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Das Dublin-Roulette Teil 1: Wer ist zuständig? SV

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Autorin: Sophie Greilich

Schwierigkeitsgrad: Anfänger*innen/Fortgeschrittene

Lösungsvorschlag: Das Dublin-Roulette Teil 1: Wer ist zuständig?

Sachverhalt: Kurzfälle mit Fragen und Abwandlungen

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Du bist Rechtsberater*in in einer Refugee Law Clinic. Dein Beratungsstandort ist spezialisiert auf Dublin-Fälle. Unter den Ratsuchenden sind heute einige, die zum ersten Mal in die Sprechstunde gekommen sind. Bei jedem Beratungsgespräch kommt erneut die Frage auf:

  • Liegt ein Dublin-Fall vor? Ist Deutschland oder ein anderer Dublin-Mitgliedstaat zuständig?
  • Beurteile die verschiedenen Konstellationen anhand der primären Zuständigkeitskriterien unter Heranziehung der einschlägigen Regelungen der Dublin-III-VO.

A. Absoluter Vorrang

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Ozan ist 17 Jahre alt und kommt aus dem Irak. Weil ihm die Zwangsrekrutierung durch die Al-Asaib-Miliz drohte, machte er sich alleine auf den gefährlichen Weg nach Europa und ließ seine Eltern und Geschwister zurück. Nach vielen Wochen im überfüllten Geflüchtetenlager auf der Insel Lesbos brach dort ein Brand aus. Daher wurde er von der griechischen Polizei in ein Lager auf das Festland gebracht. Von hier aus gelang es ihm, über die Balkanstaaten weiter nach Deutschland zu reisen, wo er sich zurzeit in einer Geflüchtetenunterkunft in Hamburg aufhält. In Köln wohnt eine Tante von Ozan. Er kennt sie aus Kindheitstagen und hat eine gute Beziehung zu ihr. Nach Griechenland will er auf keinen Fall zurück. Er hat dort im Geflüchtetenlager traumatische Erfahrungen gemacht. Weiter darüber reden will er aber nicht. Von den griechischen Behörden wurde er behördlich registriert und hat bei diesen auch einen Asylantrag gestellt.

Fragen und Abwandlungen

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I. Kann Ozan in Deutschland bleiben, wenn seine Tante bereit ist, ihn aufzunehmen, oder ist ein anderer Dublin-Mitgliedstaat für sein Asylverfahren zuständig?

II. Angenommen Ozan hat dem BAMF keine Dokumente vorgelegt, um sein Alter nachzuweisen. Eine medizinische Untersuchung zur forensischen Alterseinschätzung kam zum Ergebnis, dass Ozan mindestens 18 Jahre alt sein muss. Daher stellte das BAMF Ozan einen sogenannten Dublin-Bescheid zu, in welchem Ozans Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Griechenland angeordnet wurde. Gegen diesen hat Ozan mithilfe seiner Anwältin Klage erhoben. Ändert sich etwas an der Zuständigkeit, wenn das Gericht richtigerweise zur Überzeugung gelangt, dass Ozan im Zeitpunkt der Asylantragstellung 17 Jahre alt war; er inzwischen aber volljährig geworden ist? Was könnte darüber hinaus gegen eine Überstellung nach Griechenland sprechen?

III. Welcher Mitgliedstaat wäre zuständig, wenn in keinem Mitgliedstaat Familienangehörige, Geschwister oder Verwandte von Ozan leben würden?

B. Familie ist nicht gleich Familie?!

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Sarah ist eine Ärztin aus Afghanistan. Aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit in einem Krankenhaus in Kunduz wurden sie und ihre Familie von Mitgliedern der Taliban mehrfach bedroht. Zudem wurde das Krankenhaus, in dem sie gearbeitet hat, vom US-Militär angegriffen. Aufgrund der gefährlichen Lage sah sie keinen anderen Ausweg mehr als zu fliehen.

In Deutschland wurde Sarah subsidiärer Schutz gewährt. Ihr Ehemann und ihr Sohn, die ein paar Monate nach ihr Afghanistan verlassen haben, befinden sich zurzeit noch auf der griechischen Insel Chios. Dort wurden sie bereits registriert.

Fragen und Abwandlungen

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I. Welcher Mitgliedstaat ist für die Asylanträge von Sarahs Ehemann und ihrem gemeinsamen minderjährigen Sohn zuständig?

II. Wie ist der Fall zu beurteilen, wenn Sarahs achtzigjähriger Vater in Griechenland ist und als Asylsuchender die Familienzusammenführung mit seiner Tochter in Deutschland begehrt?

C. (Ir-)relevante Verursachung

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Sasha ist mit einem Schengen-Visum, das Sasha von den lettischen Behörden erteilt worden ist, zunächst über Riga in die EU eingereist. Ursprünglich kommt Sasha aus Russland, wo Sasha systematisch diskriminiert worden ist, da Sasha non-binär ist. Mit dem in Sashas Geburtsurkunde eingetragenen männlichen Geschlecht kann sich Sasha nicht identifizieren; Sasha definiert sich weder als ausschließlich männlich noch weiblich und möchte daher auch ohne Pronomen angesprochen werden. Zuletzt hat Sasha den Job als Lehrer*in verloren. In Lettland hat Sasha sich bei Bekannten aufgehalten. Sashas Visum ist bereits seit acht Monaten abgelaufen. Nun ist Sasha in Berlin. Hier fühlt Sasha sich sehr wohl. Ein Freund hat Sasha geraten, einen Asylantrag zu stellen, was Sasha bisher noch nicht getan hat.

