Chen Lu will arbeiten

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Autorin: Rhea Nachtigall

Notwendiges Vorwissen: Wohnverpflichtung in Aufnahmeeinrichtung

Behandelte Themen: Aufenthaltsstatus von Asylsuchenden, Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme, Wohnverpflichtung in Aufnahmeeinrichtung, berufsbezogene Deutschsprachkurse, räumliche Beschränkung, Beschäftigungserlaubnis bei Ausbildung, Berufsausbildungsbeihilfe

Zugrundeliegender Sachverhalt: Chen Lu will arbeiten

Schwierigkeitsgrad: Anfänger*innen


A. Fallfrage 1: Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme[Bearbeiten]

Fraglich ist, ob die Agentur für Arbeit den Antrag von Chen Lu auf Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme zu Recht abgelehnt hat. Gemäß § 51 I SGB III steht es im Ermessen der Agentur für Arbeit, förderungsberechtigte junge Menschen durch berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen zu fördern.

I. Förderungsberechtigung

Chen Lu müsste also zunächst förderungsberechtigt sein. Die Förderungsberechtigung für Ausländer*innen richtet sich nach § 52 II SGB III.

1. Allgemeine Förderungsberechtigung

Die allgemeinen Voraussetzungen nach § 52 I SGB III sind laut Bearbeitungshinweis erfüllt.

2. Erwerbstätigkeit

Chen Lu müsste gemäß § 52 II 1 SGB III eine Erwerbstätigkeit ausüben dürfen oder ihr müsste eine Erwerbstätigkeit erlaubt werden können. Gemäß § 4a IV AufenthG dürfen Ausländer*innen ohne Aufenthaltstitel eine Erwerbstätigkeit nur dann ausüben, wenn sie aufgrund einer zwischenstaatlichen Vereinbarung, eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung hierzu berechtigt sind oder die Ausübung durch die zuständige Behörde erlaubt wurde. § 61 II 1 AsylG bestimmt, dass Asylsuchenden nach drei Monaten die Ausübung einer Beschäftigung erlaubt werden kann; gemäß § 61 II 1 AsylG gilt dies jedoch nicht für die Dauer der Pflicht, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Demnach dürfte Chen Lu, die noch in einer Aufnahmeeinrichtung wohnt, keine Erwerbstätigkeit ausüben. Allerdings bestimmt § 61 I 2 Nr. 1 AsylG davon abweichend, dass die Ausübung einer Beschäftigung zu erlauben ist, wenn das Asylverfahren nach neun Monaten noch nicht abgeschlossen ist. Vorliegend hat Chen Lu ihren Asylantrag bereits vor 12 Monaten gestellt. Sie kommt auch nicht aus einem sicheren Herkunftsstaat, was gemäß § 61 I 2 Nr. 3 AsylG eine weitere Voraussetzung für die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis ist. Chen Lu ist somit die Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu erlauben.

3. Aufenthaltsdauer

Zudem bedarf es gemäß § 52 II 2 Nr. 1 SGB III eines erlaubten, gestatteten oder geduldeten Voraufenthalts im Bundesgebiet von mindestens 15 Monaten. Chen Lu lebt erst seit 12 Monaten mit einer Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 I 1 AsylG in Deutschland. § 52 II 3 SGB III bestimmt jedoch, dass gestattete Ausländerinnen oder Ausländer, die vor dem 1.8.2019 in das Bundesgebiet eingereist sind, sich abweichend von Satz 2 Nummer 1 nur seit mindestens drei Monaten erlaubt, gestattet oder geduldet dort aufhalten müssen. Da Chen Lu im Mai 2019 eingereist ist, findet auf sie die kürzere Voraufenthaltsdauer von drei Monaten Anwendung, die sie erfüllt.

4. Schul- und Sprachkenntnisse

Zuletzt müsste sie schulische Kenntnisse und Kenntnisse der deutschen Sprache besitzen, die einen erfolgreichen Übergang in eine Berufsausbildung erwarten lassen (§ 52 II 2 Nr. 2 SGB III). Dabei kommt es auf die bisher tatsächlich erlangten Kenntnisse und Fähigkeiten an, ein formaler Schulabschluss ist hingegen keine Voraussetzung.[1] Laut Sachverhalt hat sie die weiterführende Schule in China abgeschlossen und verfügt über ein Deutschsprachniveau von B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens. Die Voraussetzungen sind damit erfüllt.

5. Zwischenergebnis

Chen Lu ist somit förderungsberechtigt.

