen Lehrbuch behandelt.
Formelles und materielles Rechtsstaatsverständnis: Die einzelnen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips lassen sich zwei verschiedenen Rechtsstaatsverständnissen zuordnen: Dem formellen und dem materiellen. Beide lassen sich nicht völlig trennscharf unterscheiden.[3] Sie schließen einander auch nicht aus; vielmehr ist unumstritten, dass das Grundgesetz sowohl Aspekte eines formellen, als auch solche eines materiellen Rechtsstaatsverständnisses aufgreift.[4] Die beiden Kategorien geben aber einen Einblick in die historische Entwicklung des Rechtsstaatsverständnisses[5] und können insoweit das Verständnis für die Funktionen der einzelnen Ausprägungen schärfen.
Das klassische, formelle Rechtsstaatsverständnis gibt sich damit zufrieden, dass sich ein Staat an rechtliche Vorgaben hält. Es ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, in dem es dem „Bürgertum" in erster Linie darum ging, staatlicher Willkür zu entgehen. Ein Staat, der sich dem Recht unterwirft, der Gesetze nicht rückwirkend in Kraft setzt, den Bürger:innen hinreichend klare Vorgaben macht und ihnen gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung stellt, wird für die Bürger:innen berechenbar. Dies ist notwendige Voraussetzung dafür, dass die Menschen Dispositionen für die Zukunft treffen und sich frei entfalten können. Insoweit verfolgt das formelle Rechtsstaatsprinzip zweifelsohne ein wichtiges Anliegen.
Die deutsche Geschichte zeigt aber, dass die Bindung an rechtliche Vorgaben allein keine Garantie für Freiheit und Gerechtigkeit ist. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn auch der Inhalt des Rechts bestimmten Mindeststandards genügt. Hier knüpft das materielle Rechtsstaatsverständnis an. Es macht bestimmte Vorgaben an den Inhalt des Rechts und soll sicherstellen, dass Recht und Gerechtigkeit nicht zu weit auseinanderdriften. Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält einige Verbürgungen, die einem solchen materiellen (= inhaltlichen) Rechtsstaatsverständnis zugeordnet werden können. Dazu gehören der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Grundsatz der Gewaltenteilung[6] und die Bindung des Staates an die Grundrechte.
Das formelle und das materielle Rechtsstaatsverständnis können und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.[7] Beide ergänzen einander und stellen sicher, dass sich der Staat an Recht hält, das auch gerecht ist. Das materielle Verständnis von Rechtsstaatlichkeit darf aber nicht überbetont werden. Bei der Betonung der materiellen Rechtsstaatskomponente besteht stets die Gefahr, den Begriff der 'Rechtsstaatlichkeit' mit subjektiven (politischen) Vorstellungen „aufzuladen".[8] Je mehr inhaltliche Vorgaben dem Rechtsstaatsprinzip entnommen werden, desto weniger Spielraum bleibt zudem dem demokratisch gewählten Gesetzgeber. Daher ist Zurückhaltung geboten, wenn es darum geht, dem Rechtsstaatsprinzip inhaltliche Bindungen des Gesetzgebers zu entnehmen.
Die textliche Grundlage des Rechtsstaatsprinzips ist ähnlich uneinheitlich wie seine einzelnen Verbürgungen.[9] Ausdrücklich ist nur in den Art. 23 I und 28 I GG vom „Rechtsstaat" die Rede. Diese beiden Vorschriften bieten sich als rechtlicher Anknüpfungspunkt für ein staatsprägendes Prinzip aber kaum an, da sie relativ spezielle Anwendungsbereiche (Vorgaben an die EU und an die Landesverfassungen) haben. Die einzelnen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips tauchen häufig überhaupt nicht im Verfassungstext auf oder sind über das gesamte Grundgesetz verteilt, z.B. Art. 20 II 2 GG (Gewaltenteilung), Art. 19 IV GG (Effektiver Rechtsschutz), Art. 101 ff. GG (Justizgrundrechte). Auch insoweit ist keine einheitliche Niederlegung des Prinzips ersichtlich. Die Rechtsprechung zieht regelmäßig Art. 20 III GG als Anknüpfungspunkt für das Rechtstaatsprinzip heran. Dort ist zwar mit der Rechtsbindung des Staates nur ein Aspekt geregelt. Dieser ist aber immerhin so grundlegend, dass man Art. 20 III GG pars pro toto für das gesamte Rechtsstaatsprinzip anführt.[10] Die einzelnen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, insbesondere die ungeschriebenen, werden daher in den Art. 20 III GG „hineingelesen".
Es ist daher durchaus zulässig, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder das Bestimmtheitsgebot in der Klausur auf Art. 20 III GG zurückzuführen, obwohl sich dies aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht eindeutig ergibt.
Im Folgenden werden die einzelnen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips – beginnend mit dem Begriff des „Rechts" und seinen Wirkungen – näher beleuchtet.
Fußnoten
[Bearbeiten]- ↑ Pieroth, JURA 2011, 729 (731).
- ↑ Die Herleitung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgt (auch in der Rechtsprechung des BVerfG) nicht ganz einheitlich. Überwiegend wird das Rechtsstaatsprinzip genannt, vgl. BVerfG, Urt. v. 24.4.1985, Az.: 2 BvF 2, 3, 4/83 u.a. = BVerfGE 69, 1 (35). Auch in der Kommentarliteratur wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips behandelt, siehe Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 145; Huster/Rux, in: BeckOK GG, 48. Ed. 15.8.2021, Art. 20 Rn. 189 f. Daneben werden aber auch die Grundrechte selbst als Geltungsgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genannt, vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987, Az.: 2/bVR 1226/83 u.a. = BVerfGE 76, 1 (50 f.). Dies stellt indes keinen Widerspruch dar, da die Grundrechte einhellig (auch) als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips verstanden werden, hierzu sogleich.
- ↑ Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 48.
- ↑ Zum Ganzen Gröpl, Staatsrecht I, 13. Auflage 2021, § 7 Rn. 426 ff.
- ↑ Hierzu Huber, in: HbVerfR, 2021, § 6 Rn. 2 ff.
- ↑ Vielfach wird der Gewaltenteilungsgrundsatz auch dem formellen Rechtsstaatsverständnis zugeordnet, vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 47. Auf die genaue Zuordnung kommt es letztlich aber nicht an, da die Kategorisierung keine rechtlichen Fragen (vor-)entscheiden kann, ders., ebenda Rn. 48.
- ↑ Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 49.
- ↑ Allgemein zur Gefahr, das „Gewünschte" in die Staatsstrukturprinzipien hineinzulesen, anstatt das „Gesollte" aufzudecken siehe Kotzur, in: v. Münch/Kunig, GG Bd. I, 7. Auflage 2021, Art. 20 Rn. 200.
- ↑ Huber, in: HbVerfR, 2021, § 6 Rn. 14: „Keine kompakte Textgrundlage".
- ↑ Huber, in: HbVerfR, 2021, § 6 Rn. 17 mit dem Hinweis, dass „man sich der [...] Verkürzung [...] und der aphoristischen Dimension des Zitats von Art. 20 III GG bewusst" sein müsse.