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Über ganz Europa verstreut Lösung

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Autorin: Britta Schiebel

Behandelte Themen: Dublin-III-Verordnung, Familienzusammenführung, Frist zur Stellung Übernahmeersuchen, humanitäre Klausel

Zugrundeliegender Sachverhalt: Über ganz Europa verstreut

Schwierigkeitsgrad: Fortgeschrittene

A. Grundfall

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Familie Khaled möchte wissen, ob M und T mit V und S in Deutschland zusammengeführt werden können. Da Deutschland das griechische Aufnahmeersuchen abgelehnt hat, hat die Familie einen Eilrechtsschutzantrag vor Gericht gestellt. Die Betroffenen fragen auch, welches Gericht zuständig ist.

Der gerichtliche Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO ist darauf gerichtet, die Bundesrepublik Deutschland als Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sich unter Aufhebung der Ablehnung des Übernahmegesuchs der griechischen Dublin-Einheit bezüglich M und T für zuständig zu erklären. Er ist zulässig und begründet.

I. Örtlich zuständiges Gericht

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Das VG Berlin ist das örtlich zuständige Gericht.

Auch wenn die Mitwirkung des BAMF im Dublin-Verfahren nicht im AsylG geregelt ist, handelt es sich bei diesbezüglichen Streitigkeiten um solche nach dem AsylG im Sinne von § 52 Nr. 2 S. 3 VwGO.[1]

Für die Anträge von M und T ist zwar im Ausgangspunkt das VG Ansbach zuständig. Denn sie haben weder ihren Aufenthalt nach den Vorschriften des AsylG an einem bestimmten Ort zu nehmen noch verfügen sie über einen Wohnsitz im Bundesgebiet (§ 52 Nr. 2 S. 3 Hs. 1, Nr. 3 S. 2 VwGO). Deshalb kommt es nach der Auffangregelung des § 52 Nr. 3 S. 3, Nr. 5 VwGO auf den Bezirk an, in dem die Antragsgegnerin ihren Sitz hat, hier also das BAMF als die für Deutschland handelnde Behörde mit Sitz in Nürnberg.[2]

Allerdings ist das VG Berlin für die Anträge von V und S zuständig. Erwägungen der Prozessökonomie gebieten einen einheitlichen Gerichtsstand für alle Familienangehörigen am Wohnsitz der bereits in Deutschland aufhältigen Familienmitglieder.[3] Das BAMF hat dort eine Außenstelle, die bereits mit deren Asylverfahren betraut ist. Sollte eine Familienzusammenführung erfolgen und M und T ihren Wohnsitz in Berlin begründen, wäre das dortige VG auch für alle weiteren asylrechtlichen Streitigkeiten gemäß § 52 Nr. 2 S. 3 VwGO örtlich zuständig. Angesichts der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung und unter dem Eindruck der Eilbedürftigkeit erscheint eine Anrufung des BVerwG im Rahmen des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens gemäß § 53 VwGO entbehrlich.[4]

II. Übrige Zulässigkeitsvoraussetzungen

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Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere sind alle Familienmitglieder in entsprechender Anwendung des § 42 II VwGO antragsbefugt. Es erscheint möglich, dass die dem Kindeswohl und dem Schutz der Familie dienenden Vorschriften der Art. 9, 10, 20 III 1 Dublin III-VO[5] sowohl den im zuständigen Mitgliedstaat ansässigen V und S als auch den eine Überstellung begehrenden M und T ein subjektives Recht auf die Einhaltung der besagten Bestimmungen zu ihren Gunsten vermitteln.[6]

III. Begründetheit

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Den Antragstellenden wird es voraussichtlich gelingen, einen nach § 123 I VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch sowie die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen, wobei hier ausnahmsweise die Vorwegnahme der Hauptsache geboten ist.

1. Anordnungsanspruch

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a) Anspruch nach Art. 9 Dublin III-VO
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Die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 9 Dublin III-VO liegen in Bezug auf S vor. Haben danach Antragstellende ein Familienmitglied, das in seiner Eigenschaft als schutzberechtigte Person in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Schutzantrages zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.

aa) Familienangehörige
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S ist als unverheirateter minderjähriger Sohn der M ihr Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 lit. g Dublin III-VO.