II. Förderungsfähige Bildungsmaßnahme

Laut Sachverhalt handelt es sich auch um eine förderungsfähige Bildungsmaßnahme im Sinne des § 51 II SGB III.

III. Ermessen

Gemäß § 51 I SGB III hat die Agentur für Arbeit zwar ein Ermessen, eine konkrete Maßnahme zu fördern, dieses müsste sie jedoch auch pflichtgemäß ausgeübt haben. Vorliegend ging die Agentur für Arbeit fälschlicherweise davon aus, dass Chen Lu aufgrund der Wohnverpflichtung nicht förderungsberechtigt sei, sodass die Tatbestandsvoraussetzungen bereits nicht erfüllt seien. Da die Agentur für Arbeit deshalb von ihrem Ermessen keinen Gebraucht machte, ist die Entscheidung ermessensfehlerhaft und somit rechtswidrig.

IV. Ergebnis

Der Antrag der Chen Lu wurde zu Unrecht von der Agentur für Arbeit abgelehnt.

B. Fallfrage 2: Berufsbezogener Deutschsprachkurs[Bearbeiten]

Chen Lu könnte zudem Zugang zu einem berufsbezogenen Deutschsprachkurs nach § 45a AufenthG haben. Konkretisiert wird der Zugang in der aufgrund von § 45a III AufenthG erlassenen Deutschsprachförderverordnung (DeuFöV)[2]. Darin bestimmt § 4 III DeuFöV, dass die Teilnahme an der berufsbezogenen Deutschsprachförderung ausreichende deutsche Sprachkenntnisse entsprechend dem Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen voraussetzt. Dieses Sprachniveau erfüllt Chen Lu laut Sachverhalt. Sie kann daher einen Antrag auf Teilnahme an einem berufsbezogenen Sprachkurs stellen. Die für den Antrag zuständige Behörde ist in ihrem Fall gemäß § 5 I DeuFöV die Agentur für Arbeit.

C. Abwandlung[Bearbeiten]

I. Anordnung einer räumlichen Beschränkung

Fraglich ist, ob die Ausländerbehörde gegenüber Chen Lu eine räumliche Beschränkung anordnen durfte.

Weiterführendes Wissen

Die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung ist in den §§ 56ff. AsylG geregelt und wird auch als Residenzpflicht bezeichnet. § 56 I AsylG regelt dabei den Grundsatz, dass die Aufenthaltsgestattung räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt ist, in dem die für die Aufnahme der asylsuchenden Person zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt. § 59a I AsylG regelt das Erlöschen der räumlichen Beschränkung nach drei Monaten (S. 1), wobei sie solange nicht erlischt, wie eine Wohnverpflichtung in einer Aufnahmeeinrichtung besteht (S. 2). § 59b AsylG regelt, wann die räumliche Beschränkung trotz des Erlöschens erneut angeordnet werden kann. §§ 57 und 58 AsylG bestimmen, in welchen Fällen der Aufenthaltsbereich vorübergehend verlassen werden darf. Abzugrenzen ist die räumliche Beschränkung von der Wohnsitzauflage und der Wohnsitzverpflichtung.

Gemäß § 59b AsylG kann die räumliche Beschränkung unter bestimmten Voraussetzungen erneut angeordnet werden. Vorliegend kommt die Anordnung einer räumlichen Beschränkung gemäß § 59b I Nr. 2 AsylG in Betracht, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass die asylsuchende Person gegen Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes (BTMG)[3] verstoßen hat. Laut Sachverhalt könnte im mutmaßlichen Cannabiskonsum und -besitz von Chen Lu ein solcher Verstoß liegen. Gemäß § 29a BTMG macht sich strafbar, wer Betäubungsmittel in nicht geringer Menge besitzt, ohne sie aufgrund einer Erlaubnis gemäß § 3 I BTMG erlangt zu haben. Cannabisharz zählt gemäß § 1 I BTMG i.V.m. Anlage I als Betäubungsmittel. § 59b I Nr. 2 AsylG setzt jedoch voraus, dass Tatsachen die Schlussfolgerung eines BTMG-Verstoßes rechtfertigen müssen. Tatsachen, die die Schlussfolgerung rechtfertigen, sind solche, die verwertbar sind, der betroffenen Person vorgehalten und im Zweifelsfall auch belegt werden können.[4] Diesen Anforderungen genügt die bloße Vermutung eines nicht genauer bezeichneten Cannabis-Konsums aufgrund einer privaten Unterhaltung nicht. Die Anordnung der räumlichen Beschränkung war daher rechtswidrig.

