Allein in Deutschland, Familie in Aleppo Lösung
Autor: Max Putzer
Behandelte Themen: Familiennachzug, Subsidiäre Schutzberechtigung, Minderjährige unbegleitete Geflüchtete, Zeitpunkt der Volljährigkeit, Außergewöhnliche Härte
Zugrundeliegender Sachverhalt: Allein in Deutschland, Familie in Aleppo
Schwierigkeitsgrad: Fortgeschrittene
A. Voraussetzungen für die Erteilung von Visa zum Familiennachzug betreffend X und Y
[Bearbeiten]Fraglich ist zunächst, ob hinsichtlich X und Y die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa zu Zwecken der Familienzusammenführung mit ihrem in Deutschland lebenden Sohn A vorliegen.
I. Familiennachzug gemäß § 6 III i.V.m. § 36a I 2 AufenthG
[Bearbeiten]Die Voraussetzungen für einen Familiennachzug von X und Y könnten sich aus § 6 III i.V.m. § 36a I 2 AufenthG ergeben. Nach § 6 III 1 und 2 AufenthG ist für längerfristige Aufenthalte ein Visum für das Bundesgebiet erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich unter anderem nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften. Gemäß § 36a I 2 AufenthG kann den Eltern einer minderjährigen subsidiär schutzberechtigten Person aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält.
1. Minderjährigkeit der Referenzperson
[Bearbeiten]Der inzwischen volljährige A müsste hiernach (noch) als minderjährig anzusehen sein. Fraglich ist, auf welchen Zeitpunkt für die Bestimmung der Minderjährigkeit abzustellen ist. In Betracht kommen hierfür
- die Stellung des Asylantrags,
- die Schutzgewährung durch Bescheid des BAMF,
- die (Visums-) Antragstellung bei einer Auslandsvertretung durch die nachzuziehenden Familienmitglieder oder
- die behördliche beziehungsweise gerichtliche Entscheidung.
a) Grundsatz: Maßgeblichkeit der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung
[Bearbeiten]Nach allgemeinen Grundsätzen des Prozessrechts ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei Verpflichtungsklagen grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz maßgebend. Fraglich ist, ob sich für die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu Zwecken des Familiennachzugs zu minderjährigen unbegleiteten subsidiär Schutzberechtigten aus dem materiellen Recht etwas hiervon Abweichendes ergibt.
b) Ausnahme? – Auslegung des einschlägigen materiellen Rechts
[Bearbeiten]Der Wortlaut der Vorschrift ("minderjährig") enthält hierfür keine Anhaltspunkte. Aus ihm ergibt sich nicht, auf welchen Zeitpunkt zur Bestimmung der Minderjährigkeit abzustellen ist. Auch Sinn und Zweck des § 36a I 2 AufenthG sowie seine systematische Einbettung in das Aufenthaltsrecht begründen keine Ausnahme von dem oben genannten Grundsatz. Zweck des Elternnachzugs zu minderjährigen unbegleiteten subsidiär Schutzberechtigten ist es, die Ausübung beziehungsweise Inanspruchnahme der elterlichen Sorge, nicht das darüberhinausgehende familiäre Zusammenleben zu ermöglichen. Geschützt ist das Interesse von Minderjährigen an der Wiederherstellung der Familieneinheit mit den Eltern, nicht jedoch ein eigenständiges Interesse von Eltern am Zusammenleben mit ihrem Kind. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass der Gesetzgeber den nachgezogenen Eltern mit Erreichen der Volljährigkeit ihres Kindes grundsätzlich kein eigenständiges Aufenthaltsrecht einräumt. Zwar besagt § 27 IV 4 AufenthG, dass eine Aufenthaltserlaubnis erstmals für mindestens ein Jahr zu erteilen ist. Dies setzt jedoch voraus, dass überhaupt ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht. Zudem fehlt in § 36a AufenthG eine mit § 34 II 1 AufenthG vergleichbare Regelung, die ein eigenständiges, vom Familiennachzug ausdrücklich unabhängiges Aufenthaltsrecht des nachziehenden Kindes nach Erreichen der Volljährigkeit enthält. Die den Eltern eines minderjährigen Kindes zwecks Elternnachzugs erteilte Aufenthaltserlaubnis ist somit akzessorisch mit dem Aufenthaltsrecht des in Deutschland lebenden "stammberechtigten" Familienangehörigen verknüpft. Entsprechend sieht § 36a AufenthG auch nicht die Möglichkeit der Verlängerung eines den Eltern einmal erteilten Aufenthaltstitels vor.