Die Geschwisterbeziehung zwischen S und T erfüllt als solche die Voraussetzungen des Art. 2 lit. g Dublin III-VO nicht. Die Zuständigkeit Deutschlands für die Durchführung des Asylverfahrens der T begründet sich allerdings aus dem Schutz und der Wahrung der Familieneinheit und einer insoweit über Art. 20 III 1 Dublin III-VO vermittelten verfahrensrechtlichen Akzessorietät zum Verfahren ihrer Mutter.[7]

Weiterführendes Wissen

Im Rahmen der Art. 9 und 10 Dublin III-VO gilt der enge Familienbegriff im Sinne des Art. 2 lit. g. Die Familie muss, sofern nicht wie in Art. 9 Dublin III-VO explizit etwas anderes bestimmt ist, bereits im Heimatstaat bestanden haben. Die sogenannte Kernfamilie erfasst etwa keine Geschwister. Diese sind jedoch für unbegleitete Minderjährige ausdrücklich neben Familienangehörigen in Art. 8 I Dublin III-VO genannt. Nimmt die Norm nicht auf "Familienangehörige", sondern auf "Verwandte" Bezug, wie etwa Art. 8 II Dublin III-VO, gilt ein weiteres Verständnis, das gemäß Art. 2 lit. h Dublin-III-VO etwa auch Onkel, Tanten oder Großeltern erfasst.

Die Familienzugehörigkeit wurde durch Vorlage des Registerauszuges glaubhaft gemacht.

Weiterführendes Wissen

Taugliche Beweismittel zum Nachweis der Familienzugehörigkeit können etwa Geburtsurkunden, Familienbücher, Registerauszüge oder – als letztes Mittel – DNA-Tests sein und sind im Anhang II der Dublin-Durchführungs-VO aufgeführt.[8] Die Anforderungen an Beweise sollten gemäß Art. 22 IV Dublin III-VO nicht das erforderliche Maß übersteigen. Wird ein Beweismittel im Sinne des Anhangs II der Dublin-Durchführungs-VO vorgelegt, ist eine Widerlegung nur durch Gegenbeweis möglich. Zudem ergibt sich aus Art. 22 I, III lit. b, V Dublin III-VO, dass neben Beweisen auch Indizien als Nachweis gelten und sich die Zuständigkeit mangels Vorliegens von Beweisen auch allein aufgrund von Indizien ergeben kann. Die erforderliche Identitätsfeststellung der Referenzperson erfolgt im ersuchten Staat im Asylverfahren, diejenige der antragstellenden Person ist Aufgabe des ersuchenden Staates.

bb) Schutzberechtigtes Familienmitglied
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Dem S wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Er ist mithin Begünstigter internationalen Schutzes im Sinne des Art. 2 lit. f Dublin III-VO.

Weiterführendes Wissen

Für die Voraussetzung der Schutzberechtigung erforderlich ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes im Sinne der Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU[9], auf die Art. 2 lit. f der Dublin III-VO verweist. Die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG oder eine Duldung ist nicht ausreichend. Da der Asylantrag des V zum gemäß Art. 7 II Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der Asylantragstellung der M und T in Griechenland im Jahr 2019 noch nicht beschieden worden war, scheidet die Anwendung des Art. 9 Dublin III-VO bezüglich seiner Person aus. Für die Frage, ob dem Familienmitglied internationaler Schutz zuerkannt worden ist, kommt es also maßgeblich auf den Zeitpunkt der (ersten) Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat (hier in Griechenland) an. Gemäß Art. 7 II Dublin III-VO gilt dies für alle für die Zuständigkeitsbestimmung maßgeblichen Kriterien (z.B. auch die Minderjährigkeit einer antragstellenden Person). Danach werden die Umstände "eingefroren", wie sie zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung vorlagen (sogenannte "Versteinerungsklausel").

cc) Schriftlicher Wunsch
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Die beidseitig notwendigen schriftlichen Zustimmungserklärungen zur Familienzusammenführung liegen vor. Dabei ist davon auszugehen, dass M in ihrer Erklärung auf V und S Bezug nimmt. Daher muss die (streitige) Frage nicht entschieden werden, ob es ausreicht, wenn der Erklärung generell der Wunsch zu entnehmen ist, mit Familienangehörigen in Deutschland zusammengeführt zu werden, ohne dass eine explizite Bezugnahme auf die konkreten Familienangehörigen erfolgt. Auch konnte sich V als gesetzlicher Vertreter des S erkennbar in dessen Willen äußern.

b) Anspruch nach Art. 10 Dublin III-VO
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Bezogen auf V liegen die Voraussetzungen des Art. 10 Dublin III-VO vor. Haben danach Antragstellende in einem Mitgliedstaat ein Familienmitglied, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Schutzantrags zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. V ist sowohl für M als auch für T als Ehegatte und Vater Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 g) Dublin III-VO. Zu dem nach Art. 7 II Dublin III-VO relevanten Zeitpunkt (s.o. weiterführendes Wissen) hatte er in Deutschland einen Asylantrag gestellt, über den noch nicht entschieden worden war.