Fragen und Abwandlungen

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I. Welcher EU-Mitgliedstaat wäre für Sashas Asylantrag zuständig, wenn Sasha ihn in Deutschland stellen würde?

II. Angenommen Sasha hat in Lettland bereits erfolglos Asyl beantragt und stellt nun in Deutschland erneut einen Asylantrag. Wie wird das BAMF entscheiden beziehungsweise wovon wird die Entscheidung des BAMF maßgeblich abhängen?

D. Alles eine Frage des Beweises

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Rahil hat gemeinsam mit ihrem Bruder Adil ihre Heimatstadt Homs verlassen. Aufgrund des anhaltenden Krieges sahen die beiden volljährigen Geschwister keine andere Möglichkeit, als in Europa Schutz zu suchen. Über die Türkei, Georgien und Russland erreichten sie schließlich die finnische Kleinstadt Vaalimaa. Dort wurden ihnen auch Fingerabdrücke abgenommen. Rahil kann Deutsch sprechen, da sie vor Ausbruch des Krieges in der Tourismusbranche gearbeitet hat. Aus diesem Grund sind Rahil und Adil nach einem zweiwöchigen Aufenthalt in Finnland weiter nach Deutschland gereist. Beide haben hier sofort einen Asylantrag gestellt.

Fragen und Abwandlungen

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I. Welcher EU-Mitgliedstaat ist für Rahils und Adils Asylanträge zuständig?

II. Angenommen Rahil und Adil hätten keine Fingerabdrücke abgegeben, ist dann ein anderer EU-Mitgliedstaat für ihre Asylanträge zuständig, sodass eine Dublin-Überstellung droht?

E. Die Grenzen des Vertrauens

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Familie Tulu kommt aus Eritrea. Zu ihr gehören das dreijährige Kind Amanuel und seine Eltern, Alemee und Ermias. Zudem erwartet Familie Tulu Nachwuchs: Alemee ist im fünften Monat schwanger. Mit vielen weiteren Menschen sind sie in einem Schlauchboot von Libyen nach Lampedusa gelangt. Dort wurden sie auch samt Fingerabdrücken behördlich registriert und haben einen Asylantrag gestellt. Allerdings war ihre Geflüchtetenunterkunft in Italien sehr überfüllt und die dortigen Hygienestandards katastrophal: Defekte Duschen, kein Heißwasser und mangelnde Elektrizität waren keine Seltenheit! Aus diesem Grund sind sie weiter nach Deutschland gereist. Gestern hatte Familie Tulu ihren Termin zur Stellung ihrer Asylanträge hier in Deutschland. Von dem Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wurden sie im Zuge dessen auch zu ihrer Fluchtroute befragt. Familie Tulu hat große Angst, wieder nach Italien zurücküberstellt zu werden.

Fragen und Abwandlungen

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I. Welcher Mitgliedstaat wäre dem Grundsatz nach für die Asylverfahren der Familie Tulu zuständig? Ergibt sich vorliegend ausnahmsweise ein Zuständigkeitsübergang auf einen anderen Mitgliedstaat?

II. Welcher Mitgliedstaat wird für den Asylantrag des neugeborenen Kindes zuständig sein? Ist die Stellung eines förmlichen Asylantrags für das Kind erforderlich?

III. Was gilt für den Onkel von Ermias, der gemeinsam mit Familie Tulu geflüchtet ist und auch in Italien in einer Geflüchtetenunterkunft gewohnt und dort einen Asylantrag gestellt hat, jedoch in Deutschland bleiben möchte? Er beruft sich auf Mängel im italienischen Sozialsystem: In Italien gäbe es für ihn keine Perspektive. Zudem seien Personen, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens zurücküberstellt werden, einem hohen Risiko ausgesetzt, obdachlos zu werden und ein Leben am Rande der Gesellschaft führen zu müssen.

Dieser Text wurde von der Initiative für eine offene Rechtswissenschaft OpenRewi erstellt. Wir setzen uns dafür ein, Open Educational Ressources für alle zugänglich zu machen. Folge uns bei Twitter oder trage dich auf unseren Newsletter ein.

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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§ 1 Nationales Asylverfahrensrecht

§ 2 Asylverfahrensrecht im europäischen Kontext

§ 3 Materielles Asylrecht

§ 4 Entscheidungsmöglichkeiten des BAMF und der Asylprozess

§ 5 Rechte und Pflichten nach Schutzzuerkennung

§ 6 Rechtsstellung nach Antragsablehnung und Aufenthaltssicherung

§ 7 Sozialleistungen im Flüchtlingskontext

§ 8 Nicht-humanitäres Aufenthaltsrecht

Fußnoten

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