Dem Ergebnis einer solchen Auslegung des Gesetzes könnte jedoch die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 IV GG entgegenstehen. Dafür spricht, dass A keinen Einfluss auf die Dauer seines Asylverfahrens hatte, genauso wenig, wie X und Y die Terminvergabe des Generalkonsulats in Erbil und dessen Bearbeitung ihres Antrags beeinflussen können. Allerdings hätten A, X und Y versuchen können, das Nachzugsbegehren von X und Y mithilfe einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO rechtzeitig vor Erreichen der Volljährigkeit durchzusetzen. Zwar könnte der Umstand, dass im Rahmen des § 123 VwGO in der Regel keine Vorwegnahme der Hauptsache erfolgen soll und es sich bei § 36a AufenthG um eine Ermessensnorm handelt, bei der wenn überhaupt nur ausnahmsweise und bei Vorliegen einer Ermessensreduktion auf Null eine Verpflichtung zur Visumserteilung ausgesprochen werden kann, gegen die Annahme sprechen, ein Verfahren nach § 123 VwGO genüge den Anforderungen des Art. 19 IV GG. Allerdings kann bei drohendem Totalverlust eines Rechtes – der mit Erreichen der Volljährigkeit eintreten könnte – im Einzelfall auch im Rahmen des § 123 VwGO nicht nur eine Verpflichtung zur Neubescheidung, sondern auch zur – vorläufigen – Verpflichtung, das begehrte Visum zu erteilen, erreicht werden, wenn sich allein auf diese Weise der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung sichern lässt.
Oftmals führt bereits die Stellung eines solchen Antrages auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und die Erörterung der Sach- und Rechtslage unter gerichtlicher Beteiligung in diesen Verfahren dazu, dass eine gütliche Einigung herbeigeführt und das beantragte Visum letztendlich doch noch – selbst wenige Tage – vor Erreichen der Volljährigkeit erteilt wird. Allerdings ist Beratenden zu empfehlen, einen solchen Antrag so früh wie möglich zu stellen, damit das Verwaltungsgericht Berlin die Möglichkeit hat, das Vorliegen der Voraussetzungen für die Visaerteilung hinreichend zu prüfen. Hierfür benötigt es den beim Auswärtigen Amt geführten Verwaltungsvorgang. Zudem muss es auch Kontakt mit der örtlich zuständigen Ausländerbehörde aufnehmen, die den Antrag ebenfalls zu prüfen hat. Daher sollte darauf geachtet werden, dass auch die zuständige Ausländerbehörde bereits in der Antragsschrift ausdrücklich genannt wird. Zuletzt muss auch bei Visumerteilung sichergestellt sein, dass den nachziehenden Familienmitgliedern ausreichend Zeit verbleibt, noch vor dem 18. Geburtstag in die Bundesrepublik einzureisen. Diese Voraussetzung kann erhebliche Probleme bereiten, insbesondere wenn die Familie in Krisengebieten ansässig ist oder einzelne Mitglieder krank oder aus anderen Gründen nicht oder nur eingeschränkt transportfähig sind.
Aus § 36a AufenthG ergibt sich im Ergebnis keine Ausnahme von dem Grundsatz, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung eines Verpflichtungsbegehrens die behördliche beziehungsweise gerichtliche Entscheidung ist. Danach bestünde kein Anspruch von X und Y auf Erteilung von Visa zum Zwecke des Familiennachzugs, da A bereits volljährig (geworden) ist.
c) Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht
[Bearbeiten]Allerdings könnte sich aus höherrangigem Recht ergeben, dass hiervon abweichend auf einen anderen Zeitpunkt abzustellen ist.
aa) Unionsrecht
[Bearbeiten]Fraglich ist insbesondere, ob nicht Unionsrecht zwingend vorgibt, dass für den Zeitpunkt der Volljährigkeit etwa auf die Stellung des Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes oder den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zur Familienzusammenführung abzustellen ist.