Weiterführendes Wissen

Nach in der Rechtsprechung wohl überwiegender Auffassung liegt eine „Erstentscheidung in der Sache“ wie Art. 10 Dublin III-VO sie vorsieht, erst bei einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz vor.[10] Dies bedeutet, dass diese Norm auch dann noch Anwendung findet, also eine Familienzusammenführung nach dieser Norm möglich ist, wenn nach einer Ablehnung durch das BAMF ein Klageverfahren zum Zeitpunkt der ersten Asylantragstellung der Angehörigen (s.o. weiterführendes Wissen) anhängig war.

c) Kein Zuständigkeitsübergang wegen Fristablauf
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Die sich aus dem Vorstehenden ergebende Zuständigkeit Deutschlands für die Entscheidung über die Anträge der M und der T ist nicht aufgrund des Ablaufs der dreimonatigen Ersuchensfrist gemäß Art. 21 I UAbs. 3 Dublin III-VO auf Griechenland übergegangen. Danach wird der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Asylantrag gestellt wurde, wenn nicht innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung ein Übernahmeersuchen im Sinne des Art. 21 I Dublin-III-VO gestellt wird.[11] Entscheidend ist dabei, wann die Frist zu laufen beginnt, also wann ein Asylantrag in Griechenland, dem ersuchenden Mitgliedstaat, gestellt wurde. Hier haben M und T glaubhaft gemacht, dass sie ihre Asylanträge nicht schon am 1.5.2019, sondern erst am 1.10.2019 gestellt haben und daher das Übernahmegesuch vom 1.1.2020 noch rechtzeitig gestellt wurde. Von einer Antragstellung im Sinne des Art. 20 II der Dublin III-VO ist auszugehen, wenn der zuständigen Behörde ein behördliches Schriftstück zugegangen ist, das ein Ersuchen um internationalen Schutz bescheinigt oder jedenfalls die wichtigsten in einem solchen Schriftstück enthaltenen Informationen.[12] Die bloße Erklärung von M und T vom 1.5.2019, Asylanträge stellen zu wollen, erfüllt diese Voraussetzungen in dem vorliegenden Fall nicht.

Zu bedenken ist zwar, dass die formalen Anforderungen für die Annahme eines fristauslösenden Antrags durch die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Mengesteab abgesenkt wurden. So reicht es, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates wirksam einleiten zu können, aus, dass die zuständige Behörde des Mitgliedstaats zuverlässig darüber informiert worden ist, dass eine Person ein Asylgesuch geäußert hat. Demnach ist ein Asylgesuch in den meisten Fällen als fristauslösendes Ereignis anzusehen. Voraussetzung ist jedoch nach wie vor, dass ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt und dieser bei einer Behörde auf einem Formblatt schriftlich festgehalten wurde.[13] Ein solcher wurde nach den Angaben der griechischen Dublin-Einheit erst am 1.10.2019 gestellt. Dafür, dass ein Formblatt mit dem schriftlichen Wunsch der Antragstellenden, Asyl zu beantragen, schon vorher bei einer Behörde vorlag, bestehen keinerlei Anhaltspunkte.

Lediglich aufgrund einer vorherigen Einreise kann zudem nicht darauf geschlossen werden, dass die nach der zitierten EuGH-Rechtsprechung erforderlichen Informationen an die zuständige griechische Behörde – die Asylbehörde – weitergeleitet wurden. Dabei ist anzumerken, dass die bloße Absichtserklärung gegenüber allen griechischen Behörden – wie auch dem Grenzschutz oder der Polizei – erklärt werden kann und somit schon die zuständige Behörde keine Kenntnis dieser Absicht erlangt. Eine solche Einreise begründet allenfalls eine Zuständigkeit nach Art. 13 Dublin III-VO, die jedoch hinter eine Zuständigkeit im Rahmen der Familienzusammenführung zurücktritt, Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO.

