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Von einem EU-Mitgliedstaat in den nächsten Lösung

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Autorin: Camilla Schloss

Behandelte Themen: Zweitantrag

Zugrundeliegender Sachverhalt: Von einem EU-Mitgliedstaat in den nächsten

Schwierigkeitsgrad: Fortgeschritten

A. Fallfrage 1

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A kann sich mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht wehren. Richtige Klageart gegen die Nichteinleitung eines weiteren Verfahrens ist die Anfechtungsklage nach § 42 I Alt. 1 VwGO. Eine Verpflichtungsklage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wäre unstatthaft. Es gibt kein „Durchentscheiden“ des Gerichts in der Sache selbst. Ist zu Unrecht eine Unzulässigkeitsentscheidung ergangen, ist auf die Anfechtungsklage hin das Verfahren beim BAMF als neues Asylverfahren fortzusetzen.[1] Die Klagefrist beträgt eine Woche (§§ 74 I Hs. 2, 36 III 1 AsylG). Eilrechtsschutz (§ 80 V AsylG) ist geboten, da die Klage keine aufschiebende Wirkung hat (§ 80 V 1 Var. 1, II 1 Nr. 3 VwGO, § 75 I 1 AsylG). Die Antragsfrist beträgt ebenfalls eine Woche (§§ 71a IV, 36 III 1 AsylG).

B. Fallfrage 2

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I. Voraussetzungen der §§ 29 I Nr. 5, 71a AsylG

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Gemäß § 29 I Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unter anderem dann unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Ein Zweitantrag liegt nach § 71a I AsylG vor, wenn der Antragsteller nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt. Ein weiteres Asylverfahren ist nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 I bis III des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; die Prüfung obliegt dem BAMF.

II. Anwendung auf den Fall

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1. Fallfrage 2a: Vortrag, dass das Asylverfahren in S nicht abgeschlossen sei

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A dürfte ihren Asylantrag im Bundesgebiet nicht nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat gestellt haben.

Ein erfolgloser Abschluss im Sinne von § 71a I AsylG setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags (beziehungsweise dieser gleichgestellten Verhaltensweisen) endgültig eingestellt worden ist.[2]

Umstritten ist, zu welchem Zeitpunkt das Asylverfahren in dem Drittstaat abgeschlossen sein muss, um den in Deutschland gestellten Asylantrag als Zweitantrag einzustufen.[3] Insoweit kommen in erster Linie der Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland oder der Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs in Betracht.

Der Wortlaut von § 71a I Hs. 1 AsylG („Stellt der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (…) im Bundesgebiet einen Asylantrag“) spricht dafür, auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland abzustellen.

Es wird jedoch unter Heranziehung systematischer Gründe auch vertreten, dass auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs abzustellen sei.[4] Der erneute Asylantrag falle bis zu diesem Zeitpunkt unter das Handlungsregime der Dublin-III-VO. Solange aber ein anderer Staat insbesondere nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, sei der Asylantrag nicht nach § 29 I Nr. 5 AsylG, sondern vorrangig nach § 29 I Nr. 1 AsylG als unzulässig abzulehnen. Ein solches Normverständnis diene ferner der gesetzgeberischen Intention, Mehrfachprüfungen zu verhindern und Asylverfahren zu beschleunigen.

Diese Auffassung dürfte nicht überzeugen. Sie widerspricht der Legaldefinition des Zweitantrags. Für die Frage, ob ein Zweitantrag vorliegt, kommt es auf den Zuständigkeitsübergang nicht an. § 29 I Nr. 1 AsylG verhält sich dazu auch nicht. Die Vorschrift findet auf die Zweitanträge Anwendung, für die die Bundesrepublik Deutschland bisher nicht zuständig geworden ist. Hätte der Gesetzgeber regeln wollen, dass Voraussetzung für einen Zweitantrag ist, dass das in einem sicheren Drittstaat betriebene Asylverfahren bis zum Zuständigkeitsübergang erfolglos abgeschlossen ist, hätte er dies im Gesetzestext oder jedenfalls in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck bringen können. Dies hat er nicht getan.[5]

Maßgeblicher Zeitpunkt für den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat dürfte die Antragstellung in Deutschland und nicht der eines etwaigen späteren Zuständigkeitsübergangs auf Deutschland sein.[6]

Das Asylverfahren von A in S war zum Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags in Deutschland im November 2020 noch nicht unanfechtbar abgeschlossen. Es endete nach Angaben der Behörden von S erst im Dezember 2020.