Hierfür spricht, dass nach Art. 10 III lit. a Familienzusammenführungs-RL die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, den Nachzug der Eltern zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu gestatten. Auch wurde mit der Qualifikations-RL auf Unionsebene ein einheitlicher Status für Flüchtlinge und für subsidiär Schutzberechtigte eingeführt und der Inhalt des jeweils zu gewährenden Schutzes harmonisiert. Allerdings spricht bereits der Wortlaut von Art. 10 III lit. a Familienzusammenführungs-RL nur von "Flüchtlingen", nicht jedoch von subsidiär Schutzberechtigten. Entsprechend definiert Art. 2 lit. b Familienzusammenführungs-RL Flüchtlinge nur als Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, denen die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention zuerkannt wurde. Art. 9 I Familienzusammenführungs-RL stellt klar, dass deren Art. 9–12 auf die Familienzusammenführung von Flüchtlingen Anwendung findet. Entsprechend regelt deren Art. 3 II lit. c, dass die Richtlinie unter anderem dann nicht zur Anwendung kommt, wenn dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde. Dem steht auch Art. 13 II Familienzusammenführungs-RL nicht entgegen, wonach der betreffende Mitgliedstaat den Familienangehörigen einen ersten Aufenthaltstitel mit mindestens einjähriger Gültigkeitsdauer erteilt. Zwar regelt Kapitel VI der Richtlinie allgemein Einreise und Aufenthalt von Familienangehörigen. Allerdings setzt die Vorschrift – wie bereits § 27 IV AufenthG – voraus, dass einem Antrag auf Familienzusammenführung bereits stattgegeben wurde. Die Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels stehen hier aber gerade in Rede.
Etwas anderes könnte sich jedoch aus Art. 20 II i.V.m. Art. 20 III und V Qualifikations-RL ergeben. Hiernach haben die Mitgliedstaaten sowohl für Flüchtlinge als auch für subsidiär Schutzberechtigte die spezielle Situation von schutzbedürftigen Minderjährigen und das Wohl des Kindes vorrangig zu beachten. Auch wenn die Vorschriften dieses Kapitels auf beide Formen des internationalen Schutzes anwendbar sind, lässt sich ein Anspruch auf Familienzusammenführung bereits dem Wortlaut der Bestimmung nach nicht ableiten. Ein solches Recht ergibt sich auch nicht aus Art. 23 I Qualifikations-RL, wonach die Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung des Familienverbandes Sorge zu tragen haben. Auch diese Vorschrift setzt voraus, dass die Voraussetzungen für den Familiennachzug vorliegen und sich die nachziehenden Personen bereits beziehungsweise mittlerweile in der Bundesrepublik aufhalten. Entsprechend definiert Art. 2 lit. j Qualifikations-RL Familienangehörige als Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten. Auch wenn Organe der Europäischen Union eine Fortentwicklung des gemeinsamen europäischen Asylsystems und eine weitgehende Angleichung der beiden Status des internationalen Schutzes anstreben, hat dies bislang keinen Niederschlag im Sekundärrecht, etwa in Form von durch die Mitgliedstaaten umzusetzenden Richtlinien gefunden.
Hiernach gibt das Unionsrecht nicht zwingend vor, dass für die Frage der Volljährigkeit auf einen anderen Zeitpunkt als den der behördlichen beziehungsweise gerichtlichen Entscheidung abzustellen wäre.
bb) Völkerrecht
[Bearbeiten]Allerdings könnte sich eine entsprechende Ausnahme aus in Deutschland anwendbaren völkerrechtlichen Bestimmungen, namentlich der UN-Kinderrechtskonvention ergeben. So gibt etwa deren Art. 10 I 1 vor, dass von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise in einen Vertragsstaat oder Ausreise aus einem Vertragsstaat von den Vertragsstaaten „wohlwollend, human und beschleunigt“ bearbeitet werden sollen. Die Vorschrift schweigt jedoch zu dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Annahme eines Nachzugs zu einem Kind. Unabhängig hiervon lässt sich ihrem Wortlaut ebenfalls kein Anspruch auf Familienzusammenführung entnehmen.
cc) Verfassungsrecht
[Bearbeiten]Nichts anderes gilt für das Grundrecht auf Familie von A, X und Y nach Art. 6 I GG. Auch diese Vorschrift gewährt ihrem Wortlaut nach ein solches Recht nicht. Zwar schützt Art. 6 I GG auch die Beziehung zwischen Eltern und ihren bereits volljährig gewordenen Kindern. Dem Gesetzgeber ist es aber von Verfassung wegen nicht verwehrt, familiäre Bindungen außerhalb der (Kern-)Familie – wie hier – typisierend als weniger schützenswert zu erachten. Zu keinem anderen Ergebnis kommt eine Auslegung von Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens), der ebenso wenig einen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt vermittelt. Im Einzelfall und bei Vorliegen einer (außergewöhnlichen) Härte kann im Übrigen trotz des Eintritts der Volljährigkeit über § 36 II AufenthG sowie (§ 36a I 4 AufenthG i.V.m.) §§ 22, 23 AufenthG der Nachzug ermöglicht werden; damit wird den verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben genügt.