Die griechischen Behörden bestreiten auch dezidiert, dass bereits zu diesem Zeitpunkt ein formaler Asylantrag gestellt wurde. Dies ist im Sinne des europäischen Vertrauensgrundsatzes bereits als Nachweis anzusehen. Dabei ist anzumerken, dass die bloße Absichtserklärung gegenüber allen griechischen Behörden – wie auch dem Grenzschutz oder der Polizei – erklärt werden kann und somit schon die zuständige Behörde keine Kenntnis dieser Absicht erlangt. Zudem dokumentiert der EURODAC-Treffer der Kategorie 2 vom 1.5.2019 lediglich die illegale Einreise.[14] Der EURODAC-Treffer der Kategorie 1 vom 1.10.2019 erbringt hingegen den Beweis der Asylantragstellung im Sinne des Art. 22 III lit. a Dublin III-VO, wobei dem BAMF ein Gegenbeweis nicht gelungen ist.

Weiterführendes Wissen

Auf die Streitfrage, ob ein etwaiger Fristablauf im Bereich der Familienzusammenführung beachtlich ist, kommt es daher hier nicht an. Hierzu werden im Wesentlichen folgende Auffassungen vertreten.Dies betrifft sowohl die Ersuchensfrist als auch die Überstellungsfrist (vgl. Art. 29 II Dublin III-VO).[15]

1) Fristablauf unbeachtlich: Der vorrangige Schutz der Familieneinheit und des Kindeswohls bei der Familienzusammenführung lasse das grundsätzlich im (Wieder-)Aufnahmeverfahren anwendbare strenge Fristenregime der Dublin III-VO zurücktreten. Der Zuständigkeitsübergang aufgrund Fristablaufs solle grundsätzlich auch die Antragstellenden schützen und im Sinne des Beschleunigungsgrundsatzes schnell Klarheit über den zuständigen Mitgliedstaat schaffen. Im Rahmen der Familienzusammenführung würden diese Interessen jedoch faktisch umgekehrt: Das vorrangige Interesse von Familienangehörigen bestehe auch nach Ablauf der Frist noch in der Zusammenführung.[16] Ihr Menschenrecht auf Familieneinheit könne ihnen nicht aufgrund der Fristversäumnis durch eine staatliche Behörde entzogen werden.

2) Fristen beachtlich aber Aufnahme aus humanitären Gründen und Ermessensreduzierung: Die Fristen seien auch im Rahmen der Familienzusammenführung aus Gründen der Rechtssicherheit einzuhalten. Allerdings sei bei Fristversäumnis ein Rückgriff auf die Ermessensklausel des Art. 17 II Dublin III-VO (Aufnahme aus humanitären, insbesondere familiären Gründen) möglich und es sei regelmäßig von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen, insbesondere wenn die übrigen Voraussetzungen der Art. 8 ff. Dublin III-VO vorlägen und die Fristversäumnis allein auf ein Verschulden der am Verfahren beteiligten Mitgliedstaaten zurückzuführen sei.

3) Fristen beachtlich und Aufnahme nur aus humanitären Gründen, keine Ermessensreduzierung: Bei einem Fristversäumnis würden die bindenden Zuständigkeitsregelungen des 3. Kapitels der Dublin III-Verordnung im Sinne der Rechtssicherheit ausscheiden (also auch zur Familieneinheit). Es komme lediglich eine Zuständigkeit nach der humanitären Ermessensklausel des Art. 17 II Dublin III-VO in Betracht, wobei nicht von einem intendierten Ermessen auszugehen sei, sondern die jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu betrachten seien. Diese führten nach Fristablauf nur zu einer Pflicht, das Ersuchen bzw. die zu überstellenden Personen anzunehmen, wenn über den „Normalfall“ hinaus humanitäre Gründe vorlägen, die jede andere Entscheidung als ungerechtfertigt erscheinen ließen.

d) Subjektive Rechte
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Mit der wohl überwiegenden Auffassung in der Rechtsprechung war bereits bisher davon auszugehen, dass die Antragstellenden sich auf die fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien der Dublin-III-VO berufen können – und somit auch auf die familieneinheitsbezogenen Kriterien, da nach der Rechtsprechung des EuGH selbst bloße Verfahrensrechte den Betroffenen subjektive Rechte vermitteln.[17] Die Frage, inwieweit im Familienzusammenführungsverfahren nach der Dublin-III-VO subjektive Rechte bestehen und somit inwieweit Ablehnungen justiziabel sind, wurde inzwischen auf ein Vorabentscheidungsersuchen eines niederländischen Gerichts durch den EuGH geklärt.[18] Jedenfalls im Fall von unbegleiteten Minderjährigen im Rahmen des Art. 8 Dublin-III-VO muss laut Gerichtshof eine gerichtliche Überprüfung einer Ablehnung zum Schutz des Kindeswohls und der Familieneinheit gewährleistet sein.