2. Fallfrage 2b: Keine Antwort der Behörden von S

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Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags (beziehungsweise dieser gleichgestellten Verhaltensweisen) endgültig eingestellt worden ist. Maßgeblich für die entsprechende Beurteilung ist die Rechtslage in dem betreffenden Mitgliedstaat.[7] Diese Voraussetzungen müssen feststehen – bloße Mutmaßungen genügen nicht. Deren Darlegung obliegt dem BAMF. Ist dem BAMF der aktuelle Stand des Verfahrens in dem anderen Mitgliedstaat nicht bekannt, muss es diesbezüglich zunächst weitere Ermittlungen anstellen, insbesondere im Rahmen des für den Informationsaustausch vorgesehenen soggenannten Info-Requests.[8]

Im Falle der A dürfte zum jetzigen Zeitpunkt der Asylantrag nicht als unzulässig ablehnt werden, da Informationen zum Stand des Verfahrens in S fehlen.

3. Fallfrage 2c: Vortrag, dass A 2020 zum Christentum konvertiert sei

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Handelt es sich bei dem Antrag von A um einen Zweitantrag, so hat dies zur Folge, dass ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen ist, wenn insbesondere die Voraussetzungen des § 51 I-III VwVfG vorliegen; die Prüfung obliegt dem BAMF.

Insoweit dürfte derselbe Prüfungsmaßstab gelten wie im Falle des Folgeantrags. Die Zweitantragstellerin wird hinsichtlich des Wiederaufgreifens im Ergebnis so behandelt wie eine Folgeantragstellerin nach § 71 AsylG. Zur weiteren Prüfung wird auf den Fall 26) Neue Elemente, neue Erkenntnisse verwiesen.


Dieser Text wurde von der Initiative für eine offene Rechtswissenschaft OpenRewi erstellt. Wir setzen uns dafür ein, Open Educational Ressources für alle zugänglich zu machen. Folge uns bei Bluesky oder X oder trage dich auf unseren Newsletter ein.

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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§ 1 Nationales Asylverfahrensrecht

§ 2 Asylverfahrensrecht im europäischen Kontext

§ 3 Materielles Asylrecht

§ 4 Entscheidungsmöglichkeiten des BAMF und der Asylprozess

§ 5 Rechte und Pflichten nach Schutzzuerkennung

§ 6 Rechtsstellung nach Antragsablehnung und Aufenthaltssicherung

§ 7 Sozialleistungen im Flüchtlingskontext

§ 8 Nicht-humanitäres Aufenthaltsrecht

Fußnoten

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  1. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016, Az.: 1 C 4.16, Rn. 16.
  2. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016, Az.: 1 C 4.16, Rn. 29.
  3. Offen gelassen: BVerwG, Urt. v. 14.12.2016, Az.: 1 C 4.16, Rn. 40.
  4. VG Oldenburg, Beschl. v. 1.3.2021, Az.: 15 B 1052/21; VG München, Beschl. v. 1.4.2020, Az.: M 13 S 19.33925.
  5. BT-Drs. 12/4450, S. 8, 27.
  6. VG Berlin, Beschl. v. 10.9. 2021, Az.: 33 L 204/21 A.
  7. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016, Az.: 1 C 4.16, Rn. 30 ff.
  8. vgl. für weitere (gerichtliche) Aufklärungsmaßnahmen: BVerwG, Urt. v. 21.11.2017, Az.: 1 C 39.16, Rn. 26 ff.