II. Auswirkungen einer räumlichen Beschränkung auf die Ausbildung

Geht man von einer rechtmäßigen räumlichen Beschränkung aus, stellt sich die Frage, welche Auswirkung eine solche auf die Ausübung einer Ausbildung hat. Problematisch ist in diesem Fall, dass der Ausbildungsbetrieb in Bad Homburg und damit außerhalb des Geltungsbereichs der räumlichen Beschränkung liegt. Chen Lu bedürfte daher einer Verlassenserlaubnis nach § 58 AsylG. Danach kann die Ausländerbehörde der betreffenden Person erlauben, den Geltungsbereich der Aufenthaltsgestattung vorübergehend zu verlassen oder sich allgemein im Bezirk einer anderen Ausländerbehörde aufzuhalten. Gemäß § 58 I 3 AsylG wird eine solche Verlassenserlaubnis in der Regel erteilt, wenn dies für eine Berufsausbildung notwendig ist. Die Verlassenserlaubnis darf also nur in atypischen Fällen nicht erteilt werden. Fraglich ist, ob die Anordnung einer räumlichen Beschränkung nach § 59b I AsylG einen solchen atypischen Fall darstellt. Dies darf nicht automatisch angenommen werden, vielmehr ist immer der konkrete Einzelfall zu betrachten und zu prüfen, ob die Verlassenserlaubnis etwa missbräuchlich dafür genutzt werden könnte, (weitere) Straftaten zu begehen.[5] Dafür bestehen vorliegend jedoch keine Anhaltspunkte, sodass zur Durchführung der Ausbildung eine Verlassenserlaubnis erteilt werden müsste.

III. Keine Berufsausbildungsbeihilfe mit Aufenthaltsgestattung

Die Gewährung von Berufsausbildungsbeihilfe ist in den §§ 56 ff. SGB III geregelt. Gemäß § 60 III SGB III haben Asylsuchende jedoch keinen Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe, sodass Chen Lu keine Beihilfe gewährt werden kann.

Weiterführendes Wissen

Der Lebensunterhalt von Asylsuchenden in einer Berufsausbildung wird stattdessen über Leistungen des AsylbLG abgesichert. Gemäß § 2 I 2-4 AsylbLG haben Asylsuchende nach 18 Monaten einen Anspruch auf aufstockende Analogleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Weiterführende Literatur[Bearbeiten]

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte[Bearbeiten]

  • Asylsuchende haben grundsätzlich nach neun Monaten einen Anspruch auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis, es sei denn, sie kommen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten.
  • Asylsuchende können grundsätzlich an berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen teilnehmen.
  • Die räumliche Beschränkung für Asylsuchende erlischt grundsätzlich nach drei Monaten, kann aber danach aufgrund von abschließend aufgezählten Gründen nach § 59b I AsylG gesondert angeordnet werden.
  • Während des Asylverfahrens wird keine Berufsausbildungsbeihilfe gewährt, jedoch haben Asylsuchende Anspruch auf aufstockende Analogleistungen gemäß § 2 AsylbLG.


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Inhaltsverzeichnis des Buches[Bearbeiten]

§ 1 Nationales Asylverfahrensrecht

§ 2 Asylverfahrensrecht im europäischen Kontext

§ 3 Materielles Asylrecht

§ 4 Entscheidungsmöglichkeiten des BAMF und der Asylprozess

§ 5 Rechte und Pflichten nach Schutzzuerkennung

§ 6 Rechtsstellung nach Antragsablehnung und Aufenthaltssicherung

§ 7 Sozialleistungen im Flüchtlingskontext

§ 8 Nicht-humanitäres Aufenthaltsrecht

Fußnoten[Bearbeiten]

  1. BT-Drucks. 19/10053, S. 27.
  2. Deutschsprachförderverordnung vom 4.5.2016 (BAnz AT 4.5.2016 V1), zuletzt geändert durch Art. 27 G v. 10.8.2021 I 3436.
  3. Betäubungsmittelgesetz i.d.F. der Bekanntmachung vom 1. 3.1994 (BGBl. I S. 358), zuletzt geändert durch Art. 1 V v. 14.1.2021 I 70.
  4. BT-Drucks. 18/3444, S. 6.
  5. Amir-Haeri, in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Auflage 2021, AsylG § 58 Rn. 5.