2. Anordnungsgrund

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Die besondere Eilbedürftigkeit ergibt sich daraus, dass die griechischen Behörden die Asylanträge der M und T bescheiden könnten und sie dann aus dem sogenannten Dublin-Regime herausfallen würden. Folge wäre, dass eine Familienzusammenführung nach den dort vorgesehenen Regeln ausscheiden würde, was diese dann unabsehbar verzögern oder gar komplett vereiteln könnte.

B. Abwandlungen

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I. Abwandlung 1

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Familie Khaled möchte wissen, welche Möglichkeiten der Familienzusammenführung verbleiben, wenn das griechische Aufnahmeersuchen nicht fristgemäß gestellt wurde.

Sofern von der Anwendbarkeit des Fristenregimes auch im Rahmen der Familienzusammenführung ausgegangen wird (vgl. oben weiterführendes Wissen zum Streitstand) und das Aufnahmegesuch tatsächlich nicht fristgemäß gestellt wurde, könnte die Zuständigkeit nach der Regelung des Art. 17 II UAbs. 1 Dublin III-VO auf Deutschland übergehen. Danach kann unter anderem der eigentlich zuständige Mitgliedstaat (hier Griechenland) vor einer Entscheidung in der Sache jederzeit einen anderen – eigentlich unzuständigen − Mitgliedstaat (hier Deutschland) ersuchen, die antragstellende Person aufzunehmen. Dies kann gemäß der Ermessensnorm aus humanitären Gründen erfolgen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben. Dabei können Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammengeführt werden, sofern die betroffenen Personen dem schriftlich zustimmen. Die Übernahme setzt eine Prüfung des Einzelfalls voraus, wobei Art. 17 II Dublin III-VO als Auffangklausel fungiert. Da die Anwendung der humanitären Klausel im Ermessen der Mitgliedstaaten steht, ist eine gerichtliche Durchsetzung nur möglich, wenn im Einzelfall eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt.

Weiterführendes Wissen

Eine solche Ermessensreduzierung ist nach der Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte insbesondere bei jungen, unbegleiteten Kindern anzunehmen, wobei teilweise eine Grenze bei 15 Jahren gezogen wird. Grundsätzlich gilt, dass fundierte medizinische Berichte sowie aussagekräftige Berichte von Fachleuten, die die soziale und familiäre Situation der Familienangehörigen im Einzelnen darstellen, die Notwendigkeit der Zusammenführung aus humanitären Gründen untermauern können.

II. Abwandlung 2

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Zu prüfen ist, unter welchen Voraussetzungen eine Familienzusammenführung möglich ist, wenn die gesamte Familie zunächst gemeinsam nach Griechenland einreist und dort Asylanträge stellt, S und V im Anschluss weiter nach Deutschland reisen, dort erst über sechs Monate danach das Asylverfahren von V und S durchgeführt und V die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird und T in Griechenland schwer an Krebs erkrankt.

Hier könnte eine Familienzusammenführung nach Deutschland zur Durchführung von Asylverfahren nach Maßgabe des Art. 16 I Dublin III-VO in Betracht kommen. Nach dieser Vorschrift soll (in der Regel) der Mitgliedstaat, in dem sich ein Familienmitglied rechtmäßig aufhält (hier Deutschland) auch die Asylanträge von denjenigen Familienangehörigen bearbeiten, die aufgrund bestimmter Umstände (etwa Schwangerschaft, neugeborenes Kind, schwere Erkrankung, ernsthafte Behinderung, hohes Alter) auf die Unterstützung des Familienmitglieds angewiesen sind. Dabei muss es sich bei dem Familienmitglied um ein Kind, Geschwister oder Elternteil handeln und dieses zu der erforderlichen Unterstützung in der Lage sein. Zudem muss die Familie bereits im Heimatstaat bestanden haben und es darf keine dauerhafte Reiseunfähigkeit vorliegen.