Dies berücksichtigt, ist ein von den allgemeinen Grundsätzen abweichendes Verständnis des Zeitpunktes, zu dem die Minderjährigkeit vorliegen muss, auch im Hinblick auf die Verbürgungen von Art. 6 I GG und Art. 8 EMRK nicht geboten.
Zuletzt könnte in dem Ausschluss des Elternnachzugs zum volljährig gewordenen unbegleiteten subsidiär Schutzberechtigten eine nach Art. 3 I GG nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung zu erblicken sein. Die Vorschrift gebietet es, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Daraus folgt das grundsätzliche Verbot, wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund vorliegt. Eine Privilegierung des Familiennachzugs zu Minderjährigen, denen internationaler Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt wurde, rechtfertigt sich aus den unterschiedlichen, an die Mitgliedstaaten gerichteten Vorgaben des europäischen Asylsystems. Dem Status eines subsidiär Schutzberechtigten kommt – anders als dem Status eines Konventionsflüchtlings – von seiner Konzeption her eine gewisse Vorläufigkeit zu, da dessen Aufenthalt im Bundesgebiet prinzipiell vom (Fort-)Bestand der Notsituation im Herkunftsstaat abhängig ist. Der nationale Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich nicht dazu verpflichtet, hierüber hinausgehend subsidiär Schutzberechtigten (Minderjährigen) die gleichen Rechte einzuräumen wie Personen, denen nach der Genfer Konvention die Rechtsstellung von Flüchtlingen zusteht.
2. Zwischenergebnis
[Bearbeiten]Nach alldem liegen in Bezug auf X und Y im Ergebnis nicht die Voraussetzungen für einen Familiennachzug nach § 36a I 2 AufenthG vor.
II. Familiennachzug gemäß § 6 III i.V.m. § 36 II AufenthG
[Bearbeiten]Fraglich ist, ob die Voraussetzungen für eine Erteilung von Visa auf der Grundlage von § 36 II 1 AufenthG gegeben sind. Danach kann sonstigen Familienangehörigen einer ausländischen Person eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Dagegen, dass X und Y „sonstige Familienangehörige“ im Sinne der Vorschrift sind, könnte sprechen, dass diese als Eltern des A bereits grundsätzlich in den Anwendungsbereich des § 36a I 2 AufenthG fallen. Allerdings fehlt angesichts des Umstandes, dass mit dem Eintritt der Volljährigkeit des A dieser aus dem Anwendungsbereich des § 36a AufenthG herausfällt, zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt eine Norm im 6. Abschnitt des AufenthG, die den Nachzug der Eltern zu volljährigen subsidiär schutzberechtigten Kindern (abschließend) regelt, sodass im vorliegenden Fall X und Y als „sonstige Familienangehörige“ anzusehen sind und auf § 36 II AufenthG zurückgegriffen werden kann.
Die Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Härte sind gegeben, wenn im Ausland lebende Familienangehörige dort kein eigenständiges Leben mehr führen können und die von ihnen benötigte, tatsächlich und regelmäßig zu erbringende wesentliche familiäre Lebenshilfe in zumutbarer Weise nur in der Bundesrepublik Deutschland durch die Familie erbracht werden kann. Eine solche Härte kann auch dann vorliegen, wenn Unbegleitete, zu denen der Familiennachzug erfolgen soll, ohne die Unterstützung ihrer Familie ein eigenständiges Leben nicht führen können und die familiäre Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet gelebt werden kann. Zwar vermissen sich A und seine in Syrien verbliebene Familie wegen der jahrelangen Trennung stark. Auch geht es dem A gesundheitlich nicht gut, sodass er für einzelne Aspekte seiner Lebensführung Unterstützung von Dritten, hier von einer Sozialarbeiterin benötigt. Für die Annahme, dass dem A ein Leben ohne seine Eltern schlichtweg nicht möglich ist, genügt dies aber nicht. Auch X und Y sind nach ihrer eigenen Schilderung nicht zwingend auf die Hilfe durch A angewiesen. Sie können, wenn auch nur knapp, ein Existenzminimum erwirtschaften; schwer erkrankt ist niemand von ihnen. Eine außergewöhnliche Härte ist deshalb im Ergebnis nicht gegeben. Die Voraussetzungen für einen Familiennachzug nach § 36 II 1 AufenthG liegen hinsichtlich X und Y nicht vor.