Allerdings ist eine Zusammenführung nach Art. 16 I Dublin III-VO an die dreimonatige Frist zur Stellung eines Aufnahmegesuchs nach Art. 21 I Dublin III-VO gebunden. Diese Frist ist - schon aufgrund des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist - bereits verstrichen. Daher kommt wiederum nur Art. 17 II Dublin III-VO in Betracht. In dieser als "Vorsendefall" bezeichneten Konstellation lehnt das BAMF eine Aufnahme nach Art. 17 II Dublin III-VO jedoch grundsätzlich mit der Begründung ab, dass die Familie sich "freiwillig" getrennt habe. Ob ein angerufenes Gericht im vorliegenden Fall einer schwerwiegenden Erkrankung von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgehen würde, ist unklar. Eine solche Ermessensreduzierung wird zum Teil im Fall von Kindern unter 14 Jahren angenommen, denen die "freiwilligen Trennung" nicht zurechenbar sein soll.[19]

C. Weiterführende Literatur

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  • Pertsch, „Dublin reversed“ vor Gericht, Aktuelle Rechtsprechung zur Dublin-Familienzusammenführung, Asylmagazin 8-9/2019, S. 287-294.
  • Nestler/Vogt: Dublin-III reversed – Ein Instrument zur Familienzusammenführung?, ZAR 2017, 21.

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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§ 1 Nationales Asylverfahrensrecht

§ 2 Asylverfahrensrecht im europäischen Kontext

§ 3 Materielles Asylrecht

§ 4 Entscheidungsmöglichkeiten des BAMF und der Asylprozess

§ 5 Rechte und Pflichten nach Schutzzuerkennung

§ 6 Rechtsstellung nach Antragsablehnung und Aufenthaltssicherung

§ 7 Sozialleistungen im Flüchtlingskontext

§ 8 Nicht-humanitäres Aufenthaltsrecht

Fußnoten

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  1. BVerwG, Beschl. v. 2.7.2019, Az.: 1 AV 2/19 Rn. 4, asyl.net: M27524.
  2. BVerwG, Beschl. v. 2.7.2019, Az.: 1 AV 2/19, Rn. 6, asyl.net: M27524.
  3. BVerwG, Beschl. v. 2.7.2019, Az.: 1 AV 2/19, Rn. 14, asyl.net: M27524.
  4. Vgl. BVerwG, Beschl. v. 2.7.2019, Az.: 1 AV 2/19, Rn. 14, asyl.net: M27524.
  5. Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. EU Nr. L 180/31.
  6. BVerwG, Beschl. v. 2.7.2019, Az.: 1 AV 2/19, Rn. 12, asyl.net: M27524.
  7. VG Ansbach, Beschl. v. 24.8.2020, Az.: AN 17 E 20.50232, Rn. 29.
  8. Durchführungsverordnung zur Dublin III-VO (118/2014) vom 30.01.2014.
  9. Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. EU Nr. L 337/9.
  10. OVG BB, Beschl. v. 3.9.2019, Az.: OVG 6 N 58.19, Rn. 10 ff.
  11. Für die Fristberechnung enthält die Dublin III-VO keine eigene Regelung; sie richtet sich nach der Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 des Rates vom 3. Juni 1971 zur Festlegung der Regeln für die Fristen, Daten und Termine, ABl. EG L 124/1, S. 1 und entspricht insoweit der deutschen Regelung.
  12. EuGH, Urt. v. 26.7.2017, Az.: C-670/16, Rn. 103, asyl.net: M25274.
  13. EuGH, Urt. v. 26.7.2017, Az.: C-670/16, Rn. 103, asyl.net: M25274.
  14. vgl. Art. 9, 14, 24 IV der EURODAC-Verordnung(EU) Nr. 603/2013.
  15. Pertsch, „Dublin reversed“ vor Gericht, Aktuelle Rechtsprechung zur Dublin-Familienzusammenführung, Asylmagazin 8-9/2019, S. 287-294.
  16. Nestler/Vogt: Dublin-III reversed – Ein Instrument zur Familienzusammenführung?, ZAR 2017, 21.
  17. Vgl. etwa VG Ansbach, Beschl. v. 24.8.2020, Az.: AN 17 E 20.50232, Rn. 26; VG Karlsruhe, Beschl. v. 13.3.2020, Az.: A 1 K 155/20, Rn. 15; allgemein zur individualschützenden Wirkung der Zuständigkeitsbestimmungen nach der Dublin III-VO EuGH, Urt. v. 7.6.2016, Az.: C-63/15(Ghezelbash), asyl.net: M23883;Anmerkung von Heiko Habbe, Asylmagazin 7/2016, S. 206 ff.
  18. EuGH, Urt. v. 1.8.2022, Az.: C-19/21, asyl.net: M30813; vgl. Anne Pertsch, Asylmagazin 7-8/2022.
  19. Vgl. etwa VG Ansbach, Beschl. v. 26.5.2021, Az.: AN 17 E 21.50085, Rn. 34 ff.