III. Familiennachzug gemäß § 6 III i.V.m. § 22 S. 1 AufenthG
[Bearbeiten]Fraglich ist schließlich, ob ein Anspruch auf Erteilung eines Visums beziehungsweise jedenfalls Neubescheidung des Visumsantrages aus § 6 III i.V.m. § 22 S. 1 AufenthG folgt. Danach kann für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. § 36a I 4 AufenthG, demzufolge unter anderem § 22 AufenthG unberührt bleibt, erstreckt die Aufnahme aus dem Ausland im Einzelfall auch auf Angehörige der Kernfamilie subsidiär Schutzberechtigter. Dies ist etwa der Fall, wenn sich die Aufnahme des Familienangehörigen aufgrund eines Gebotes der Menschlichkeit aufdrängt und eine Situation vorliegt, die ein Eingreifen zwingend erforderlich macht, etwa bei Bestehen einer erheblichen und unausweichlichen Gefahr für Leib und Leben des Familienangehörigen im Ausland. Dringende humanitäre Gründe im Sinne des § 22 S. 1 Alt. 2 AufenthG liegen vor, wenn sich jemand aufgrund besonderer Umstände in einer auf seine Person bezogenen Sondersituation befindet, sich diese Sondersituation deutlich von der Lage vergleichbarer Personen unterscheidet, wenn Betroffene spezifisch auf die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland angewiesen sind oder in ihrer Person eine besondere Beziehung zur Bundesrepublik besteht und die Umstände so gestaltet sind, dass eine baldige Ausreise und Aufnahme unerlässlich sind. Derartige Gründe sind nicht geltend gemacht. Besondere Umstände des Einzelfalls, die eine Fortdauer der räumlichen Trennung als nicht mehr mit Art. 6 I, II 1 GG vereinbar erscheinen lassen, liegen nicht vor. Insoweit kann auf das soeben unter II. Ausgeführte verwiesen werden.
B. Voraussetzungen für die Erteilung von Visa zum Familiennachzug hinsichtlich B
[Bearbeiten]Fraglich ist des Weiteren, ob B – die Schwester des A – in ihrer Person die Voraussetzungen für die Erteilung eines Visums zum Zwecke des Nachzugs zu ihrem in Deutschland lebenden Bruder erfüllt.
Ein möglicher Familiennachzug kann sich nicht auf § 36a I AufenthG stützen. Danach kann allein Ehegatten oder dem minderjährigen Kind von subsidiär Schutzberechtigten oder den Eltern von unbegleiteten minderjährigen subsidiär Schutzberechtigten ein Visum zum Familiennachzug erteilt werden.
Allerdings könnte § 32 I AufenthG einen Anspruch vermitteln. Danach ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil einen der nachfolgend genannten Aufenthaltstitel besitzt. Jedoch sind die Eltern der B, X und Y, nicht im Besitz eines der aufgezählten Titel. Dies gilt selbst dann, wenn man ein nationales Visum als „Aufenthaltserlaubnis“ für den Kindernachzug grundsätzlich ausreichen lässt, da X und Y, wie oben festgestellt, keinen Anspruch auf Erteilung von Visa haben.
Daneben besteht auch kein Anspruch auf Erteilung eines Visums nach § 36 II 1 AufenthG. So lebt die B in Syrien gemeinsam mit ihren Eltern. Dass sie daneben auf Hilfe durch ihren Bruder angewiesen oder dies anders herum der Fall ist, ist nicht zu erkennen. Eine außergewöhnliche Härte liegt daher weder in der Person der B noch in A vor.
C. Ergebnis
[Bearbeiten]Im Ergebnis erfüllen weder X und Y noch B die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa zum Familiennachzug zu ihrem in der Bundesrepublik lebenden Bruder beziehungsweise Sohn.
Weiterführende Literatur
[Bearbeiten]- BVerwG, Urt. v. 8.12.2022, Az. 1 C 56.20
- OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.9.2020, Az.: OVG 3 B 38.19
- VG Berlin, Urteil vom 21. Januar 2020 - VG 38 K 429.19 V
- zu § 22 S. 1 AufenthG: BVerwG, Urt. v. 17.12.2020, Az.: BVerwG 1 C 30.19
- Krause, Asylmagazin 2020, 198 ff.
- Kupffer, JAmt 2019, 547 ff.
- Thym, NVwZ 2018, 1340 ff.
- Kluth, ZAR 2018, 375 ff.
Fußnoten
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